Nach all dem vielen neidischen Grünen-Bashing versuch ich hier mal einen anderen Analyseansatz:
In vielen Ländern der EU zeigt sich, dass sich die Parteienlandschaft mal schneller mal etwas langsamer aber doch kontinuierlich wandelt. Während über viele Jahrzehnte für die Europäische Parteienlandschaft nahezu überall weitgehend das klassische Rechts-Links-Schema ausschlaggebend war, ändert sich mehr und mehr die Sichtweise auf die Priorisierung der Themen durch die Bürger.
Klassisch kam das Rechts-Links-Schema dadurch zustande, dass man einerseits konservativ und häufig auch christlich geprägte tradierte Wertvorstellungen von Ehe und Familie, der Autorität der Kirche, dem Unternehmertum und der Wirtschaft einen hohen Stellenwert zugeordnet hat. Andererseits waren linke sozialdemokratische und sozialistische Werte Folgen des Klassenkampfes der Gewerkschaften, der sozialen Frage zwischen Arm und Reich, Arbeitslosen und Unternehmen.
Durch die Jahre nach dem zweiten Weltkrieg, die doch über lange Perioden diesen klassischen Gedankenansatz auch noch durch die Auseinandersetzung zwischen Ost und West, der Mauer durch Europa, sowie dem kalten Krieg befeuert wurde, hat sich dies mit dem Ende der Sowjetunion und der Deutschen Einheit gewandelt.
Zunächst waren auch dann noch die klassischen Parteiszenarien übergangsweise relevant - die Ostländer wollten und mussten auch erst mal in die westliche Gemeinschaft mit der EU aufgenommen werden, und da half es auch noch eine Weile, sich an klassischen Vorbildern erst einmal auszurichten. Gut beobachten kann man dies gerade auch an Deutschland und der deutschen Einheit - da haben sich viele unterschiedliche Politikansätze in der ganz jungen Demokratiezeit der Noch-DDR mit unterschiedlichsten Parteienlandschaften relativ schnell erst mal in das westdeutsche Parteienszenario eingefügt - Bewegungen, die diese Eingruppierung nicht mitgemacht haben, sind in der Tendenz faktisch verschwunden oder in die Bedeutungslosigkeit abgerutscht.
Das alte Muster von Rechts-Links funktioniert seitdem - aber immer schlechter. Die Unterscheidbarkeit zwischen den Parteien die in der gesellschaftlichen Mitte stehen, nimmt immer weiter ab - zumindest was die Themen Wirtschaft und Soziales betrifft. So ist beispielsweise in Deutschland die Wirtschaftspolitik unter Schröder klassische CDU/FDP-Politik, während die Sozialpolitik von Frau Merkel in Teilen deutliche Züge der SPD trägt.
Wenn dann noch diese beiden größeren Parteien über mehrere Jahre faktisch eng zusammenarbeiten, bleibt für die Unzufriedenheit der Wähler keine richtige Alternative.
Dazu kommt, dass neue gesellschaftliche Kernfragestellungen mehr und mehr ins gesamtgesellschaftliche Bewusstsein rücken und damit auch die alten Themen Wirtschaft und Soziales zumindest in Teilen weniger Relevant werden. So taucht das Thema "Einwanderung" und "Asyl" als Kernfragestellung auf, dann aber auch Themen aus dem Umfeld "Klime- und Umweltpolitik" - Themen, die vor allem mit den Erkenntnissen der Wissenschaft gesichert und inzwischen auch unumstritten relevante Zukunftsthemen sind - vor allem für die jüngere Generation. Als weiteres gesellschaftliches Spannungsfeld kommt damit auch das Thema "Europa" in den Blickpunkt.
Die Spannungsfelder zu diesen Themen bestehen zwischen Jung und Alt, Konservativ und Fortschrittlich, Hoher und Niedriger Bildung, und vor allem gehen sie quer durch die tradierte Parteienlandschaft. So gibt es durchaus auch innerhalb des klassischen Wählermilieus der SPD viele, die mit deren Zuwanderungspolitik nicht einverstanden sind - und innerhalb der CDU gibt es viele, die inzwischen auch nicht mehr verstehen, warum man so zögerlich die Herausforderungen zur Bewahrung der Schöpfung angeht.
Hinzu kommt, dass die Demokratie volatil geworden ist - der klassische dauerhafte Wähler von immer derselben Partei ist ein aussterbendes Relikt.
Unterm Strich führt das sukzessive aber nachhaltig dazu, dass sich die Parteienlandschaften verändern.
So werden die einst linken Grünen inzwischen in weiten Teilen der Bevölkerung als Partei der Mitte mit besonderer Ausrichtung auf Umwelt- und Klimathemen wahrgenommen,
die AFD wird hingegen - obwohl programmatisch in der Wirtschaft eher klassisch CDU-nah - auch von früheren Stammwählern der SPD als Alternative wahrgenommen, weil die AFD die Besitzstandsängste von vielen, die sich als Verlierer fühlen, adressiert.
In der Folge verändert sich die Parteienlandschaft - die klassische Aufteilung von Rechts-Links greift immer weniger.
Statt dessen bilden sich Parteienlandschaften heraus, die sich entlang neuer politischer Trennlinien organisieren - also beispielsweise Pro-Europäisch, oder National/Völkisch orientiert. Oder auch Pro-Wissenschaft und damit Pro-Klimaschutz und Zukunftsgerichtet orientiert, oder allem und jedem Misstrauend und National und Populistisch Rückwärtsgewandt ausgerichtet.
