Hallo, Dr. Nötigenfalls, liebe Mitstreiter,
es greift entschieden zu kurz, hier ausschließlich Pestizide und dergleichen zum Schuldigen zu erklären. Die Probleme sind weit komplexeren Ursachen geschuldet. Hier noch der übliche Hinweis: VORSICHT!!! Es folgt ein langer Text.
Ein Beispiel: der Allerweltsvogel "Spatz" ist in seinem Bestand von rund 50 Millionen Exemplaren in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf rund 5 Millionen aktuell geschrumpft. Was ist die Ursache? Er fristet heute sein Dasein vor allem als "Städter". Er kommt vorwiegend dort vor, wo Außengastronomie besteht und ernährt sich dort von Kuchenkrümeln, Pommes etc.
In früheren Zeiten war Spatz vor allen dort beheimatet, wo es Kuhställe, Pferdeställe und Misthaufen gab. Seine spezielle Begabung war es, in Kot- und Misthaufen unverdaut ausgeschiedene Getreidekörner auszusortieren und zu verwerten. Sieht man sich die moderne Landwirtschaft an, so stellt man fest, daß Weidevieh mittlerweile fast ausschließlich in Ställen gehalten wird. Kühe werden nicht mehr auf die Weide getrieben, sie bekommen das Gras in Form von Silage in den (Lauf-)Stall geliefert, auf Einstreu wird häufig verzichtet (Stroh!!!). Pferde werden heute überwiegend von Hobbyreitern gehalten und sehen größtenteils Ställen, werden mit Pellets und Heu gefüttert und ihre Exkremente werden fachgerecht und "umweltfreundlich" entsorgt (es darf ja schließlich nicht stinken im Neubaugebiet!!!). Da bleibt der Spatz halt auf der Strecke... Schuld sind natürlich die Landwirte, die auf ihren Äckern Herbizide oder auch Pestizide ausbringen, damit 1 deutscher Bauer heute 150 Menschen ernähren kann statt derer 4 wie in den 50er Jahren.
Ich kenne keinen mehr, der das tut, aber: wenn heute ein Bauer auch nur versuchen würde, seine Rinderherde morgens und abends über öffentliche Straßen zu treiben, es wäre die Hölle los...
Die eigentliche Ursache für die Bestandbedrohung vieler Vogelarten (und daß die Bestände gerade auch auf dem Land massiv zurückgegangen sind, erkennt ein Blinder mit dem Krückstock, da braucht man keine Studien, das ist nicht zu übersehen!) ist die immer weiter fortschreitende Versiegelung von Flächen. Der Flächenverbrauch in Deutschland ist gigantisch. Auf fruchtbarsten Böden werden riesige Logistikzentren gebaut, Neubaugebiete ersetzen Acker- und Weideflächen. Es werden Doppelhaushälften und Einfamilienhäuschen gebaut, wo eigentlich Kühe grasen sollten. Wohnungsnot herrscht allenthalben, trotzdem wird in den Erhalt und die Modernisierung nach wie vor NICHT investiert - Neubau vor Erhalt, inklusive der dafür benötigten Flächen. HIER haben tatsächlich sämtliche Regierungen in den letzten Jahrzehnten versagt, einschließlich jener mit grüner Beteiligung. Aber Schuld am Vogelsterben sind natürlich die Landwirtschaft, die Pestizide und natürlich die Regierung, weil sie Pestizide nicht verbietet: schließlich hat die Politik zu bestimmen, wie Ackerbau funktioniert...
Aber: Ackerbau ist ja heutzutage eh nur noch Monokultur und gehörte vermutlich generell verboten. Eigentlich dürften zwar die viel beklagten Monokulturen kein Problem darstellen, denn Ackerbau war immer schon genau DAS: Monokultur. Und die hat sich nicht zum Schlechteren gewandelt (wenn man vom Trend zum Mais mal absieht). Im Gegenteil: seitdem Straßenränder und Grünstreifen nicht mehr gespritzt werden dürfen (und das schon seit Jahrzehnten!), sondern allenfalls 1 bis 2 Mal im Jahr gemäht werden, hat sich gerade an diesen Stellen wieder eine Pflanzenvielfalt entwickelt, die in ihrer Gesamtfläche die intensiv landwirtschaftlich genutzte Fläche locker ausgleicht. Hinzu kommen Brachflächen (und auch davon gibt es immer mehr!), zahlreiche Schutzprogramme z.B. an Bach- und Flußläufen, die entweder gar nicht mehr oder nur mit erheblichen Auflagen bewirtschaftet werden dürfen (z.B. Verbot jeder Form der Düngung oder gar chemischen Pflanzenschutzes, breite Schutzstreifen am Gewässerrand, die überhaupt nicht mehr genutzt werden dürfen - und die, übrigens, in der Folge durch Verbuschung und Verwaldung in ihrer Artenvielfalt nach und nach verarmen - Mahd nur noch einmal im Jahr usw). Es werden zudem insgesamt weit weniger Pestizide pro Hektar in der Landwirtschaft eingesetzt als noch in den 50er, 60er und 70er Jahren und die Auflagen für ihren Einsatz sind heute strenger denn je.
