Ist es ein Junge? Oder ein Mädchen? Nein, es ist schlicht Elisabeth Müller. Die Schenefelder Kirchenmusikerin passt weder in die Schublade Mann noch Frau hinein, denn sie ist ein Hermaphrodit, ein Zwitter. Eine Tatsache, von der die heute 48-Jährige erst im Alter von 16 Jahren erfuhr - und zwar von einem Psychiater. Mit ihren Eltern hatte sie zuvor nie über das Thema gesprochen. Zwar hatten ihre Eltern ihr gesagt, sie könne sie alles fragen - aber das Mädchen wusste nicht wonach.
Müller wuchs in einem kleinen Dorf in Norddeutschland auf. Für Freunde und Nachbarn war sie einfach ein kleines Mädchen. Doch etwas war anders, das spürte sie. Einmal pro Jahr musste Müller ins Hamburger Universitätskrankenhaus in Eppendorf (UKE). Sie wurde untersucht, abgetastet. Für die Heranwachsende eine fürchterliche Prozedur. Erst Jahre später wurde ihr erklärt, warum sie in die Klinik musste: Elisabeth Müller sieht zwar aus wie eine Mädchen. Allerdings kam sie nicht nur mit den weiblichen Geschlechtsmerkmalen auf die Welt, sondern sie verfügt auch über den männlichen XY-Chromosomensatz.
Sie ist ein gefragter Zwitter
"Das weibliche Äußere ist Folge einer Androgenresistenz", erklärt die Musikerin, so wie sie es schon hunderte Male getan hat. Davon zeugen die Berichte und TV-Reportagen, die sie in den Regalen um ihren Schreibtisch herum aufbewahrt. Müller ist ein gefragter Zwitter. Ob "Spiegel", "Zeit" oder "Stern TV" - alle klopften bei der Schenefelderin an die Tür. Denn Müller gehörte zu den ersten fünf Zwittern in Deutschland, die sich mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit wagten. Das ist zehn Jahre her.
Heute kämpft Müller um die Anerkennung in einer Zweiklassengesellschaft, die nicht einmal grammatikalisch gesehen Platz für sie hat: Ist sie Sängerin oder Sänger?
Die Organistin kramt einen Brief hervor, auf den sie sehr stolz ist. Der Schreiber verzichtet auf das obligatorische Herr oder Frau. Was die einen unhöflich finden, freut die Schenefelderin. Es ist ein Teilerfolg in ihrem Kampf um einen Platz in dieser Gesellschaft, in der es nur männlich oder weiblich gibt. "Auf einer Ikea-Rechnung stand sogar Hermaphrodit Müller", erzählt sie und reckt das Kinn stolz vor.
Nicht alle ihrer Versuche, sich zu positionieren, sind so erfolgreich verlaufen. Ein Mitarbeiter eines Beerdigungsinstituts beschwerte sich bei der Kirchengemeinde, ihrem Arbeitgeber, "über die Verrückte". "Manchmal denke ich, die Zeit ist noch nicht reif", sagt Müller nachdenklich.
Stammtisch der XY-Frauen
In Deutschland leben nach Schätzungen etwa 100.000 Zwitter. Einige dieser Intersexuellen haben sich in Gruppen zusammengetan. Müller besucht regelmäßig den Stammtisch der XY-Frauen. Sie alle haben wie Müller eine Androgenresistenz, die ihre männlichen Hormone blockierte. Dadurch bildete sich bei dem Embryo kein Samenleiter, sondern eine kurze Vagina aus. Gebärmutter und Eierstöcke fehlen. Müller kann keine Kinder bekommen. Äußerlich eine Frau, verbargen sich in der Leistengegend allerdings bei ihrer Geburt kaum sichtbare Hoden. Die wurden ihr im Alter von 24 Jahren auf Anraten eines Arztes entfernt.
Körperliches Martyrium
"Ein widerliches Pack", sagt Müller. Sie hasst Mediziner. Nachdem die funktionierenden Hoden wegen angeblich drohender Krebsgefahr entfernt wurden, begann für die Schenefelderin ein körperliches Martyrium. Die Operation und die anschließende Behandlung mit körperfremden weiblichen Hormonen machten sie krank. "Ich litt unter schweren Depressionen, Stoffwechselproblemen. Ich bekam Östrogene, das führt zu Osteoporose. Ich war chronisch krank." Nach der Kastration fällt sie in ein Loch. Aus ihrem Tief befreit sie sich selbst. Nach sieben Jahren setzt sie die Östrogene einfach ab und nimmt männliche Hormone. Körperlich geht es ihr besser. Seelisch nicht.
An Selbstmord denkt sie aber nie - anders als viele ihrer Leidensgenoss Innen. Warum? Das weiß sie nicht so genau. "Vielleicht, weil ich es durch mein eindeutiges Äußeres leichter hatte als andere Zwitter." Vielleicht, weil sie auch seit 16 Jahren einen Partner an ihrer Seite hat, der sie unterstützt. "Das Geschlecht ist doch wirklich das Unwichtigste an einem Menschen. Wir laufen doch nicht unbekleidet durch die Gegend", sagt sie. Dieses Selbstbewusstsein hat sich Müller hart erarbeitet. Wie?
1992 beginnt sie, bei Ralf Schwarz Gesang zu studieren. "Es heißt nicht umsonst, singen befreit", erklärt die Organistin. "Singen ist eine sehr körperbetonte Sache, und es geht an die Persönlichkeit. Wer traurig ist oder Angst hat, hört auf zu atmen. Für mich war es sehr schwierig, ich musste lernen, mich mit mir selbst auseinander zu setzen." Als sie damit anfing, habe sie Rotz und Wasser geweint. Doch langsam habe sie erkannt, was sie heute ganz genau weiß: "Gott erschuf den Mann, die Frau und mich, und er hat mich so für gut befunden."