Guten Tag, allesamt!
Ich halte es für einen grundlegenden Fehler, gesellschaftliche und/oder politische Entwicklungen rückwirkend auf rechtsstaatliche gefällte und nicht zu beanstandende Urteile anwenden zu wollen.
Fakt ist: solange der §175 StGB in Kraft war, hatten deutsche Gerichte auch exakt DANACH zu urteilen. Punktum. Nulla poena sine lege.
Wir haben eine Gewaltenteilung (die, u.a. durch derlei populistisches Geschwafel, erschreckenderweise immer mehr aufgeweicht wird). WARUM sollte irgendjemand für irgendetwas entschädigt werden, was ein RECHTSSTAAT ihm an Strafe aufgebrummt hat, wenn er ZUM ZEITPUNKT DER VERURTEILUNG mit seinem Tun gegen geltendes Recht verstoßen hat? Im Gegenzug macht sich schließlich auch niemand strafbar, der seine Tat zu einem Zeitpunkt begangen hat, zu dem sein Tun NICHT strafrechtlich sanktioniert war. Auch eine Strafverschärfung betrifft immer nur diejenigen, die ihre Taten NACH dem Zeitpunkt begangen hat, zu dem die entsprechende Gesetzesänderung in Kraft getreten ist. Nulla poena sine lege.
Was soll diese behämmerte "Entschuldigung"? Für WAS??? Wenn wir für jede Gesetzesänderung, die sich daraus ergibt, daß sich die gesellschaftlichen Normen, die das bis dahin geltende Recht bestimmt hatten, geändert haben, an die "Opfer" (die eben nur aus HEUTIGER Sicht "Opfer" sind, nicht aber aus Sicht der Zeit, zu der sie gegen geltendes Recht verstoßen haben) Entschädigungen zahlen und uns bei ihnen entschuldigen, dann können wir uns sowohl die Rechtsprechung als auch die Gesetzgebung zukünftig sparen, eben diese Gewaltenteilung für erledigt erkläre und die Anarchie zur geltenden Staatsform erheben. Aber, bis dahin: nulla poena sine lege.
Gruß -
Bendert
Nach dieser Auffassung wäre eine Hilde Banjamin oder die Folterer in Bautzen und Höhenschönhausen auch heute nicht vorbestraft, ein Schwuler aber schon.
Ob oder ob nicht sie vorbestraft sind, waren oder wären, haben wiederum Gerichte zu entscheiden; soweit es den Fall Benjamin betrifft, hat sich die Täterin jeder justitiellen Aufarbeitung der ihr vorgeworfenen Justizmorde durch Tod entzogen. Generell können aber Straftaten geahndet werden, die vom geltenden Recht des Landes, in dem sie begangen worden sind, durchaus gedeckt gewesen sein mögen, zum Beispiel dann, wenn die grundlegenden nationalen Gesetze gegen das Menschenrecht oder das Völkerrecht verstoßen haben.
Ein, selbst am letzten Tag der Gültigkeit des §175, zur Höchststrafe(!) Verurteilter (den es, meines Wissens, ohnehin nicht gibt), wäre heute schon lange nicht mehr vorbestraft, wobei seit 1973 ohnehin Homosexualität unter Männern nur noch dann strafbar war, wenn EINER der Beteiligten noch minderjährig war.
Das ist nichts anderes als das - buchstäblich - aufgeblasene Tamtam um gar nix.
Interessanterweise findet man in den ganzen aktuellen Unrechtsjaulereien im, ansonsten doch so allwissenden Internetz, praktisch keine Informationen darüber, wann genau das letzte Mal ein Schwuler zu einer Haftstrafe nach §175 verurteilt worden wäre, von Höchststrafe ganz zu schweigen - und, falls es noch Haftstrafen gegeben hätte, wie die genaueren Umstände waren, die ggf. zu einer Haftstrafe geführt haben. Um das zu eruieren müßte man sich vermutlich in die rechtshistorische Abteilung der Bibliothek einer juristischen Fakultät begeben...
Sieht man sich, beispielsweise, die Zahlen und die teils spektakulären Folgen der Strafverfolgung Homosexueller in den 50er/60er Jahren in Deutschland an (Selbstmorde auch ganz junger Männer, Umzug, sozialer und wirtschaftlicher Absturz, Emigration usw.), so muß man konstatieren, daß die verhängten Strafen nicht selten eher symbolischen Charakter hatten. Weit gravierender waren die Folgen der Öffentlichmachung von Homosexualität durch ein Strafverfahren: Arbeitsplatzverlust, soziale Isolation (auch das, was wir heute so nett als "Mobbing" bezeichnen) und alle daraus resultierenden Folgen. DIE, allerdings, sind nicht der Justiz anzulasten. Sondern den Leuten, die - und die gibt es auch heute noch - aus den verschiedensten Gründen ein Problem mit Homosexualität an sich hatten und haben.
DAS allerdings kann und darf ein Staat nicht regeln, das müssen schon seine Einwohner selbst erledigen. Haben sie auch: ansonsten wäre der §175 auch heute noch in Kraft.
Gruß -
Bendert
P.S.: Übrigens: EHEBRUCH war bis 1969 ebenfalls strafbar, bis 1977 immerhin scheidungsrechtlich noch relevant.
Nur haben Geschiedene und Ehebrecher keine lautstarke Lobby in den Medien, Gott sei Dank, ansonsten könnten wir hier gleich das nächste Faß aufmachen und "Entschädigungen" zahlen für etwas, wo der Wandel der gesellschaftliche Wahrnehmung ihren Niederschlag in der Gesetzgebung und, dementsprechend, in der Rechtsprechung gefunden haben.
Wenn man nur(!) eine Seitensprung-Rate von 50% (unter Ehegatten im juristischen Sinne) unterstellt, mein lieber Schwan... Jaja... Fremdgehen ist teuer. Aber wir haben´s ja.
Und sind moralisch ja soooooooo integer, daß wir das, was unsere Eltern und Großeltern völlig in Ordnung fanden nach UNSEREN Maßstäben verurteilen müssen.
Was sind wir armselige Ärsche, daß wir das nötig zu haben scheinen.
P.P.S.: Ob sich die Schwulen mit diesem Bohei einen Gefallen tun, wage ich übrigens auch stark zu bezweifeln: irgendwann wird jemand merken, wie lächerlich das Ganze ist. Ganz ehrlich: wäre ich schwul, ich liefe gegen diese Art der Vereinnahmung zur Stimmungsmache Sturm. Soviel Entschädigung könnte mir kein Minister anbieten.