Eine ruhig lebende Gesellschaft ist natürlich auf der Suche nach etwas Ereignisvollem; "Action".
Man nimmt sich die Zeit, die man hat, mal dahin oder dorthin zu fahren.
In unserer Kreisstadt haben es ein paar Zahnärzte oder Anwälte für gut gefunden, dem in ihrer Kanzlei ausgehangenen Aufrufen, etwas Fülle zu verleihen und eine Rede versprochen.
Daraufhin traf man sich montags zu dem Stelldichein, das ich natürlich, der Neugierde und Erlebnissucht halber, auch mal besuchen wollte. Schließlich wollte unsereiner mit dem Stammtisch im eigenen Lokal mitreden können. Auf dem Plätzl vor dem Kreistag befanden sich dann so um die fünfhundert Zuhörer und davon, ganz sicher, auch ein paar Dutzend inoffizielle Mitarbeiter unseres Staatsschutzes. Die meisten der Genossen kannte ich persönlich und einer von ihnen, filmte auffällig das Geschehen. Volkspolizisten waren drei da. In Normaluniform. Die Vorträge der Ärzte und Anwälte wurden von den wenigsten gehört, geschweige verstanden. Ein paar fühlten sich mit den Anliegen der Ärzte und Anwälte solidarisch und applaudierten zu den Beiträgen der Leute des Neuen Forums. So nannten sie ihre Versammlung.
Nach den Versammlungen und Treffen, die ab dann, regelmäßig montags abliefen und immer weniger Zuhöhrer fanden, fanden an meinem Stammtisch, die Auswertungen statt. Da diskutierte der Wismutarbeiter mit dem Brauereifahrer, der gerade auf die Bewilligung seines Ausreiseantrages wartete. Alle meine Gäste waren auch sehr gute Freunde von mir, die mir auch halfen, diverse Verbesserungen in meinem Lokal zu bauen. Der Bauereifahrer war Vater zweier entzückender Mädchen, die beide sehr klug waren. Die Mutter war eine Kindergärtnerin. Sie wohnten in einem Haus; einem Altbau, den sie stückweise renovierten. An ihrem Haus lief der Ortsbach vorbei, der auch für die Bewässerung des üppigen Gartens benutzt wurde. Idylle pur, möchte man meinen. Zumal, eine Lehrerin und ein Brauereifahrer, wirklich gut verdienten in der DDR. Man hatte zusammen, weit über zweitausend Mark monatlich und eine üppiges GetränkeNaturaliat aus der Brauerei.
Beide Betriebe, sowohl die Lehreinrichtung als auch die Brauerei, hatten DDRweit und auch im Freundesland, ausreichend Ferienmöglichkeiten mit wirklich lieben Gastgebern und arbeiterfreundlichen Unterkünften ohne Schnickschnack. In der DDR machte man Urlaub mit den Gastgebern und Freunden. Der Tag der Ausreise rückte näher und mein Freund kam häufiger mit dem Wunsch, daß ich ihm mal etwas helfen könnte. Es waren Koffer und Kisten zu packen und zu entscheiden, was man zu Hause läßt oder verschenkt. Es wurden Rücklagen organisiert für den Fall, daß etwas anders läuft als geplant. Am Tag der Ausreise fuhren wir an einen Grenzübergang, der uns von unseren Behörden zugewiesen wurde. Der Abschied war tränenreich, vor allem bei unseren Kindern und bei ihrer ausreisenden Kindergärtnerin.
Nach meinem weltweiten Einsatz bei einer Hotelgruppe, der fast sieben Jahre dauerte, hatte ich mir vorgenommen, alle meine Freunde, die ich zur Ausreise begleitet habe, zu besuchen. Einige traf ich in meinem Heimatort wieder; verwahrlost, wohnungssuchend und amtsabhängig. Gleiches fand ich im Westen vor. Die Freunde hausten in Wohnungen, die sie zu DDRZeiten, wohl eher als Schuttplätze oder Absteigen bezeichnet hätten. Einigen dieser Freunde habe ich später, aus Mitleid, Arbeit in Österreich oder der Schweiz organisiert. Alle, bis auf Einen (ich betone das gern, weil ich von fast einhundert Menschen rede), haben einen sozialen Abstieg hingelegt, der in meinen Augen und auch bei ihren Kindern, als beispiellos bezeichnet werden kann.
Der Eine-"Glückliche" arbeitet bei der Autobahnüberwachung. Er redet bei dem Arbeitsplatz von Glück!, wohl in der Kenntnis, daß er Jahre hatte, in denen er nicht mal die Miete zahlen konnte und auf unsere Überweisungen angewiesen war. Ausgerechnet dieser Eine möchte die DDR nicht wieder haben
))
kh