Das hat mich auch verblüft.
Hallo Spökes,
ich habe dazu folgende Hypothese: im 18. Jahrhundert bildete sich außerhalb von Adel und Klerus eine Kamarilla heraus, welche die bislang herrschende Aristokratie wegputschen wollte. Wobei die Aristokraten mit pathologischer Menschenverachtung und Misswirtschaft, Prunksucht und blutigen Kriegen in Europa und Übersee selbst den Zorn gegen sie schürten.
Andererseits darf man nicht vergessen, dass auch Aristokraten neue und im positiven Sinne fortschrittliche Gedanken vertraten - es waren nicht alles Reaktionäre bzw. sie waren nicht auf allen Gebieten reaktionär.
Aber jene Kamarilla nutzte die so genannte "Aufklärung" nur als ideologische Waffe gegen Königsherrschaft und Kirche. Nicht, weil sie die reaktionär und menschenverachtend fand, sondern weil sie an der Stelle von König und Kirche herrschen wollte!
Solange es galt, die Herrschaft von Adel und Klerus ideologisch zu bekämpfen, gab sich die Kamarilla fortschrittlich. Denn insbesondere angesichts der militärischen Machtmittel der alten Aristokratie hätte die Kamarilla ohne eine wirksame Ideologie nichts gegen die ausrichten können. Damit eine Ideologie wirksam war, musste sie aber reale Missstände anprangern und so die darunter leidenden Menschen gegen die alte Ordnung mobilisieren.
Das hat 1776 und 1789 wunderbar geklappt :rolleyes2: und die so genannte "Restauration" nach 1815 war nur die nächste Etappe bei der Machtergreifung der Kamarilla. Von Adel und Klerus waren nur noch die Titel und Symbole geblieben, ihre reale Macht war gebrochen, Kaiser und Könige nur noch "gekrönte Diktatoren" von begrenzter Lebensdauer.
Nun zur Aufklärung und dem Fortschritt :rolleyes2: Besagte Kamarilla nutzte die Aufklärung im 18. Jahrhundert nur als geistige Waffe,
ohne an sie zu glauben! Im 19. Jahrhundert brauchte sie diese Waffe nicht mehr und zeigte nun ihr wahres Gesicht: so reaktionär und menschenverachtend wie die übleren Aristokraten des 19. Jahrhunderts und dank der industriellen Revolution mit noch mehr Machtmitteln ausgestattet.
Ich lese da gerade "Die Füchse im Weinberg" von Lion Feuchtwanger. Da schildert er, wie teils idealistische, teils intrigante französische Aristokraten die Amerikaner ab 1776 unterstützten. Wobei die "Insurgenten" ohne deren Hilfe von den Briten platt gemacht worden wären. Damals war noch die Rede von "Männern", die ein naturnahes Leben nach den Idealen von Rousseau und Montesquieu führen wollten. Im 19. Jahrhundert war daraus ein Staat geworden, der sich durch Raubkriege gegen Mexiko, Landraub und Völkermord an den Indianern vergrößerte. Und zudem mit Mormonen und co. eine Brutstätte üblen religiösem Obskurantismus. Der Begriff "Fundamantalismus" wurde meines Wissens damals über das Traktat "The Fundaments" in den USA geprägt. Alldiweil selbst die katholische Kirche sich mit Darwin und Evolution auseinandersetzt, bestehen Fundamentalisten made in USA nach wie vor auf dem kreationistischem Unfug und darauf, die Schöpfungeschichte wörtlich zu nehmen. Wenn das Amish People glauben, die selbst auf alle Annehmlichkeiten der Moderne verzichten - OK. Aber für das Pack, dass seinen antimodernen Diskurs damit verbindet, alle Annhemlichkeiten der Moderne auszuschöpfen, habe ich nur noch Verachtung übrig.
Wie in den USA war es auch in Europa: im 18. Jahrhundert machte die Kamarilla auf Aufklärung und schwenkte im 19. Jahrhundert zu übler Reaktion um. "Bürgerkönig" und "Second Empire" in Frankreich und all das pseudo-mythische Geschwurbel so zwischen Nietzsche-Elaborat und Wagner-Opern in Deutschland.
Die tollen Aufklärer haben da mit den USA einen Staat geschaffen, in dem vor 1861 jeder dritte Einwohner ein Sklave war. Franzosen und Briten terrorisierten mit ihrem Kolonialismus Afrika und Asien und die Matschbirnen in Deutschland hatten nichts Besseres zu tun, als auf den imperialistischen und rassistischen Zug aufzuspringen. Im Falle des Deutschen Reiches mit bekannter Endstation.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass diese Kamarilla sowohl aus konservativer als progressistischer Sicht zum Kotzen ist. Weil sie die schlechten Eigenschaften beider Weltanschauungen verbindet. Auf intelligenzbefreiten Fortschritt in der Art von Atombombentests auf dem Bikini-Atoll mag dann wieder eine Rude "Retro" folgen oder beides zugleich stattfinden. *** ist es so oder so.