Du solltest dich trotzdem schämen und die Missstände in der Türkei offen ansprechen.
Bericht im FOCUS:
Nur ein paar Fetzen waren es, die Gerichtsmediziner im osttürkischen Malatya am 18. April in ihrem Hinterhof zum Trocknen aufhängten: die blutgetränkten Überreste der Hemden und Hosen, mit denen der Deutsche Tilman Geske, 46, und der türkische Pastor Necati Aydin, 35, bekleidet waren, als sie an jenem Morgen zu einer Bibelstunde ins christliche Verlagshaus Zirve gingen. Während ihr Blut aus den Stoffresten tropfte, kämpften Ärzte am Krankenhaus von Malatya noch um das Leben von Ugur Yüksel, der ebenfalls zur Bibelstunde gekommen war. 51 Einheiten Blut pumpten die Mediziner in Yüksels zerhackten Körper. Aber vergeblich: Drei Stunden später starb auch Yüksel an seinen Verletzungen.
Regelrecht „zerstückelt“ worden seien die drei Christen, berichtete der Krankenhausarzt Murat Ugras erschüttert. Die Autopsieberichte untermauern seine Schilderungen: Den Männern sollen bei lebendigem Leib und vollem Bewusstsein die Hoden und der After aufgeschlitzt, Nasen und Münder zerschnitten, Bäuche und Innereien aufgeschnitten und die Finger einzeln und bis auf die Knochen zerhackt worden sein, berichteten türkische Zeitungen. Erst nach stundenlanger grausamer Folter wurden den Opfern die Kehlen durchgeschnitten.
Gut ein halbes Jahr später beginnt am 23. November der Prozess gegen fünf junge Männer aus Malatya, die das Massaker geplant und ausgeführt haben sollen, und zwei mutmaßliche Mitwisser. Nicht nur Mord, sondern auch einen Terroranschlag wirft die Staatsanwaltschaft den 19- bis 20-jährigen Hauptangeklagten vor, die sich unter dem Vorwand religiösen Interesses in die kleine protestantische Gemeinde von Malatya eingeschlichen hatten, um die Christen zu töten. Lebenslange Haft mit erschwerten Bedingungen fordert die Anklage für Rädelsführer Emre Günaydin und zwei seiner Mittäter.
Daran, dass Christen in der Türkei gefährlich leben, würde ein solches Urteil aber nichts ändern. Keiner weiß das besser als der deutsche Pastor Wolfgang Häde, der das nächste Opfer der Killer von Malatya hätte werden sollen. Der 49-jährige Protestant aus Nordhessen lebt seit sechs Jahren mit seiner türkischen Frau und kleinen Tochter in Izmit, im Westen des Landes. Nach einem Bericht des türkischen Fernsehsenders NTV, der sich die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft von Malatya bereits verschaffen konnte, soll Günaydin schon bei seiner ersten Vernehmung ausgesagt haben: „Nach der Aktion im Bibelhaus wollte ich Pastor Wolfgang Häde in Izmit umbringen.“ Die Ermordung von Häde, der mit dem ermordeten Necati Aydin verschwägert ist, sei das eigentliche Ziel der Christen-Mörder gewesen, denen das Massaker von Malatya nur als Auftakt galt, heißt es dort.
Dass die Täter von Malatya hinter Schloss und Riegel sitzen, kann für Wolfgang Häde nur ein schwacher Trost sein. Denn sie sind nicht allein: Bereits im Juli, rund drei Monate nach ihrer Verhaftung, schnappte die Polizei in Izmit eine Bande von 28 Männern mit Verbindung zu den rechtsextremen Türkischen Rachebrigaden, die ebenfalls einen Mordanschlag auf Häde geplant hatten. Auch zahlreiche Waffen wurden beschlagnahmt.
Seit der Bluttat von Malatya steht Häde unter Polizeischutz. Als „menschlich sehr angenehm“ beschreibt er den Leibwächter, den die Polizei von Izmit ihm zugeteilt hat und der „seine Aufgabe sehr ernst nimmt“.
Die Angriffe, denen seine kleine Kirche in Izmit schon seit Jahren ausgesetzt ist, kann allerdings auch der beste Leibwächter nicht verhindern: Erst vor einigen Wochen wurde nachts wieder Feuer gelegt. Der Brandstifter feuerte vor dem Kirchentor mit einer Pistole in die Luft. Solche Drohungen verfehlen nicht ihre Wirkung: Aus Malatya sind inzwischen die meisten christlichen Familien weggezogen. „Wir sind nicht besonders heldenhaft und haben manchmal auch Angst“, räumt Häde ein. „Aber für mich ist entscheidend, dass ich weiß, wo Gott mich hingestellt hat.“ Solange es Gottes Wille sei, werde er in Izmit bleiben.
Mehr noch als die angestammten orthodoxen Christen der Türkei sind die Protestanten der Wahnvorstellung türkischer Rechtsextremisten ausgesetzt, dass es sich bei ihnen um Agenten fremder Mächte handele, die das Land unterwandern. Denn im Gegensatz zu orthodoxen Armeniern und Griechen oder zu Katholiken handelt es sich bei ihnen überwiegend um Konvertiten vom Islam. „Ein Muslim, der Christ wird, erscheint vielen hier noch als Schande“, sagt Häde, der es bezeichnend findet, dass sich bei der Witwe des türkischen Pastors Aydin – im Gegensatz zur deutschen Familie Geske – kein Regierungsvertreter zum Beileidsbesuch einfand.
Von dem Prozess in Malatya erhoffen sich die Protestanten, „dass die Wahrheit ans Tageslicht kommt“, wie Hädes Schwägerin Semse Aydin sagt, die Witwe des ermordeten Pastors von Malatya. Aber was die Aussichten auf volle Aufklärung angeht, sind die Angehörigen äußerst skeptisch. „Es ist schon jetzt klar, dass dieser Prozess die eigentlichen Verantwortlichen nicht benennen wird“, meint der Anwalt der Familie Geske, Ibrahim Kali.
Das bisherige Gebaren der Justizbehörden gibt den Hinterbliebenen nicht viel Hoffnung: So wurde etwa der Witwe Semse Aydin die Einsicht in den Autopsiebericht ihres ermordeten Mannes und andere Ermittlungsakten verweigert, weil es sich um ein Terrordelikt handele, das der Geheimhaltung unterliege. Nur wenige Tage später konnten türkische Zeitungen umfangreiche Passagen aus den Vernehmungsprotokollen abdrucken.