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Anthologie deutschsprachiger Lyrik

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I

Iphigenie

Hier soll Lyrik in deutscher Sprache Eingang finden.

Selbstverständlich gilt das auch für Lyrik, die aus anderen Sprachen ins Deutsche übertragen wurde. In solch einem Fall kann neben der deutschen Übersetzung auch die Originalfassung wiedergegeben werden.

Für politische Lyrik gibt es einen eigenständigen Faden.

Appropos Anthologie. Anthologie kommt aus dem Griechischen und bedeutet Blütenlese. Anthos ist die Blume.
 
OP
I

Iphigenie

[COLOR="Sienna"]Das Spiegelbild [/COLOR]

Schaust du mich an aus dem Kristall,
Mit deiner Augen Nebelball,
Kometen gleich die im Verbleichen;
Mit Zügen, worin wunderlich
Zwei Seelen wie Spione sich
Umschleichen, ja, dann flüstre ich:
Phantom, du bist nicht meinesgleichen!

Bist nur entschlüpft der Träume Hut
Zu eisen mir das warme Blut,
Die dunkle Locke mir zu blassen;
Und dennoch, dämmerndes Gesicht,
Drin seltsam spielt ein Doppellicht,
Trätest du vor, ich weiß es nicht,
Würd’ ich dich lieben oder hassen?

Zu deiner Stirne Herrscherthron,
Wo die Gedanken leisten Fron
Wie Knechte, würd’ ich schüchtern blicken;
Doch von des Auges kaltem Glast,
Voll toten Lichts, gebrochen fast,
Gespenstig, würd’, ein scheuer Gast,
Weit, weit ich meinen Schemel rücken.

Und was den Mund umspielt so lind,
So weich und hilflos wie ein Kind,
Das möchte’ in treue Hut ich bergen;
Und wieder, wenn er höhnend spielt,
Wie von gspanntem Bogen zielt,
Wenn leis’ es durch die Züge wühlt,
Dann möchte’ ich fliehen wie vor Schergen.

Es ist gewiß, du bist nicht Ich,
Ein fremdes Dasein, dem ich mich
Wie Moses nahe unbeschuhet,
Voll Kräfte, die mir nicht bewuß,
Voll fremden Leides , fremder Lust;
Gnade mir Gott, wenn in der Brust
Mir schlummernd deine Seele ruhet!

Und dennoch fühl’ ich, wie verwandt,
Zu deinen Schauern mich gebannt,
Und Liebe muß der Furcht sich einen.
Ja trätest aus Kristalles Rund,
Phantom, du lebend auf den Grund,
Nur leise zittern würd’ ich, und
Mich dünkt – ich würde um mich weinen.

~ Annette von Droste – Hülshoff (1797-1848) deutsche Dichterin
 
OP
I

Iphigenie

[COLOR="Sienna"](ohne Titel) [/COLOR]

Aus Angst
vor den Höhen und Tiefen
eines sinnlichen,
besinnlichen
und sinnreichen Lebens
pflegen
viel zu viele
sicherheitshalber
ebenerdig
zu denken
und zu fühlen,
zu leben
und zu lieben.

Ernst Ferstl, (*1955), österreichischer Lehrer, Dichter und Aphoristiker
 
OP
I

Iphigenie

Weltreise

Am Samstag auf der Toilette, so gegen Vier
erreichte mich ein Gruß von dir;
denn als ich grad beim Pinkeln war,
entdeckte ich dein schönes blonde Haar,
ich zog daran, so fein, gar zart,
lag es so tief in meinem Haar verwahrt.

Ich sah es an
Ein Lachen flog mir in den Sinn.
Und fragte dann: „Wie kommst n’ du dahin?“
- Es habe so die letzte Nacht
in deinen Kleidern zugebracht
und als es dann begann zu tagen,
sei es ein Stockwerk tiefer aufgewacht,
weil deine Kleider halt auf meinen lagen.

Da war es nun. Was sollt’ ich tun?
Es einfach auf die Erde schmeißen?
Das war mir etwas zu perfid,
viel lieber schickte ich’s auf Reisen,
damit es was vom Erdball sieht.

