Ich bin jetzt mit den ersten beiden Kapiteln von "Von Hegel zu Hitler" durch, in denen Kiesewetter Hegels politische Philosophie behandelt, und da ergeben sich in Anschluss an meinen letzten Post folgende Fragen:
1. Totaler Staat oder totaler Markt
?
Kiesewetter zufolge lehnt Hegel das "allgemeine, gleiche und freie" Wahlrecht für alle strikt ab. Der Staatsbürger nehme doch schon durch seine Interaktionen mit dem Staat am Staate teil. Da noch jeden an der Auswahl der Regierung zu und den zu treffenden Entscheidungen zu beteiligen sei dumm und töricht, weil der Staat dann zum Spielball partikularer Interessen werde und das "Allgemeine" verloren gehe. Die meisten Menschen sind zuden zu töricht, um bei Staatsangelegenheiten mit zu reden. "Das Volk weiß
nicht, was es will".
Freiheit und Vernunft bestehen für Hegel darin, dass sich der Einzelne freiwillig einem Staat unterordne, ohne einen Anspruch auf politische Mitbestimmung oder selbst "unveräußerliche" Rechte zu haben. Die Vernunft besteht darin, die Vernünftigkeit des Staates und die Redlichkeit und Klugheit seiner Regierung und seiner Beamten anzuerkennen. Den Protagonisten des Staatsapparates eigennütziges Handeln zu unterstellen oder gar ständig Kritik zu üben, ist für Hegel generell unvernünftiges und besserwisserisches Verhalten.
Dieser totale Staat, zu dessen geistigen Wegbereiter Kiesewetter Hegel machen will, ging allerdings 1945 im Wortsinne in Rauch auf. Nach einer sozialdemokratischen Phase sind wir aber seit den 1970er Jahren in Lateinamerika, den 1980er Jahren in der entwickelten westlichen Welt und den 1990er Jahren auch im Ostblock immer mehr in die Phase des totalen Marktes eingetreten.
Die gleichen Argumente, die Hegel für den totalen Staat und gegen politische Mitwirkung, Grundrechte und Kritik einfacher Menschen an ihm ins Felde führt, fahren die heutigen Apologeten des totalen Marktes gegen Kritik am Markt auf.
Weil man als Marktteilnehmer qua der marktüblichen Interaktionen schon am Markt teilnimmt, ist eine dezidierte politische Kontrolle für Marktradikale nicht mehr nötig. Man hat auch gegenüber dem Markt keinerlei unveräußerlichen Rechte. Die Marktradikalen kämpfen mit Zähnen und Klauen gegen den Mindestlohn und lehnen es auch angesichts von Reichtum und Überfluss strikt ab, allen Menschen ein Leben ohne materielle Sorgen und Existenängste zu ermöglichen. Bei Hegel waren die Menschen gegenüber dem totalen Staat rechtlos, heute sind sie es gegenüber dem totalen Markt.
Eingriffe in den Markt würden laut Marktradikalen nur stören und ihm vom Gleichgewicht resp. "Optimum wegführen". Auch für die Marktradikalen weiß das Volk nicht, was es will und soll sich deshalb nunmehr nicht dem Staat, sondern dem Markt unterwerfen.
Folgerichtig bestehen Freiheit und Vernunft nunmehr darin, dass sich der Einzelne dem Markt unterwirft. Am Markt zu agieren und Freiheit und die Vernunft ist das, was als Ergebnis von Marktprozessen herauskommt. Kritik an den Ergebnissen "unverfälschter" Marktmechanismen, Mißtrauen gegenüber den reichen und privilegierten Nutznießern der "Marktwirtschaft" oder Verachtung für die etwa in der Finanzkrise gezeigten Luftnummern mit Mega-Blasen werden als Genörgel eines unvernünftigen Pöbels angesehen.
Das Ergebnis und Ende des totalen Staates hatten wir 1945, auf das Ergebnis des totalen Marktes darf man gespannt sein.
2. Der Weltgeist als Kulissenschieber
Hegel erscheint zumindest in der Interpretation von Kiesewetter als der Protagonist einer zum System erhobenen Menschenverachtung. Kiesewetter muss selbst einräumen, dass seine negative Interpretation nicht die Einzige Sichtweise von Hegel ist. Worin ich ihm aber folge, ist, dass er mit Bezug auf Hegel einen sehr realen Diskurs der nicht nur zum System, sondern zur zu befolgenden Norm erhobenen Menschenverachtung skizziert hat.
