Aus: Süddeutsche Zeitung vom 9.März 2009 Seite11 Feuilleton
Wir müssen die Systemfrage stellen
Über die Hilflosigkeit der Moral: Der attac-Kongress in Berlin
Eine Attac- Veranstaltung darf man sich nicht als einen Kongress
vorstellen, in dem es, wohl organisiert und fachlich strukturiert,
um die Erschließung eines bestimmten Themas geht. Die
Nicht-Regierungsorganisation (NGO) stellt nur den Raum und den
Rahmen zur Verfügung, den Ortsgruppen und Einzelpersonen
dann nutzen können. Und immerhin: etwa zweitausend Menschen
kamen, als Attac am vergangenen Wochenende zum Kongress
"Capitalism (No) Exit" an die TU Berlin rief. In rund hundert
Veranstaltungen widmeten sie sich der Frage nach der "Geldökonomie
und der Antwort buddhistischer Philosophie, Teil 2 ",
nüchternen Nachhilfestunden in Volkswirtschaft und ein paar hitzig
geführten Podiumsdiskussionen. "Das ist der größte Event seit
unseren Anfangsjahren ", erklärten die Veranstalter stolz und wollten
einen Aufbruch spüren, so wie in den letzten Jahren, als viele
Hunderttausend nach Seattle oder nach Genua kamen, um
gegen die "Globalisierung" zu protestieren. Allein - ist die Bedeutung,
die einer Besucherzahl zugeschrieben wird, nicht etwas sehr
Bedenkliches, wenn Gegenstand und Inhalt der Veranstaltung offenbar
völlig gleichgültig sind? Was soll so gut daran sein, dass man
irgendwie dagegen ist?
Wie sehr der Glaube, jede Art von Protest gegen das "System" sei
schon ein Schritt zu dessen Überwindung, oder besser: zu dessen
ultimativer Verbesserung, das Denken von Attac prägt, offenbart
schon das Logo der Veranstaltung: Das Kongress-Artwork zeigt
eine Piktogramm-Figur vor grünem Plastik, wie man sie von den
Notausgang-Schildern in Flugzeugen und öffentlichen Gebäuden kennt.
Der Kapitalismus als Flugzeugabsturz, Großbrand, Ausnahmezustand.
Die Krise des Finanzsystems, und die Unsicherheit und "bad vibes",
die sie hervorbringen, seien, so war immer wieder zu hören, "ein Schritt
in die richtige Richtung'< Auch die New Yorker Soziologin Saskia Sassen,
die bekannteste Gestalt auf dem Eröffnungspodium, war dieser Ansicht.
Die Krise sei die Bedingung der Veränderung. Wie fatal, wie zynisch
diese Logik ist, fiel offenbar niemandem auf: Wie viel Verelendung, wie
viel Armut, Hunger, Heimatlosigkeit braucht man, damit Attac erfreut
zur Kenntnis nehmen kann, dass die Voraussetzungen für den
Widerstand erfüllt sind? Während gleichzeitig, abgesehen von ein paar
wilden Protesten in Griechenland, keineswegs zu beobachten ist, dass
sich irgendwo ein Unwilleformiert.
Die Frage "Wer ist schuld?" lässt sich einfacher beantworten als die
nach dem "Warum" oder gar die nach dem "Was tun?". Und so kam es
bei den Veranstaltungen, die der "Analyse" gewidmet waren, zu
starken Meinungsverschiedenheiten, zum Beispiel unter den Teilnehmern
des Forums "Staatliche Steuerung im globalen Kapitalismus": Während
Peter Wahl, einer der Wortführer von Attac, die Krise darauf
zurückführte, dass der Globalisierung der Wirtschaft keine Globalisierung
der Kontrollmechanismen gefolgt war, sprach Norbert Trenkle, Redakteur
der Zeitschrift Krisis, von einer fundamentalen Krise des
"kapitalistischen Akkumulationsregimes" . Und meinte: "Wer behauptet,
dass die Krise ein Ergebnis politischer Entscheidungen ist, der sagt auch,
die Krise ist politisch lösbar, und hält am System fest." Derartige
Äußerungen wurden mit viel Applaus bedacht: "Wir müssen die
Systemfrage stellen" oder "Es muss zur Gegnerschaft ,aufgerufen
werden". Solchen Appellen aber wohnt etwas unfreiwillig Komisches
inne: Denn was bedeutet eine Aufforderung zur Aufforderung zu
einer Gegnerschaft, wenn nicht das Eingeständnis, keinen Grund
zu einer Gegnerschaft zu kennen - während man sich gleichzeitig
moralisch dazu verpflichtet fühlt?
Saskia Sassen, die die Krise und die "diabolische Intelligenz ihrer
Auslöser" mit humorvoller Anerkennung zu verfolgen scheint,
bemerkte schließlich: "Wir wollen keine Depression. Wir müssen immer
noch wohnen und essen." Nein, Attac ist keine revolutionäre Bewegung,
und am Ende allen scheinbaren Aufruhrs - die erfolgreichste
Erfindung von "Attac" ist sicherlich der eigene Name ¬ steht doch
immer wieder nur der Appell an dieselbe Politik und dieselben Instanzen der
Wirtschaft, ohne deren erfolgreiches Wirken auch die gegenwärtige
Krise nicht zustande gekommen wäre: So wurden die Transparenz
des Bankenrettungsfonds verlangt oder die Re-Regulierung
des Finanzsystems, Dinge also, die gegenwärtig jeder zweite Politiker
im Mund führt. Auf die Frage, was mit den Millionen Arbeitern der
Autofabriken und ihrer Zulieferbetriebe geschehen solle, hatten die
Aktivisten, die nun die ökologisch korrekte Abwicklung der
entsprechenden Industrie forderten, folglich keine Antwort.
Und selbst Norbert Trenkle konnte ihnen statt Lohnarbeit nur eine
"andere Form der sinnlich-stofflichen Partizipation anbieten". Das
wirkt, gelinge gesagt, schon sehr hilflos. Fast so hilflos wieder in allem
Ernst vorgetragene Vorschlag, sich angesichts der
Weltwirtschaftskrise wieder mit dem Nationalstaat
als Regulierungsinstrument anzufreunden, denn die
internationalen Institutionen wie IWF, UNO oder EU hätten
offensichtlich versagt. Aber vielleicht gehört auch diese Idee zur
seltsamen Logik von Attac, es müsse erst richtig schlimm werden, bevor
es besser werden könne.
TOBIAS MOORSTEDT