So warf ich’s denn hinein ins Klo
Und spülte weg das feine.
Und morgen schwimmt es ganz bestimmt
Im alten Vater Rheine.
Und wenn es dann noch Puste hat,
dann wär ich schrecklich froh,
erreichte es im nächsten Jahr
die Insel Borneo.

~ Iphigenie
 
OP
I

Iphigenie

[COLOR="Sienna"]Morgue[/COLOR]

Ich bin tot
Du bist tot
Wir alle sind tot
Aber manchmal
So zaghaft
So ganz verstohlen
So ganz tief innen drin
Schreien Lebenszeichen
Einfach so
Mittendrin in unseren Leichen
Und vor Schreck
Schlagen wir erstaunt
Unsere alten Kinderaugen auf
Und spür’n
Kurz unter der Haut
Die meterdicken Betonwände
So mühsam aufgebaut…..

Und ein Keimen, ein Nagen
Ein Reißen ein Wagen
Sprengt feine Haarrisse
Durch Wände und Poren
Bahnt Wege zum Licht
Um blühen zu können
Und mit Zuversicht
Erheben sich
Tausend Liebessehnsuchtsblumen
Wie Phönix aus der Asche
Aber weil wir fürchten…
Jemand könnte sie schmähn
Sich lustig machen
Und schadenfroh zertreten
Zertreten wir sie
Und bedecken
Die Wunden unserer Leichen
Mit Phrasen und Unaufrichtigkeiten.

~ Iphigenie​
 
OP
T

Turandot

[COLOR="SandyBrown"]tagesrest [/COLOR]


ein tiefweiblicher reim
hängt in den blattspitzen
wie ein vergesser tropfen tau

durch das fenster ist alles verheißungsvoll
eine gemusterte tischdecke
oder eine gefährdete ehe

sehnsucht ist ziellos wie atem
das einzige was wir von ihr wissen
ist dass sie nachts tanzt




von: Turandot
 
OP
I

Iphigenie

[COLOR="Sienna"]
Collin und Juliette
[/COLOR]

Im süßen Duft der Rosen
lag Schäfer Collinet
und machte seiner losen
Geliebten ein Bouquet
und etwas andres noch -
ich wag es nicht zu sagen –
und etwas andres noch:
Wer wird nach allem fragen?

Fein züchtig, wie es Sitte,
sprach er mit ihr, allein
bald mischte als der Dritte
sich Cypripor darein
und etwas andres noch -
ich wag es nicht zu sagen –
und etwas andres noch:
Wer wird nach allem fragen?

Ich fühle deine Nähe,
du kleiner Göttersohn,
Dank, Amor, Dank! Ich sehe,
dein Szepter winkt mir schon
und etwas andres noch -
ich wag es nicht zu sagen –
und etwas andres noch:
Wer wird nach allem fragen?

O Dank für diese Stunde !
Sie führet zum Genuß,
verspricht von diesem Munde
mir einen Wonnekuß
und etwas andres noch -
ich wag es nicht zu sagen –
¬und etwas andres noch:
Wer wird nach allem fragen?

So dacht' er - naht dem Weibchen
sich schnell, von Liebe warm,
umfaßt das zarte Leibchen,
den Alabasterarm
und etwas andres noch-
ich wag es nicht zu sagen-
und etwas andres noch:
Wer wird nach allem fragen?

»Nimm diese Blumenkette!«
rief er. »Ich flocht sie dir;
doch dafür, Juliette,
gewähr ein Mäulchen mir
und etwas andres noch-
¬ich wag es nicht zu sagen-
¬und etwas andres noch:
Wer wird nach allem fragen?«

Drauf legt er sie geschwinde
auf weichen Rasen hin,
berührt dem lieben Kinde
das anmutsvolle Kinn
und etwas andres noch-
ich wag es nicht zu sagen –
und etwas andres noch:
Wer wird nach allem fragen?

Sie widerstrebt, er ringet,
siegt - eilet zum Genuß,
in Rosenlippen dringet
ein feuervoller Kuß
und etwas andres noch –
ich wag es nicht zu sagen –
und etwas andres noch:
Wer wird nach allem fragen?

»0 Collinl« rief entzücket
die schöne Schäferin.
»Wie hast du mich beglücket,
ich fühle Wonnesinn
und etwas andres noch –
ich wag es nicht zu sagen-
und etwas andres noch:
Wer wird nach allem fragen?

