Es ist eine offenbar unausrottbare Illusion der demokratischen Linken, dass mehr direkte Demokratie mehr Fortschritt und mehr Gleichheit bewirke. Vermutlich würde ein systematischer Vergleich den Befund zutage fördern, dass es in der Geschichte mehr "reaktionäre" als "progressive" Plebiszite gegeben hat. Das Nein zur Schwulenehe in Kalifornien beruhte 2008 auf einer Wählermehrheit, die unter anderem von Mitgliedern der Mormonenkirche mit Millionenbeträgen mobilisiert worden war. Den erfolgreichen Schweizer Volksentscheid gegen den Bau von Minaretten organisierte 2009 die Schweizerische Volkspartei des Milliardärs Christoph Blocher. Das Nein beim ersten irischen Volksentscheid über den Lissabon-Vertrag ging 2008 zum größten Teil im Wortsinn auf das Konto des Multimillionärs Declan Ganley. Als Ende Mai 2005 im Referendum über den Europäischen Verfassungsvertrag in Frankreich das "Non" obsiegte, war dies das gemeinsame Werk einer heterogenen, zur parlamentarischen Zusammenarbeit unfähigen Ad-hoc-Koalition, die von der extremen Rechten um Jean-Marie Le Pen bis zu den Kommunisten reichte.
Dass in Deutschland der Ruf nach mehr direkter Demokratie lauter wird, muss nicht als Zeichen für wachsendes staatsbürgerliches Verantwortungsbewusstsein gewertet werden. Oft ist es weniger der "citoyen" als der "bourgeois", der diese Forderung erhebt. Gegenüber den Parteien werden mittlerweile Vorbehalte laut, die auf fatale Weise an Weimarer Zeiten erinnern. Der Publizist Thymian Bussemer, Autor des dieses Jahr erschienenen Buches "Die erregte Republik", spricht in diesem Zusammenhang von "Politikverachtung, die sich mit fundamentalistischer Besitzstandswahrung paart".