Aus unserem Reflexionströööt Nr.906
Eine parlamentarische Demokratie ist nichts anderes als die
Erfindung schlauer geldschwerer Bürger nach der 1789er
Revolution in Frankreich. Sie wurde zu nichts anderem ins Leben
gerufen, als der Diktatur des Geldes, der Diktatur des
Finanzkapitals treu zu dienen.
~ Iphigenie
Hallo Aasgier,
Hier hab ich was über
Deine wundervolle Demokratie
Spiegel-Online vom 2.April 2009
Von Franz Walter
Im Herbst 2006 machte ein Begriff aus der Soziologie jäh Karriere:
Prekariat. Durch eine Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung
geriet für einige Wochen die Schicht ganz unten in der sozialen
Hierarchie ins Visier der Öffentlichkeit. Aber die Debatte verebbte
so schnell wie sie zuvor aufgekommen war. Hernach war vorwiegend
die Abstiegsangst der gesellschaftlichen Mitte ein Thema von Politik
und Publizistik. So ist es auch und gerade in der Krise des
Finanzkapitalismus geblieben.
Nun haben sich Heidelberger Lebensweltforscher und Göttinger
Politologen vor einigen Wochen wieder in die Milieus des unteren
Drittels der deutschen Gesellschaft begeben. Erfreuliche
Nachrichten sind von dort - natürlich - nicht zu vermelden. Die
Wut, aber mehr noch: Frustration und Resignation sind in den
vergangenen drei Jahren weiter gewachsen. Die Zeiten
eines hochqualifizierten, selbstbewussten, gar klassenkämpferischen
"Proletariats" sind offensichtlich auf immer vorbei. Die Menschen
im unteren Drittel sind mutlos, keineswegs zukunftsgewiss, sondern
voller Furcht vor dem, was noch kommen mag.
Die "kleinen Leute" im mittleren oder höheren Alter sind konservativ
in dem Sinne, dass ihr Fluchtpunkt stets die Verhältnisse von
"früher" sind. "Früher" - da galten sie und ihre Fähigkeiten noch
was. Früher, da kam man auch mit einem ordentlichen Volksschul-
oder Realschulabschluss weiter. "Heute muss man doch mindestens
Abitur haben, sonst brauchst Du Dich gar nicht erst vorzustellen" -
lautete die immerwährende Klage der Menschen in
prekären Lebensverhältnissen.
Mit dem Begriff der "Chance" können sie nichts anfangen. Auf
die Formel "Chance durch Bildung" reagieren sie gar wütend. Jeder
oder jede von ihnen, der/die - sagen wir - über 16 Jahre ist, erfasst
ganz realistisch, dass die Chancen-Bildungs-Gesellschaft für ihn
oder sie bedeutet, in den nächsten Jahrzehnten ohne Aussichten,
ohne Ansehen, erst recht ohne Möglichkeiten des Weiterkommens
zu bleiben. Denn Bildung war ja der Selektionshebel, der sie in
die Chancenlosigkeit hineinsortiert hatte. Bildung bedeutet für
sie infolgedessen das Erlebnis des Scheiterns, des
Nicht-Mithalten-Könnens, der Fremdbestimmung durch andere,
die mehr gelesen haben, besser reden können, gebildeter
aufzutreten vermögen.
Mehr Bildungschancen mag ein Rezept für ihre ganz kleinen oder
noch nicht geborenen Kinder sein - aber selbst daran glauben sie nicht.
Für sie selbst heißt die Konzentration staatlicher Anstrengungen auf
Bildung statt sozialer Transfers die Verfestigung von sozialer Labilität,
ja Marginalität. Ganz illusionslos sehen sie, dass es für sie nicht eine
einzige plausible Idee für ein sozial gesichertes und respektables
Leben in den nächsten Jahrzehnten gibt. Daher klammern sie sich
stärker als alle anderen Gruppen an den Staat. Zugleich aber
beschweren sie sich bitter über die Bürokratie, mit der sie bei
ihren täglichen Behördengängen zu tun bekommen, von der sie
sich gegängelt, überwacht, schikaniert fühlen.
Signifikant ist die dominante Fortschrittsangst. Der Fortschritt
bedeutet Bedrohung, übt einen permanenten Druck aus, den man
nicht zu bewältigen vermag, der hilflos und klein macht, der die
eigene Entbehrlichkeit und Nutzlosigkeit grell ausleuchtet. Auch
hier ist der pessimistische Fatalismus spürbar, das allgegenwärtige
Gefühl, die Dinge nicht mehr in der Hand zu haben, erst recht nicht
steuern zu können, weshalb sich gerade die überforderten
Unterschichten in ihre Refugien von Couch und Fernsehzimmer
zurückziehen, um ihre Hilflosigkeit nicht noch öffentlich preisgeben
und sich der Lächerlichkeit aussetzen zu müssen.
