Von Reinhard Lauterbach
Als vor zehn Jahren Russland den 60. Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg feierte, fehlten drei Staatsoberhäupter auf der Ehrentribüne in Moskau: Die Präsidenten Estlands, Litauens und Georgiens hatten die Einladung ausgeschlagen. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder feierte mit Wladimir Putin unterdessen die Versöhnung zwischen dem deutschen und dem russischen Volk als epochales Ereignis. Lang ist es her und soll vergessen werden.
Zehn Jahre später haben Estland und Litauen schon abgesagt, bevor sie eingeladen wurden. Lettland hat turnusmäßig die EU-Präsidentschaft inne. Das macht vergleichbare Demonstrationen für die Regierung in Riga schwieriger. Sagt sie auch im eigenen Namen ab, disqualifiziert sie ihre repräsentative Funktion innerhalb der EU. Die erlaubt – in Grenzen – eine Agendasetzung. Deshalb will Lettland gleich die große Lösung anstreben: EU-Europa solle, so Außenminister Edgars Rinkevics unlängst vor Journalisten, geschlossen die Feiern am 9. Mai boykottieren. Um Putin nicht die Bilder zu überlassen, soll in Warschau eine EU-Gegenfeier zum Kriegsende stattfinden. Nicht einmal die Überwindung des deutschen Faschismus soll Russland mehr zugute gehalten werden. Die Botschaft lautet: Euer Sieg ist nicht der unsere.
Offiziell will die lettische Präsidentschaft ihren Boykottaufruf auf dem EU-Gipfel am 19. Januar in Brüssel vorbringen. Es läuft auf eine Kraftprobe hinaus, denn nicht allen in der EU ist die antirussische Konfrontationspolitik geheuer, mit der sich die Balten wichtig machen. Es reicht Estland, Lettland und Litauen nicht mehr, ihre SS-Veteranen demonstrativ aufmarschieren zu lassen und ihnen Ehrenrenten zu zahlen. Sie sind – in dem Maße, in dem die USA die Konfrontation auf die Tagesordnung gesetzt haben – wegen ihrer geographischen Lage tatsächlich wichtiger geworden: Immerhin sind es von der estnischen Grenze nur 150 Kilometer bis nach St. Petersburg. Litauen betreibt »Demokratieförderung« in Belarus und schickt Waffen nach Kiew. Das Argument mit den Wunden der Vergangenheit, das die Balten so gern anführen, zieht nur bedingt. Auch Ungarn, Slowaken und Tschechen haben 1956 und 1968 unter der Sowjetunion gelitten und zählen heute trotzdem zu den »Russland-Verstehern« in der EU. Der baltische Russenhass beschränkt sich nicht auf die Sowjetunion als sozialistisches System. Er richtet sich gegen die russischsprachigen Menschen, die im Zuge der Industrialisierung als Arbeitskräfte ins Land gekommen sind. In Lettland machen sie und ihre Nachkommen ein Drittel der Bevölkerung aus und fristen seit über 20 Jahren ein Dasein ohne Wahlrecht als »Nichtbürger«. Während Lettland russische Radiostationen im eigenen Land zwingt, auf Lettisch zu senden, fordert es von der EU Geld für einen russischsprachigen Fernsehkanal, der die »Nichtbürger« gegen die Moskauer Programme »impfen« soll. Wie wär’s denn mal mit Integration statt Ausgrenzung und Propaganda?