Beziehung oder Erziehung?
Mit Erziehung ist ein Prozess gemeint, der ein Machtverhältnis zur Grundlage hat. Menschen, die sich als ebenbürtig- nicht: "gleich"- betrachten, erziehen einander nicht.
Sie begegnen sich auf Augenhöhe. Gleichzeitig stellen sie ihre unauflösbare Fremdheit fest. Sie sind im Gespräch, in ebenbürtiger Beziehung zueinander.
Ivan Illich beschreibt eine solche Situation. Er besuchte ein arabisches Land und gab einem Bettler ein Geldstück. Dabei vermied er den Blickkontakt und entfernte sich diskret wieder.
Sein Freund forderte ihn auf, zurück zu gehen und sich vor dem Bettler zu verbeugen. Illich tat es. Der Bettler segnete ihn.
Illich nennt diese Begegnung ein Fest der disharmonischen Ebenbürtigkeit. Das Geldstück und der Segensspruch sind unvergleichbar. Illich und der Bettler sind es ebenso.
Sie konnten einander in die Augen sehen als Du und Du. Keiner hatte Macht über den anderen. Keiner "erzog" den anderen.
Wie ist das nun mit Eltern und Kindern? Gewiss, Eltern machen Kinder auf Gefahren aufmerksam. Bedeutet das aber, dass Kinder ihre Eltern auf nichts hinweisen?
Dass wir von Kindern nichts lernen können, noch nicht einmal die Erinnerung an unser eigenes Kindsein, an unsere einstige Natürlichkeit und Unbekümmertheit?
Erleben wir nicht die Welt neu und anders, wenn wir das Staunen des Kindes über einen Schmetterling teilen? Lernen wir nicht auch aus ihren Fragen?
"Papa, warum brennt die Sonne nicht aus?", fragte mich meine Tochter. Ich wusste es nicht. Hat mich nun meine Tochter zum Nachdenken über die Sonne "erzogen"?
Erziehung ist ein Prozess. Sie kann nicht an einem Einzelbeispiel festgemacht werden. Das Zurückreißen des Kindes vor einem sich nähernden Auto ist ein einzelner Hilfs- Akt.
Er ist not- wendig. Dabei kann das Kind in diesem Fall noch nicht einmal als "gehorsam" bezeichnet werden. Gehorsam, auf den Erziehung ja schließlich abzielt, setzt die Lähmung des eigenen Willens voraus.
Wenn mich jemand mit Gewalt zurückreißt ( oder zieht), ist das keine Erziehung. Es sei denn, man betrachtet das menschliche Miteinander grundsätzlich als gegenseitige Erziehung.
Dann kommt man jedoch nie wieder aus der Erziehung heraus. Liebende erziehen einander, Bäcker und Kunde tun es usw. Die Welt- eine Erziehungs- Anstalt?
Erziehung setzt voraus, dass es pädagogische Normen gibt. Erziehungsnormen. Standards sind das Ziel. Böse gesagt: Gleichschaltung von Individuen. Die Zensur im Unterricht gehört dazu- schon ihr Name lässt nichts Gutes ahnen. Man assoziiert damit Kontrolle, Überwachung, Beschneidung, Einengung. Fraglich ist auch, wie sinnvoll das tägliche Konzentrations- und Disziplinierungslager "Schule" überhaupt ist.
Warum müssen alle Gleichaltrigen das Gleiche lernen? Wer bestimmt, was normal ist? Wer hat die "diagnostische Macht"? Ist Kompetenz nur durch beschriebene Papierfetzen, Zeugnis oder Diplom genannt, erweisbar? In der Festlegung der Norm, des Standards und in der Sanktion der Abweichung davon besteht die größte Macht. Sie dient der Zementierung von Herrschaftsverhältnissen, der Gleichschaltung des Denkens.
Das lässt bei vollem Bewusstsein niemand gern mit sich machen. Deshalb bedarf es der "Erziehung".
Abschließend lasse ich eine "Erziehungswissenschaftlerin" zu Wort kommen. Marianne Gronemeyer. Sie sagt, dass die Vereinheitlichung durch vorgegebene Lernstandards nicht zu Gerechtigkeit und schon gar nicht zu Chancengleichheit führt, dass aber diese Standards "uns um das Beste bringen, um den größten gesellschaftlichen Reichtum, nämlich die unendliche Verschiedenheit der Menschen und die unbegrenzte Fülle, die in dieser Verschiedenheit zu suchen und zu finden wäre". Da nämlich jedes Kind anders ist und andere Voraussetzungen in die Schule bringt, ist Chancengleichheit durch Standardisierung der Lernziele nicht zu erreichen.