Ach, meine Augen brechen
vor lauter Seligkeit;
wie groß, nicht auszusprechen
ist deine Zärtlichkeit
und etwas andres noch -
ich wag es nicht zu sagen –
und etwas andres noch:
Wer wird nach allem fragen?«

Des Schäfers banges Sehnen
ist nun gestillt. Es floß
ein Strom von Freudentränen
in der Geliebten Schoß
und etwas andres noch -
ich wag es nicht zu sagen-
und etwas andres noch:
Wer wird nach allem fragen?

Sie trieben Scherz und Possen,
bis süßer Schlaf sie band,
die Augen fest geschlossen,
hielt eins des andern Hand
und etwas anderes noch-
ich wag es nicht zu sagen-
und etwas anderes noch:
Wer wird nach allem fragen?

~ Gottfried August Bürger (1748-1794) deutscher Dichter
 
OP
I

Iphigenie

[COLOR="Sienna"]Seit 1000 langen Nächten....[/COLOR]

Seit 1000 langen Nächten, hab's versucht, mir vorgestellt
Bin 1000 Mal gestrandet und 1000 Mal zerschellt
Mit 1000 Worten nicht getroffen, was ich sagen will
Bin 1000 Schritte weiter, doch das ist nicht viel

Über jede meiner Tränen hab ich auch gelacht
Ich wollte endlos schlafen, bin trotzdem aufgewacht

Und jedes Mal wurden Tage etwas schwerer
Und jedes Mal wurden Träume etwas leerer
Und jedes Mal wurden Nächte etwas länger
Und jedes Mal...

Ich bin 1000 Mal gestorben und genauso oft geborn
Hab 1000fach gebrochen, und hat´s jedes mal geschworn
Hab viel zu oft gezweifelt, obwohl ich sicher war
und war ich mir zu sicher, war wieder Zweifel da

Über jede meiner Tränen hab ich auch gelacht
Ich wollte endlos schlafen, und bin trotzdem aufgewacht

Und jedes Mal wurden Tage etwas schwerer
Und jedes Mal wurden Träume etwas leerer
Und jedes Mal wurden Nächte etwas länger
Und jedes Mal...

Tage etwas schwerer,
Träume etwas leerer,
Nächte etwas länger,
Winter etwas strenger.

Jedes Mal

Quelle: Unbekannt
 
OP
I

Iphigenie

[COLOR="Sienna"]Mag sein, daß des Lebens Not...[/COLOR]


Mag sein, daß des Lebens Not eines Tages zu Ende geht;
wenn du sterben solltest. Ich weiß es nicht,
doch ich glaube, du neigst dazu, vor dem Tod
zu erschrecken. Mir ist, als sähest du,
solange du lebst, nur die Hand, die dir dunkel scheint,
und kaum je den helleren Kelch, den sie dir bieten mag.
Niemand weiß es. Ebenso weicht vielleicht dein Herz
vor der Liebe zurück, fast so, als wäre sie
eine Bedrohung, eine Art Untergang,
der dir bevorstünde. Möglich ist es ja,
daß dich, wo sie erwacht, eine Ahnung heimsucht,
als könnte es mit deinem Ich zu Ende gehn,
ein vages Gefühl, als verlöre es seine Macht,
die dir in einem solchen Augenblick vorkommen mag,
als sei sie dunkel, als beherrsche sie dich.
Ich weiß es nicht; doch ich frage mich manchmal,
ob dich dann nicht der Wunsch beschleicht,
dieses Ich zu verlieren, und der Gedanke,
daß die Dunkelheit nur eine Zeitlang anhalten wird,
und daß dein Atem - wer kann das wissenl - sogar
freier ginge - verzeih, ich vermute es nur -,
wenn dir am Ende ein anderer Tag bevorstünde,
heller vielleicht - was weiß ich - als der heutige.