Auch wenn die Motivationen in anderen EU-Ländern teilweise andere sind, zeigt sich doch auch in vielen anderen Ländern aus unterschiedlicher Sachlage heraus, dass sich ähnliche neue Parteienkonstellationen bilden.
So in Italien, Frankreich, Großbrittanien, Belgien, Niederlande, Ungarn, Polen, Österreich, ... ... ...
Die politischen Trennlinien verabschieden sich von klassisch Rechts-Links hin zu Pro-Europäisch und Nationalistisch/Populistisch.
Dieser Trend verstetigt sich jetzt rund um die Europawahl auch damit, dass die Nationalistischen Parteien in den europäischen Staaten nun auch versuchen, eine internationale Zusammenarbeit zu organisieren, die ihren Interessen gerecht wird.
In einigen Ländern Europas hat diese Neuorganisation der Politik schon zu völliger Neuaufstellung von Parteien geführt. Teilweise wurden neue politische Bewegungen gegründet, teilweise haben sich Altparteien zu Parteienbündnisse neu organisiert. In Deutschland sehe ich genau diesen Trend auch wirksam werden. Die Stärke der Grünen basiert darauf, dass man einerseits die Grünen nicht mehr als besonders Links wahrnimmt, und andererseits dass die Grünen die Klimathematik aber auch klar ein starkes Europa traditionell auf ihrem Portfolio haben. Der regelrechte Sprung von der 10%-Partei zur 20%-Partei entspringt damit dieser veränderten Wahrnehmung der politischen Bedeutung von Themen. Dazu kommt, dass die Grünen faktisch als wichtige wenn nicht gar wichtigste Oppositionspartei gegenüber der Regierungspolitik wahrgenommen werden.
Die AFD verdankt ihren Erfolg auch dieser Neuausrichtung. Sie gewinnt Wähler, die einst als kleine Arbeiter oder Arbeitslose die SPD gewählt haben, und sie gewinnt Wähler, die Euro- und Klimaskeptisch unterwegs sind. Und das nicht nur vom Rand Rechts-Außen - sondern auch durchaus von SPD und CDU.
Macron mit seiner liberalen Bewegung in Frankreich, mit seiner klar Pro-Europäisch ausgerichteten Politik - ist dabei in Konsequenz aber auch faktisch den Grünen näher als der CDU oder der SPD - und in vielerlei Hinsicht auch näher als der heutigen FDP in Deutschland, die leider verschläft, dass man mit einer modernen Klimapolitik im liberalen Spektrum die Mitte erreichen kann.
In Irland gewinnen die Grünen Pro-Europäer, GB ist stark zersplittert und stärkt neue EU-Gegner und EU-Befürworter - aber straft die klassischen Parteien ab. In Italien gewinnen die Populisten - auch weil sie sich langsam aber sicher in Italien aus unterschiedlich zersplitterten Gruppierungen zu einer ganzheitlich populistischen Politik zusammenraufen.
Quer durch viele Länder Europas ist dieser Neu-Ausrichtungsprozess der politischen Landschaft in unterschiedlicher Reife zu bemerken.
Klassische Parteien, die diese deutliche Zäsur der Parteienlandschaft überleben wollen, müssen integrativ in der Lage sein, die neuen Themen in ihrem Themenkatalog glaubwürdig zu integrieren, und dabei möglichst nicht bestehende Wähler verschrecken, sondern eher neue Wählergruppen dazuzugewinnen. Parteien, die dies nicht schaffen, werden weiter schrumpfen - und neuen Bewegungen und Parteien Platz machen. Das kann in der deutlich volatileren Wählerschaft dabei auch schon mal dramatisch schnell gehen und binnen 5-10 Jahren ganze alte Politiklandschaften überflüssig werden lassen.
Wo diese Veränderung dereinst noch hin führt, ist noch unklar. Klar ist aber, dass Parteien, die jetzt noch kein klares Bild PRO- oder KONTRA Europa haben, es zukünftig immer schwerer haben werden. Klar ist auch, dass PArteien, die den Klimaschutz nicht ernst nehmen, insbesondere von jüngeren Menschen zunehmend weniger akzeptiert werden - sofern ausreichend Bildung vorhanden ist.
Nimmt man diesen neuen Kompass, kann man viele Veränderungen der Parteienlandschaft in den Ländern der EU der letzten 10 Jahre erklären. Ich gehe nicht davon aus, dass dies schon der Weisheit letzter Schluss ist - es ist aber ein Anfang eines Erklärungsversuches des Status Quo, wie wir ihn bei dieser Europawahl erleben konnten.
Ach ja - den Grünen Bashern hier, die dann doch meist dem überstarken AFD-Lager hier entstammen - empfehle ich dennoch sich zu überlegen, was das genau für die AFD heißt. WENN die AFD nicht als Minderheitenpartei für vielleicht 10-15% dauerhaft steckenbleiben will, dann MUSS sie sich beim Thema Klimapolitik bewegen, sonst wird sie für die Bildungsnähere jüngere Zielgruppe dauerhaft unattraktiv bleiben - mittelfristig würde sie dann sogar mit einer Ablöse durch eine noch gar nicht Existente Rechtspopulistische Partei mit Klimaschutzpolitik rechnen müssen.