Was geschah am
6. November 1989
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Die DDR-Presse veröffentlicht die Entwürfe eines "Gesetzes über Reisen von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik in das Ausland" und einer dazugehörigen Durchführungsverordnung. Über diese Dokumente hat der DDR-Ministerrat bereits am 2. November 1989 beraten und sie "für die öffentliche Diskussion bestätigt", wie es in einer Pressemitteilung heißt. Die DDR-BürgerInnen sind aufgefordert, dem Ministerrat bis zum 30. November Vorschläge und Meinungen zu unterbreiten.
Das Gesetz gestattet allen Bewohnern der DDR, in das Ausland zu reisen; zu diesem Zweck sind Pass und Visum zu erwerben; Anträge sind bei der Polizei zu stellen, in dringenden Fällen beträgt die Bearbeitungszeit drei Tage, sonst in der Regel 30 Tage; die Reisegenehmigungen werden befristet; Entscheidungen treffen die Leiter Pass- und Meldewesen der Volkspolizei. Anträge für ständige Ausreisen aus der DDR sind an die Abteilungen Innere Angelegenheiten des zuständigen Rates des Kreises/Stadtbezirks zu richten, werden von dem jeweiligen Leiter innerhalb von drei Monaten, spätestens innerhalb von sechs Monaten entschieden. Ablehnende Entscheidungen sind schriftlich zu begründen; den Betroffenen steht das Rechtsmittel der Beschwerde zu.
In Leipzig findet die bis dahin machtvollste Montagsdemonstration statt. ADN nennt "Hunderttausende Leipziger und Bürger aus anderen Bezirken", das Hamburger Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" beziffert die Teilnehmer auf fast eine halbe Million. ADN berichtet u. a.:
"(...) In Sprechchören und auf Transparenten forderten sie weitere spürbare Veränderungen auf dem Wege einer demokratischen Erneuerung des Landes. Hauptaussagen ihrer Losungen waren unter anderem: 'Reisegesetz ohne Einschränkungen' und 'Schluss mit dem Führungsanspruch der SED - Verfassungsänderung Artikel 1!' Zwischen Oper und Gewandhaus ergriffen Arbeiter, Abgeordnete sowie Vertreter von Parteien, staatlichen Einrichtungen sowie dem Neuen Forum das Wort. Nicht erneut über Trennendes reden, sondern gemeinsam nach Wegen suchen, wie aus der Misere herauszukommen sei, verlangte der Leipziger Stadtverordnete Bernhard Knupp (SED). Das sei nur mit neuen Leuten in Partei und Staatsführung zu erreichen. In diesem Zusammenhang forderte der Abgeordnete den sofortigen Rücktritt von Politbüro und Regierung.
Immer wieder vom Ruf 'Wir sind das Volk!' begleitet, rief ein Arbeiter auf, mit dem Missbrauch der Macht Schluss zu machen. Nur durch eine direkt vom Volk gewählte Regierung könne Vertrauen wiedergewonnen werden. Ein weiterer Sprecher verlangte die Zurücknahme des neuen Reisegesetzentwurfes: 'Was nutzen Reiseerleichterungen mit einem Bettelsack auf dem Rücken?!' Gegen Missfallensbekundungen ankämpfend, versuchte sich der neu gewählte 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, Dr. Roland Wötzel, Gehör zu verschaffen. Das kleine zarte Pflänzchen, das in Leipzig erste Blüten getrieben habe, müsse weiter gedeihen, sagte er. Unter dem Beifall der Versammelten verlangte als Sprecher des Neuen Forum Pfarrer Martin Kind die Legalisierung dieser bisher nicht zugelassenen Gruppierung."
(BZ, 7.11.1989)
Nach Angaben des ČSSR-Innenministeriums sind von Sonnabend bis Montag 12 Uhr 23 200 DDR-BürgerInnen über die ČSSR in die BRD ausgereist. Nach Angaben von dpa passierten am Sonntag bis zu 300 Personen stündlich den oberfränkischen Grenzübergang Schirnding, bis Montagvormittag etwa 60 bis 70.
Die Kulturbundfraktion der Volkskammer übergibt ADN eine Erklärung, in der sie u. a. die unverzügliche Einberufung einer Volkskammertagung, die Abberufung des Ministerrates und Nominierung eines neuen Ministerratsvorsitzenden durch die SED entsprechend der Verfassung, Bildung eines Umwelt- und eines Wissenschaftsausschusses in der Volkskammer und die "Überprüfung des Verkaufs wertvoller Kulturgüter ins Ausland" fordert.
Auf einer Außerordentlichen Informationstagung des Bezirkstages Frankfurt (Oder) wendet sich der Abgeordnete Werner Menzel scharf dagegen, die Ursachen für den Rücktritt von Persönlichkeiten in der SED-Führung mit Erklärungen über gesundheitliche und persönliche Gründe zu bemänteln. Die Abgeordneten Gernot Alter (LDPD) und Werner Bahls (FDGB) verurteilen, dass auch im Bezirk Frankfurt Funktionäre in leitenden Positionen Privilegien wie den Bau von Villen für sich in Anspruch genommen hätten.
Es sei höchste Zeit, dass die Mitglieder der Volkskammer erfahren, wie die volkswirtschaftliche Bilanz aussehe, fordert der Vorsitzende der NDPD-Fraktion der Volkskammer, Günter Hartmann. "Die Regierung muss sich der Volkskammer stellen."
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