Werden die Machthaber ihre Privilegien einfach aufgeben?
Werden die Machthaber ihre Privilegien einfach aufgeben? Natürlich
nicht: sie tun dies nie. Manchmal geben sie einen Teil der Macht auf,
aber nur als taktische Maßnahme, um das meiste zu behalten. Leute
mit Macht sind nie so mächtig und reich gewesen, wie sie es
heutzutage sind. Uns Leuten ohne Macht (oder zumindest den
meisten von ihnen) ist es nie so schlecht gegangen, sicherlich
relativ und zu einem beträchtlichem Maß auch absolut. Die
Polarisierung ist die stärkste , die es jemals gegeben hat, was
bedeutet, daß eine noble Aufgabe der Privilegien das am
wenigsten wahrscheinliche Ergebnis ist. Doch dies ist für meine
These irrelevant. Ich habe argumentiert, daß es strukturelle
Begrenzungen für den Prozeß der endlosen Kapitalakkumulation
gibt, die unsere Welt heute beherrscht, und das diese
Beschränkungen gegenwärtig als Bremse beim Funktionieren
des Systems in Erscheinung treten.
Ich habe argumentiert, daß das, was ich die Asymptoten der
operativen Mechanismen genannt habe, eine strukturell chaotische
Situation schafft, die unangenehm zu erleben sein wird und
deren Verlaufsbahn sich grundsätzlich nicht vorherbestimmen
läßt. Schließlich habe ich die These aufgestellt, daß in einem
Zeitraum von 50 Jahren eine neue Ordnung aus diesem Chaos
entstehen wird und daß diese neue Ordnung als Funktion
dessen geformt werden wird, was jeder in der Zwischenzeit
tut - diejenigen mit Macht im gegenwärtigen System und
diejenigen ohne Macht. Diese Analyse ist weder optimistisch
noch pessimistisch, insofern ich nicht vorhersagen kann, ob
das Ergebnis besser oder schlechter sein wird. Sie ist jedoch
realistisch, da sie versucht, eine Diskussion über die Arten von
Strukturen anzuregen, die uns in eine solche Richtung
bewegen könnten.
~ Immanuel Wallerstein (*1930) amerikanischer Sozialwissenschaftler
Zitiert aus: Utopistik Historische Alternativen des 21. Jahrhunderts.
Promedia-Verlag Wien. 2002 S.102f