Der De-facto-Chefideologe
Dass ihm die Zuwanderung ein Graus sein würde, konnte bereits erfahren, wer im von der Springer-Presse zustimmend begleiteten Bestseller »Deutschland schafft sich ab« aus dem Jahr 2010 Äußerungen vorfand, gegen die [die] Gossenjournaille damals nichts einzuwenden hatte: Da ängstigte er sich vor einem »Anwachsen einer kulturell andersartigen Minderheit, deren Verwurzelung in der säkularen Gesellschaft mangelhaft ist, die nicht unsere Toleranzmaßstäbe hat und die sich stärker fortpflanzt als ihre Gastgesellschaft« und behauptete, »dass auch Erbfaktoren für das Versagen von Teilen der türkischen Bevölkerung im deutschen Schulsystem verantwortlich sind«.
Mit seiner klassisch rassistischen Rede von der rasanten Vermehrung genetisch Minderwertiger, die dem »Volkskörper« zusetzten, avancierte der besorgte Bürger Sarrazin zum De-facto-Chefideologen einer damals erst virtuell existierenden Rechtspartei, die allerdings anno 2016 ganz real in acht bzw. bald zehn Landtagen sitzt und längst schon, etwa von der FAZ, als respektabler Teil des Parteienladens der BRD behandelt wird, vorausgesetzt, sie wahrt (vorläufig) die nötigen Anstandsregeln.
Die »Alternative für Deutschland« erntet, was ein Sarrazin, aber auch andere in geistiger Niedertracht über Jahre gesät haben, auf einem Boden allerdings, der von einer (selbst als progressiv und antirassistisch präsentierten) Politik bereitet wurde, die dem Konkurrenzmechanismus innerhalb kapitalistischer Gesellschaften alle Fesseln genommen hat. Sarrazin, er sei hier ein letztes Mal als Beispiel elitärer Kanaille genannt, lieferte mit seinen Büchern die Bausteine nunmehr offizieller Parteiprogrammatik: die Sorge um die biologische Reinheit der Deutschen (»Deutschland schafft sich ab«), die Ablehnung der Gemeinschaftswährung (»Europa braucht den Euro nicht«), die Behauptung eines linksliberalen »Meinungskonformismus« (»Der neue Tugendterror«) und eben jüngst seine Generalabrechnung mit dem herrschenden Politikbetrieb (»Wunschdenken«). Dieses Schaffen durchzieht zudem durchgängig die Haltung eines sozialdarwinistischen »Survival of the Fittest«, die Menschen einzig nach ihrem ökonomischen Nutzwert beurteilt und die für die »arbeitsscheuen« Elenden und Armen nur Verachtung übrig hat, da es sich nach solchem Verständnis um unnütze Esser handelt.