~ Andreas Thalmeyer
 
OP
I

Iphigenie

[COLOR="Sienna"]Der Mensch[/COLOR]

Empfangen und genähret
Vom Weibe wunderbar,
Kömmt er und sieht und höret,
Und nimmt des Trugs nicht wahr;
Gelüstet und begehret,
Und bringt sein Tränlein dar;
Verachtet, und verehret;
Hat Freude, und Gefahr;
Glaubt, zweifelt, wähnt und lehret,
Hält nichts und alles wahr; Erbauet, und zerstöret;
Und quält sich immerdar;
Schläft, wachet, wächst, und zehret;
Trägt braun und graues Haar.
Und alles dieses währet,
Wenn's hoch kommt, achtzig Jahr.
Denn legt er sich zu seinen Vätern nieder,
Und er kömmt nimmer wieder.

~ Matthias Claudius (1740-1815) deutscher Dichter
 
OP
I

Iphigenie

[COLOR="Sienna"]Sonnets From The Portuguese[/COLOR]


How do I love thee? Let me count the ways.
I love thee to the depth and breadth and height
My soul can reach, when feeling out of sight
For the ends of Being and ideal Grace.

I love thee to the level of everyday' s
Most quiet need, by sun and candlelight.
I love thee freely, as men strive for Right;
I love thee purely, as they turn from Praise.

I love thee with the passion put to use
In my old griefs, and with my childhood's faith.
I love thee with a love I seemed to lose

With my lost saints, - I love thee with the breath,
Smiles, tears, of all my life! - and, if God choose,
I shall but love thee better after death.

~ Elizabeth Barrett –Browning (1806-1861) englische Dichterin


und in der Übersetzung von [COLOR="Red"]Rainer Maria Rilke[/COLOR]


Sonette aus dem Portugiesischen

WIE ich dich liebe? Laß mich zählen wie.
Ich liebe dich so tief, so hoch, so weit,
als meine Seele blindlings reicht, wenn sie
ihr Dasein abfühlt und die Ewigkeit.

Ich liebe dich bis zu dem stillsten Stand,
den jeder Tag erreicht im Lampenschein
oder in Sonne. Frei, im Recht, und rein
wie jene, die vom Ruhm sich abgewandt.

Mit aller Leidenschaft der Leidenszeit
und mit der Kindheit Kraft, die fort war,
seit ich meine Heiligen nicht mehr geliebt.

Mit allem Lächeln, aller Tränennot
und allem Atem. Und wenn Gott es gibt,
will ich dich besser lieben nach dem Tod.
 
OP
I

Iphigenie

[COLOR="Sienna"]Sommerwiese [/COLOR]

Eine edle Schöpfung gab mir wohl das Leben
Damit ich weine, kämpfe, lache und genieße
„Iphigenie“, senkte sie in meine Seelentiefe
„Das Leben ist ’ne große Sommerwiese
Und dir von mir nur einmal mitgegeben“.

Der tiefen Worte Sinn hab’ ich wohl verstanden
Geb’ acht auf jede Blume die da freudig blüht
Kämpf’ gegen jeden Sturm, der wild darüberzieht
Und wein’ vor Freud, wenn sich ein Mann verliebt
In meiner Sommerwiese Glücksgirlanden.

Nur: Ein Herz, das liebend sich zu meinem findet,
Das munter, geistvoll, frei sich mit dem meinen bindet
Hat mir das Dasein bis zur Stund noch nicht geschenkt
So wart’ ich halt, bis es mir eines in die Quere lenkt
Fang’ auf der Wiese an mit einem Schmetterling zu scherzen
Und träum von riesengroßen himmelblauen Hochzeitskerzen.

~ Iphigenie
 
OP
T

Turandot

[COLOR="RoyalBlue"]Die Sonette an Orpheus (1922)[/COLOR]




[COLOR="RoyalBlue"]D[/COLOR]as I. Sonett

Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung!
O Orpheus singt! O hoher Baum im Ohr!
Und alles schwieg. Doch selbst in der Verschweigung
ging neuer Anfang, Wink und Wandlung vor.

Tiere aus Stille drangen aus dem klaren
gelösten Wald von Lager und Genist;
und da ergab sich, daß sie nicht aus List
und nicht aus Angst in sich so leise waren,

sondern aus Hören. Brüllen, Schrei, Geröhr
schien klein in ihren Herzen. Und wo eben
kaum eine Hütte war, dies zu empfangen,

ein Unterschlupf aus dunkelstem Verlangen
mit einem Zugang, dessen Pfosten beben, -
da schufst du ihnen Tempel im Gehör.