1. Der Einzelne ist nichts! Er muss sich freiwillig dem totalen Staat - oder dem totalen Markt! - unterordnen und darf nicht einmal meckern, denn damit zeigt er ja seine Unreife. Im Gegenteil, er muss sich sogar freuen, denn er betreibt in Freiheit der Vernunft folgend Unterwerfung und Selbstaufgabe.
2. Der Einzelne unterwirft sich, ohne außer "Bedürfnisbefriedigung in der bürgerlichen" Gesellschaft irgend etwas zu bekommen! Der totale Staat (oder Markt) hat keine konkreten Daseinsziele ("Ruhm und Ehre" oder "Sex, Money and Fun"), sondern ist Selbstzweck. Der Staat (oder Markt) steht über dem Volk oder der Religion, er setzt sich als absoluten Selbstzweck! Gnädigerweise lässt der Staat (oder Markt) seine Untertanen in der bürgerlichen Gesellschaft noch rackern und schindern, weil er ohne Menschen und die Produkte ihrer Arbeit nicht existieren könnte.
3. Auch das Ganze, dem sich der Einzelne unterwirft, ist nichts! Hegel redet zwar der abstrakten Idee des totalen Staates das Wort, lehnt aber eine Weltrepublik oder einen Staatenbund, über den Kant nachdachte, ab! Konkret ist "Staat" immer mehrere Staaten, die um die Vorherrschaft kämpfen, Krieg muss sein und wird als notwendig gerechtfertigt, ja gefordert!
Doch jedem mit ein bisschen Verstand und Geschichtskenntnissen hätte schon zu Hegels Zeiten klar sein müssen, dass das Ringen der Staaten um Vorherrschaft zwar die Idee des totalen Staates befördert - weil der Staat im Krieg das Glück und Leben seiner Untertanen fordert und die sich "aufopfern" müssen - aber jeder konkrete Staat früher oder später auf der Strecke bleibt.
Selbst jemand, der zum Beispiel als sturer Preuße für seinen Staat kämpfen und sterben würde, muss einsehen, dass gerade in Hegels Gruselpanoptikum des Weltgericht haltenden Weltgeistes Preußen früher oder später
notwendig! zum Untergang verurteilt ist. Kantscher Logik zufolge Verabredungen zu treffen, um Preußen - oder die anderen Staaten - vor dem Untergang im Weltgericht zu bewahren, scheint mit da neheliegender.
Damit bin ich bei der Frage: Wer nimmt einen Diskurs der Menschenverachtung ernst, der nicht einmal vom Standpunkt eines staatsgläubigen Menschen viel Sinn macht? Siehe Preußen - es war schon vor Hegel einige Male am Rande des Untergangs und endete gut ein Jahrhundert nach ihm sogar mit einer offiziellen Verbotsverfügung. Sic transit gloria mundi!
Liegt da nicht die Vermutung nahe, dass sich auf allen Stufen der Hierarchie, von Macht und Besitz, die intelligenten Menschen so einem Diskurs und seinen destruktiven Folgen entziehen wollen? Wer nicht viel Macht und Besitz hat, verwirft alles außer Familie und engen Freunden. Wer etwas mehr Besitz hat, sieht zu, auf Schweizer Nummerkonten Rücklagen zu bilden oder ihn so weit zu streuen, dass z. B. russische Panzer 1945 nicht alles platt machen. Intelligente einfache Menschen und Mittelschichtler mögen dann zugleich zynisch und realistisch all die für Narren erklären, die angesichts eines mit dem Namen Hegel oder den Rechtshegelianern verbundenen Diskurses noch an "Staat und Nation" glauben. Weil sie sich da nur als Kanonenfutter sehen und den Untergang ahnen mögen.
Wer sehr reich und mächtig ist, steht nicht außerhalb, sondern über dem - scheinbar - totalen Hegelschen Staat. Der Weltgeist hält nicht Weltgericht, sondern wird zum Kulissenschieber. Und der totale Staat erweise sich gerade durch seine Totalität als böse und blutige Luftnummer der Weltgeschichte.
Die heute Platz für den totalen Markt machen muss