Lenin sprach deshalb von Staatskapitalismus und sah deshalb wohl auch den Sozialismus erst in ferner Zukunft. Als zunächst praktische Maßnahme nach Beendigung des Bürgerkrieges ging auf seine Initiative hin die NEP in Aktion, die dann mit dem Beschluß zur Industrialisierung von 1925 Schritt für Schritt abgeschafft wurde. Die Industrialisierung als sozialistische Industrialisierung ausgegeben, erwies sich als der Versuch, den Abschluß an den inzwischen weiter fortgeschrittenen Kapitalismus zu gewinnen. So wie dieser Prozeß vor sich ging, erinnerte er eher an die frühe kapitalistische Industrialisierung. Es entstand kein System, indem die freie Entwicklung des einzelnen die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist. Es entstand eine Funktionärsschicht, die sich größtenteils aus sich selbst erneuerte- man lese Djilas "Die neue Klasse", und die Partei, Staat, Wirtschaft sowie gesellschaftliches und kulturelles Leben kontrollierte und nach ihren subjektiven Vorstellungen und Wünschen verfuhr. Darüber hinaus kam es zu brutaler Repression gegen die Bevölkerung, zu politschen Prozessen, Verurteilung Andersdenkender mit Inhaftierung, Verbannung und Verschickung ins Straflager. Letztens betraf sogar Millionen von Menschen. Erklärlich, daß sich ein Kult um Stalin entwickelte, der als eine Art Heiliger fungierte.
Die soziale Seite blieb vernachlässigt. Die Wohnungsfrage blieb ungelöst, das Gesundheitswesen stand auf niedrigster Stufe, ja nicht einmal der Mangel an Lebensmitteln konnte überwunden werden. Die freie Entwicklung des einzelnen, wozu die Ausbildung der körperlichen und geistigen Kräfte aller gehört, die der Sozialismus ja gewährleisten sollte, war großen Teilen der Bevölkerung vorenthalten, weil Armut eine Behinderung dafür darstellte. Hinzu kamen Behinderungen durch das Milieu und nicht überwundene Relikte aus der Zarenzeit besonders auf dem Lande. Weiter hinzu kam eine Behinderung, sich frei im Lande zu bewegen, denn das Verlassen des Ortes, in dem man lebte, war nur mit Genehmigung möglich.
Ein solcher "Sozialismus" mußte am Ende zum Desaster führen. Selbst Willi Gerns, der den Sozialismus Stalinischer Prägung verteidigt, schreibt: "Die Achillesferse der Perestroika bestand jedoch von Anfang an darin, daß Gorbatschow und seine Anhänger zwar ein Konzept zur Zerstörung der alten Strukturen, aber keins zum Aufbau eines besseren Sozialismus hatten." 28)
Also gab es in der Sowjetunion einen schlechten Sozialismus. Weiter unten lesen wir bei ihm: "Anstatt Stück für Stück undemokratische Strukturen zu überwinden und die sozialistische Demokratie auszubauen, wurde von Demokratie schlechthin geschwafelt." 29)
Es gab also undemokratische Strukturen. Wen wunderts - Rußland hatte bis auf die Zeit von Februar bis Oktober 1917 nur kurz eine Demokratie kennengelernt. Es ist darum nicht erstaunlich, daß undemokratische Strukturen auch in einer Gesellschaftsordnung, die als Sozialismus firmierte, entstanden. Was aber nicht vorhanden ist, kann man auch nicht verbessern.
Dieses sowjetische System oder Entwicklungsmodell wurde auch auf dem Territorium der einstigen DDR realisiert. Der Enteignung von Fabriken und Werken folgte der Aufbau der Schwerindustrie und die sog. Vergenossenschaftlichung der Landwirtschaft wie in der Sowjetunion die Kollektivierung der Landwirtschaft. Politbüro und Partei wurden allmächtig und regulierten das gesamte ökonomisch, politische und gesellschaftliche sowie kulturelle Leben. Hinzu kam eine Staatssicherheit, die alles und fast jeden im Auge hatte.