Das kommt immer ganz darauf an, wann und wo gewählt wird und wer die Zufriedenheit beurteilt.
(Nur als Beispiel: ) Die hohe Wahlbeteiligung in der DDR und das Wahlergebnis wurden m.W. in den dortigen Medien stets als Ausdruck von Zufriedenheit gedeutet. Wenn man mit Leuten sprach, die dort gewählt hatten, konnte man einen anderen Eindruck gewinnen, wenn sie verächtlich davon sprachen, dass sie "falten gegegangen" sind.
Die niedrige Wahlbeteiligung jetzt in Russland wird auch unterschiedlich beurteilt. Manche deuten sie als Zufriedenheit, andere als "egal" und wieder andere weisen darauf hin, dass sie weit höher war, als zuvor erwartet, und noch andere weisen auf die Vorfälle hin, die jetzt von den zuständigen Strafverfolgungsbehörden untersucht werden, weil vor laufender TV-Kamera massenhaft Wahlzettel in die Urne gestopft worden sein sollen und "Wahlhelfer" angeblich von Wahllokal zu Wahllokal gefahren sein und jedes mal gewählt haben sollen.
Du bringst es auf den Punkt. Ohne die äußeren Umstände genau zu kennen, lässt sich die Sachlage kaum realistisch bewerten. Man darf auf keinen Fall vergessen, dass Russland ein riesiges Land in einer Phase großer Veränderungen und regional gänzlich unterschiedlicher Stabilität ist. Das Video, in dem Wahlzettel in Urnen gestopft werden, ist ein bekannter Vorfall, es gibt aber auch weniger offensichtliche und noch viel aussagekräftigere. Beispielsweise erhielt die Partei Einiges Russland in der Oblast Saratow in über 100 Städten exakt 61,4% der Stimmen, was offiziell auf einen "mathematischen Zufall" geschoben worden ist. In Tschetschenien hat Einiges Russland 99,8% der Stimmen erhalten, 2011 waren es 99,95%. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wirklich Wahlen durchgeführt worden sind, bei denen zig Parteien zur Auswahl standen und von 2000 Personen nur
eine sich für eine andere Partei als Einiges Russland entschieden hat.
Die Wahl erfüllte sicherlich demokratische Standards, aber das heißt nicht, dass sie repräsentativ für die Meinung des Volkes ist. In Meinungsumfragen wird zwar deutlich, wie beliebt Putin und seine Partei in Russland sind und wie loyal das russische Volk hinter Putins Kurs steht, deswegen ist kaum denkbar, dass eine pro-westliche Oppositionspartei hätte ins Parlament einziehen können, aber um die geht es auch gar nicht. Es geht um die KPRF. Diese wird seit jeher mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft, Jelzin beschießt in seinem blauen Wahn das Parlament, in das die demokratisch gewählte KPRF-Regierung soeben eingezogen ist, ohne jedoch schon die Kontrolle über die Streitkräfte erlangt zu haben, was für die meisten Abgeordneten den Tod bedeutet hat. Putin ist aber wesentlich intelligenter als Jelzin es je war und spielt in einer ganz anderen Klasse. Er hat erkannt, wie delikat der Umstand des russischen Patriotismus und Selbstverständnisses in Bezug auf die Sowjetunion ist und hält diesen durch gezielte, wirksame und doch unscheinbare Eingriffe im Zaun. Das beginnt bei Wahlfälschung an den Stellen, wo sie nicht bis zu ihm zurückverfolgt werden kann, geht über die Gründung der Partei Rodina, die der KPRF stimmen abziehen sollte und endet bei seinem Geniestreich, dem Aufflammen des Patriotismus in Bezug auf Russland, nicht (mehr) auf die Errungenschaften der Sowjetunion. Er propagiert, dass Russland das "größte geteilte Land der Welt" ist und sät den Traum vom Russischen Imperium, prägt den Russischen Streitkräften die Rolle des globalen Kämpfers für den Frieden auf und macht, dass die ganze Welt von Russland spricht.
Es ist aussichtslos, gegen den Willen eines Volkes anzukämpfen. Aber wenn der Wille desselben so unbestimmt ist, wenn Russisches Imperium und die Sowjetunion in einen Topf geworfen werden, wenn imperiale Fahnen und rote Sterne auf der gleichen Demo zu sehen sind, dann ist das Potenzial da, auf den russischen Weg zurückzufinden, von dem es schon Jahrzehnte abgekommen ist.
Aber es gibt Hoffnung - denn es hat Brotkrumen verstreut.