Bezeichnend an der Selbstinterpretation der unteren Schichten
ist, dass sie die schlimmste Zeit, die fatalsten Brüche in
ihrer Lebensgeschichte, in den achtziger und neunziger Jahren
verorten, als nicht nur die schon zuvor existente Arbeitslosigkeit
drückte, sondern als überdies die neuen Medien, die neuen
Technologien, die deutsche Einheit, die neue Währung, die
neuen Ansprüche im Geschlechter- und Familienverhältnis, die
Appelle zur fortwährenden Bildung ihnen auf den verschiedensten
Ebenen zusetzten. Mit einem Problem fertig zu werden, hätte
ihnen noch gelingen mögen. Doch nun bündelten sich die Wandlungen
und Zumutungen auf allen Seiten der Alltagsbewältigung.
Auch der Staat besitzt eine beschränkte Leistungsfähigkeit. Der
Soziologe Rainer M. Lepsius hat in anderer Angelegenheit darauf
hingewiesen, dass Nationen kaum dazu in der Lage sind, mit
sich überlappenden Basisproblemen, die sämtlich zeitgleich auftreten,
auf zivile Weise fertig zu werden.
Auch ein gut funktionierendes System kann in der Regel jeweils
nur ein Großproblem konstruktiv lösen, denn jede Organisation -
eben auch der Staat - besitzt eine beschränkte Leistungsfähigkeit.
Für die mit kulturellen Ressourcen minderausgestatteten Unten-Milieus
gilt das erst recht.
Fatale Furcht ergreift die ewigen Verlierer
Von Franz Walter
2. Teil: Das Können älterer Menschen verlor irgendwann an
Wert Politiker bilden für diese Gruppen eine hermetisch abgeschlossene
Kaste, die vom Volk nichts weiß, die quasi hinter Mauern lebt und
sich auf Kosten des Steuerzahlers mit teuren Delikatessen ein
angenehmes Leben macht. Bemerkenswert allerdings ist, dass
viele aus den vernachlässigten sozialen Souterrains, die schon
einmal einen Politiker "live" begegnet sind, diesen - aber eben nur
diesen - als "sympathisch", "normal geblieben", "verständnisvoll"
empfanden. Ansonsten sind es bestenfalls Politiker wie Merz,
Clement, mitunter auch Westerwelle, denen Lob zuteil wird,
weil sie sich nicht "verbiegen" lassen, "echt" und "ehrlich" agieren,
die Dinge "aussprechen", wie sie sind. Nun verkörpern diese drei
Politiker bekanntlich nicht die staatliche Schutzmacht der kleinen
Leute. Die Bruce-Willis-Haltung also scheint zugkräftiger als die
wackere Sozialstaatlichkeit etwa der Schreiners oder Blüms.
Bezeichnend ist, dass man in den jüngeren Teilen des "neuen
Unten" überhaupt nur noch den politischen Typus akzeptiert,
der mit Geradlinigkeit verbunden wird, die politische Spezies des
"lonesome cowboys" gleichsam, der sich auch durch
Abstrafungsaktionen oder gar Ausschlussandrohungen von oben
nicht einschüchtern lässt.
Es ist der Typus des harten Mannes, der ohne Schleimereien und
ohne Parteipatronage "seinen Weg geht", "für etwas steht",
seiner Sache "nicht untreu" wird. Darin spiegelt sich nicht nur das
in der Tat große Bedürfnis nach Politikern, die wirklich machen, was
sie sagen. Die einen also nicht - wie so viele andere im bisherigen
Leben - enttäuschen, betrügen oder verraten, sondern die
Hoffnungen aufrechterhalten, dass man es doch schaffen kann:
mit Trotz und Eigensinn.
Bedrückend ist die Bilanz, die von älteren Menschen der
"kleine-Leute-Milieus" gezogen wird. Sie haben in der Regel hart
gearbeitet, waren sparsam und nachhaltig. Sie haben Kinder in die
Welt gesetzt und versucht, aus ihnen ordentliche Menschen zu
machen. Sie haben rechtschaffen und fleißig
gelebt. Aber irgendwann vor rund 20 Jahren verloren ihre
einfachen Bildungsabschlüsse, ihre manuellen beruflichen Fertigkeiten
und ihre traditionell geprägten biografischen Erfahrungen an Wert,
jedenfalls im Ansehen derjenigen, die gesellschaftlich jetzt den Ton
angaben und seither dominant definierten, was als "Leistung" zu
gelten habe und was nicht.
Das Leben und die Arbeit der früheren Schreiner, Tischler,
Bergarbeiter, Hausfrauen und Näherinnen wurde so
aus der "Leistungsgesellschaft" der postindustriellen Eliten verbannt.
Seither ist an der früheren, alt gewordenen Basis der
arbeitsamen Industriegesellschaft eine Verbitterung zurückgeblieben,
die auch die Erosion der Volksparteien in Teilen erklärt. Denn diese
waren nicht mehr die Schutzmächte der "kleinen Leute", als die
sie ursprünglich Stimmen gesammelt hatten.
grüße
Iphi