Warum also der ja in Deutschland nicht weniger dramatische Rückgang bei nahezu allen Singvogelarten sowie den klassischen Bodenbrütern? Nur wegen der Pestizide? Ganz sicher nicht. Die Hauptursache liegt im immer größer werdenden Siedlungsdruck. Immer mehr landwirtschaftliche Fläche wird bebaut. Mit jedem Logistikpark, seinen Zuwegungen, Stellflächen etc. werden Flächen, auf denen es zuvor Weiden, Wiesen und Äcker inklusive bunt blühender Raine, sowie vielerorts auch Hecken gegeben hat, dauerhaft versiegelt. Wo früher in Mehrfamilienhäusern auf einer Grundfläche von vielleicht 200 Quadratmetern mindestens 20 bis 30 Menschen lebten, leben heute in Reiheneigenheimen, Einfamilienhäuschen und dergleichen auf derselben Fläche allenfalls noch 2 bis 4 Personen. Auch hier kommen Zuwegungen, Stellflächen, Bürgersteige etc. noch hinzu. Es ist inzwischen ein Kreislauf entstanden, in dem junge Paare, die beiderseits von Eltern mit Wohneigentum abstammen das Elternhaus verlassen, neu bauen - und demnächst die Häuser ihrer Eltern und Großeltern erben (und schaut Euch mal die typischen Gärtchen und Vorgärtchen dieser Siedlungen der letzten 20 Jahre an: Kies, Thuja, Eibe, Buchs, ein paar ausgefallene Dekostücke hier und da vor dem Haus platziert, dahinter dann Rasen, mit einer Thuja-Hecke eingefaßt, Hauptsache pflegeleicht, denn da man ja eh kaum zuhause ist - man muß ja schließlich arbeiten, um das Haus zu finanzieren - möchte man, wenn man denn mal da ist, nicht auch noch im Garten arbeiten müssen). Da waren übrigens die großen Industriebarone schon weiter: in zahlreichen Zechensiedlungen gehörte der Garten zum Haus, damit sich dessen Bewohner SELBST mit Nahrung versorgen konnten, es gab Platz für Obst und Gemüse, ein Schwein, Kaninchen, Tauben. Damals, allerdings, war ein Garten allerdings auch noch keine "Wohlfühloase" mit Statuswert.
Der Kreislauf von neu bauen und später erben, jedenfalls, mithin also die Versorgung mit zwei bis drei Häusern verschiedener Altersklassen pro Person, wird irgendwann unterbrochen, klar, nämlich dann, wenn der Überhang an Wohnimmobilien so groß geworden ist, daß flächendeckender Leerstand den Immobilienmarkt zusammenbrechen lassen wird und mit der Abrißbirne weite Teile der Landschaft wieder renaturiert werden. Aber bis dahin wird es für viele Arten zu spät sein.
Da, beispielsweise, wäre die Politik schon seit mindestens 20 Jahren in der Pflicht, energisch gegenzusteuern (z.B. indem man nicht den Neubau subventioniert, sondern die Sanierung des Bestandes - aus ökonomischen wie ökologischen Gründen).
Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte hat eine Generation die Ressource Boden so gnadenlos ausgebeutet wie ausgerechnet die Generation "Grün" - und hat bis heute nicht einmal den Hauch von Unrechtsbewußtsein. Es ist die Generation "Wir-haben-Rechte". Und Ansprüche, selbstverständlich. Nur Pflichten kennt diese Generation eben leider nicht und kann diesen Wert entsprechend auch nicht an ihre - aus Gründen des Lifestyle - arg dezimierte Nachkommenschaft weitergeben.
Müssen wir über Flächenversiegelungen für Windräder und Solaranlagen noch sprechen? Wohl kaum.
Eine weitere, nicht unwesentliche Ursache für das Vogelsterben ist der Konkurrenzdruck, den bestimmte Vogelarten auf andere ausüben: Krähen und Elstern. In weiten Teilen Deutschlands sind die Populationen dieser beiden Arten inzwischen so groß, daß Bodenbrüter wie Feldlärche oder Kiebitz kaum noch eine Chance haben, ja selbst Hasen, sogar Rehkitze fallen ihnen zum Opfer. Konsequente Bejagung würde da schon sehr viel helfen, wird aber wiederum von der Öko- und Tierschutzlobby verhindert. Der ebenfalls weit verbreitete Überbestand an Wildschweinen kommt noch erschwerend hinzu.
Ebenfalls nicht zu übersehen ist ferner, daß dem Vogelsterben ein massives Insektensterben vorausgegangen ist, bzw. vorausgeht. Zum größten Teil sind die Ursachen die bereits genannten (wobei ein besonderer Schwerpunkt auf der modernen Form der Massentierhaltung in hermetisch abgeriegelten Ställen liegt, in denen die Tiere - vorwiegend Geflügel und Schweine - Mücken, Fliegen etc. nicht mehr zur Verfügung stehen). Die weit größere Anfälligkeit von Insekten gegenüber widrigen Witterungsverhältnissen - und die waren in den letzten Jahren gegeben, mit langen Trockenperioden im Frühjahr und völlig verregneten Sommern, beispielsweise, schlägt hier allerdings auch zu Buche und ist schlicht nicht steuerbar.
