Das am 22. Juni 1941 in Moskau übergebene „Memorandum“ (der Ausdruck Kriegserklärung wurde auf Befehl Hitlers vermieden) stellte den Überfall als unvermeidbar gewordenen Präventivschlag dar: Die Sowjetunion habe seit dem Hitler-Stalin-Pakt kontinuierlich mit allen Mitteln einen Krieg gegen Deutschland und seine Verbündeten vorbereitet und sei dazu ständig nach Westen expandiert. Sie habe seit Monaten Truppen nahe der gesamten Ostgrenze des Deutschen Reiches konzentriert, die durch Grenzverletzungen aggressive Absichten gezeigt hätten. Nach einer „Generalmobilmachung“ seien „heute nicht weniger als 160 Divisionen“, somit die „gesamten sowjetischen Streitkräfte“, „an der deutschen Grenze sprungbereit aufmarschiert.“ Damit habe die Sowjetunion die geltenden Verträge „verraten und gebrochen“. Dies zeige die „Todfeindschaft“ des Bolschewismus und seine akute Absicht, „dem nationalsozialistischen Deutschland in seinem Existenzkampf in den Rücken zu fallen“. Daraufhin habe „der Führer“ der Wehrmacht befohlen, „dieser Bedrohung mit allen zur Verfügung stehenden Machtmitteln entgegenzutreten.“ Das deutsche Volk sei berufen, „die gesamte Kulturwelt von den tödlichen Gefahren des Bolschewismus zu retten und den Weg für einen wahren sozialen Aufstieg in Europa freizumachen.“[10] Hitlers persönlicher Aufruf an die Soldaten der Wehrmacht und der Leitartikel von Goebbels im Völkischen Beobachter vom 22. Juni 1941 enthielten dieselben Behauptungen, ergänzt um die Erwähnung eines angeblichen „Komplotts“ von Briten und Sowjets für eine „hasserfüllte Einkreisungspolitik“ gegen Deutschland. Der Wehrmachtbericht vom 27. Juni 1941 behauptete: „Die ersten fünf Operationstage haben bewiesen, daß die sowjetische Wehrmacht zum Angriff gegen MITTELEUROPA bereit war“.[11] Am 30. Juni 1941 titelte der Völkische Beobachter: „Aufmarsch der Sowjetheere zerschlagen. Der Führer rettete Europa vor bolschewistischer Invasion“.[12]
Diese Rechtfertigungen griffen auf die schon im Ersten Weltkrieg verwendete Einkreisungsthese und die im Polenfeldzug verwendete These einer aufgezwungenen Notwehr zurück und berücksichtigten die auch unter Deutschen verbreitete Ablehnung eines Angriffskrieges. Die hier bemühte „Todfeindschaft“ (der prinzipielle Antikommunismus) war seit 1919 zentraler Bestandteil des Nationalsozialismus. Hitler sprach in seiner Programmschrift Mein Kampf 1925 vom „jüdischen Bolschewismus“, der die ganze Welt mit Versklavung bedrohe, verband dieses Feindbild also mit Antisemitismus, Rassismus und einer globalen Verschwörungstheorie. Diese nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 vorübergehend zurückgestellte Ideologie rückte die NS-Propaganda nun erneut in den Vordergrund. Ab Juli 1941 ergänzte das Auswärtige Amt die These vom „Kreuzzug Europas gegen den Bolschewismus“, zu dem die Deutschen ein „europäisches Mandat“ hätten. Damit sollten auch die Truppen verbündeter Staaten ideologisch integriert und auf eine künftige „Neuordnung Europas“ nach nationalsozialistischen Vorstellungen eingestimmt werden.[13] Damit wurden auch Freiwillige für die Wehrmacht und Waffen-SS in den eroberten und besetzten Gebieten angeworben.[14] Dieses Rechtfertigungsmuster spiegeln auch Feldpostbriefe deutscher Soldaten aus der Anfangsphase des Deutsch-Sowjetischen Kriegs.[15]
Die NS-Propaganda hielt die Präventivkriegsthese bis zum Kriegsende aufrecht. Goebbels notierte am 3. Juli 1941 in sein Tagebuch: „Moskaus Angriffsabsicht auf Deutschland und Mitteleuropa steht jetzt außer allem Zweifel. Der Führer hat gerade im letzten Augenblick gehandelt.“[16] Hermann Göring sprach am 30. Januar 1943 nach der verlorenen Schlacht von Stalingrad gegenüber überlebenden Soldaten davon, „der Russe“ habe die Zeit vor 1941 für seine „gewaltige Rüstung“ und „Einkreisung“ ausgenutzt und „Hunderte von Flugplätzen an der Grenze“ angelegt sowie „zehnmal soviel Flugzeuge, fünfmal soviel Panzer, wie wir glaubten“, gebaut. Diese „tödliche Gefahr“ erkennend, habe Hitler nicht mehr „zaudern“ können und seinen Entschluss „über Bestehen oder Vergehen des Abendlandes“ gefasst.[17] Heinrich Himmler behauptete in seiner Posener Rede vom 4. Oktober 1943, Josef Stalin hätte ohne den deutschen Angriff „vielleicht ein viertel bis ein halbes Jahr“ später „zu seinem großen Einbruch nach Mittel- und Westeuropa“ ausgeholt.[18]