Die einzige wichtige und tatsächlich auf den Strukturwandel in der Landwirtschaft zurückzuführende Ursache - und zwar ein weitaus folgenschwerere als der Einsatz von Pestiziden!!! - ist die Aufgabe der Weidehaltung von Kühen und Rindern und die ersatzweise Haltung in Laufställen und Fütterung mit Grassilage: Silage ist tatsächlich ein Riesenproblem und zwar deshalb, weil das Gras lange vor der Reife geschnitten wird, d.h.: die Grasblüte fällt weitgehend aus, was wiederum Insekten massiv unter Druck setzt. Auf solchen Flächen kommt häufig nicht einmal mehr Klee zur Blüte, von späteren und höheren Blühern wie Kamille oder Schafgarbe ganz zu schweigen. Zudem können Wiesen, die u.U. vier- bis fünfmal im Jahr gemäht werden, Bodenbrütern keinen Schutz mehr bieten, und zwar speziell in der Brut- und Aufzuchtzeit, einfach deshalb, weil das Gras gar nicht mehr hoch genug wächst. Übrigens ist die Umstellung von Weidehaltung auf Stallhaltung ein Phänomen, das sich tatsächlich in den letzten 10, vielleicht 15 Jahren entwickelt und sich in diesem Zeitraum ebenso rasant wie flächendeckend durchgesetzt hat. WENN es also, wie im Artikel angenommen, eine landwirtschaftsimmanente Ursache geben muß, die sich im Zeitraum von maximal 20 Jahren entwickelt und/oder verschärft haben muß, dann ist sie mit weit höherer Wahrscheinlichkeit HIERIN zu suchen als im Einsatz immer weiter verbesserter Pestizide.
Sicherlich sind Pestizide nicht hilfreich für die Vogelbestände, aber sie sind NICHT die entscheidende Ursache (andernfalls wären etliche Arten schon lange ausgestorben). Und ein Verbot von Neonicotinoiden, das ja aktuell marktschreierisch gefordert wird? Würde das nutzen? Möglicherweise könnte es die Folgen der anderen Ursachen ein wenig lindern (um nicht zu sagen: unter einer Unkrautschicht verdecken).
Was aber, meinst Du, wird eine Scheibe Graubrot kosten, wenn Pflanzenschutz auf dem Acker nur noch mechanisch durchgeführt wird? Was ein Pfund Butter, wenn Kühe wieder auf die Weide getrieben werden und im Winter Heu zu fressen bekommen? Versuch mal, als Bauer einen mobilen Hühnerstall genehmigt zu bekommen, wenn die Weide, auf die Du ihn stellen möchtest, in Sichtweite - also weniger als mindestens 800 Meter - zu einer Neubausiedlung steht... da mußt Du Dich mit einem Gutachten nach dem anderen erst durch die Instanzen klagen gegen die "besorgten Bürger", die Geruchs- und Lärmbelästigungen befürchten (ganz vorne mit dabei natürlich Figuren wie Studienräte, die ansonsten ihre Freizeit damit verbringen, Feldhamsterpopulationen vor dem Bau von Fernstraßen zu beschützen, ihre Eier nur beim Bio-Bauern kaufen - vorausgesetzt, der hat seinen Betrieb nicht in ihrer Nachbarschaft, die gegen den Einsatz von Pestiziden demonstrieren, die den Diesel verboten sehen wollen und die Menschheit mit Elektroautos zwangsbeglücken, weil Strom ja aus der Steckdose kommt, also: natürlich nur Ökostrom, versteht sich).
Ich sehe da weniger die Drecksregierung als Kandidaten für den Pranger, sondern den erheblichen Anteil an Drecksstädtern in unserer Bevölkerung, die nicht nur meinen, ihren Senf überall dazugeben zu müssen, sondern die möglichst wöchentlich irgendeine neue Sau durchs Dorf treiben, weil ihnen wieder mal wegen irgendwas der Arsch auf Grundeis geht.
Was dann dazu führt, daß man sich irgendeinen einfachen, griffigen Grund für ein Thema wie das Artensterben sucht - jetzt also die Pestizide - und dann den schwarzen Peter zwischen Regierung und Bauern aufteilt. Und schon kann man die eigenen Hände in Unschuld waschen (selbstverständlich nur mit veganer Seife!!!) und muß sich keine Gedanken mehr über die eigene Rolle in diesem Drama machen, z.B. was die Ansprüche an das eigene Wohnumfeld, wie das Neudeutsch ja so schön heißt, angeht. Also: so das Eigenheim am Stadtrand, so mit Schule, Kita, Ärzten, nicht direkt vor der Haustür, lieber etwas weiter weg (Lärm und so) so im Radius von 2 bis 3 Kilometern, vielleicht. Und eine Auswahl an Supermärkten und Discountern: da fährt man dann mit dem Auto hin und kauft, aus Gründen des Umweltschutzes, Biotomaten aus Bolivien.
Gruß -
Bendert