[COLOR="RoyalBlue"]II. [/COLOR]Sonett


Und fast ein Mädchen wars und ging hervor
aus diesem einigen Glück von Sang und Leier
und glänzte klar durch ihre Frühlingsschleier
und machte sich ein Bett in meinem Ohr.

Und schlief in mir. Und alles war ihr Schlaf.
Die Bäume, die ich je bewundert, diese
fühlbare Ferne, die gefühlte Wiese
und jedes Staunen, das mich selbst betraf.

Sie schlief die Welt. Singender Gott, wie hast
du sie vollendet, daß sie nicht begehrte,
erst wach zu sein? Sieh, sie erstand und schlief.

Wo ist ihr Tod? O, wirst du dies Motiv
erfinden noch, eh sich dein Lied verzehrte? -
Wo sinkt sie hin aus mir? ... Ein Mädchen fast ...



[COLOR="RoyalBlue"]III.[/COLOR] Sonett

Ein Gott vermags. Wie aber, sag mir, soll
ein Mann ihm folgen durch die schmale Leier?
Sein Sinn ist Zwiespalt. An der Kreuzung zweier
Herzwege steht kein Tempel für Apoll.

Gesang, wie du ihn lehrst, ist nicht Begehr,
nicht Werbung um ein endlich noch Erreichtes;
Gesang ist Dasein. Für den Gott ein Leichtes.
Wann aber sind wir? Und wann wendet er

an unser Sein die Erde und die Sterne?
Dies ists nicht, Jüngling, Daß du liebst, wenn auch
die Stimme dann den Mund dir aufstößt, - lerne

vergessen, daß du aufsangst. Das verrinnt.
In Wahrheit singen, ist ein andrer Hauch.
Ein Hauch um nichts. Ein Wehn im Gott. Ein Wind.



[COLOR="RoyalBlue"]IV.[/COLOR] Sonett

O ihr zärtlichen, tretet zuweilen
in den Atem, der euch nicht meint,
laßt ihn an eueren Wangen sich teilen,
hinter euch zittert er, wieder vereint.

O ihr Seligen, o ihr Heilen,
die ihr der Anfang der Herzen scheint.
Bogen der Pfeile und Ziele von Pfeilen,
ewiger glänzt euer Lächeln verweint.

Fürchtet euch nicht zu leiden, die Schwere,
gebt sie zurück an der Erde Gewicht;
schwer sind die Berge, schwer sind die Meere.

Selbst die als Kinder ihr pflanztet, die Bäume,
wurden zu schwer längst; ihr trüget sie nicht.
Aber die Lüfte... aber die Räume....



[COLOR="RoyalBlue"]V.[/COLOR] Sonett

Errichtet keinen Denkstein. Laßt die Rose
nur jedes Jahr zu seinen Gunsten blühn.
Denn Orpheus ists. Seine Metamorphose
in dem und dem. Wir sollen uns nicht mühn

um andre Namen. Ein für alle Male
ists Orpheus, wenn es singt. Er kommt und geht.
Ists nicht schon viel, wenn er die Rosenschale
um ein paar Tage manchmal übersteht?

O wie er schwinden muß, daß ihrs begrifft!
Und wenn ihm selbst auch bangte, daß er schwände.
Indem sein Wort das Hiersein übertrifft,

ist er schon dort, wohin ihrs nicht begleitet.
Der Leier Gitter zwangt ihm nicht die Hände.
Und er gehorcht, indem er überschreitet.





Aus: Die Sonette an Orpheus, Erster Teil von R. M. Rilke(1922)
 
OP
T

Turandot

[COLOR="DarkOrange"]Theodor Storm[/COLOR]


[COLOR="SandyBrown"]ABENDS[/COLOR]


Warum duften die Levkojen soviel schöner bei der Nacht?
Warum brennen deine Lippen soviel röter bei der Nacht?
Warum ist in meinem Herzen so die Sehnsucht auferwacht,
Diese brennend roten Lippen dir zu küssen bei der Nacht?



[COLOR="DarkOrange"]EINER TOTEN[/COLOR]

[COLOR="SandyBrown"]2[/COLOR]


Das aber kann ich nicht ertragen,
Daß so wie sonst die Sonne lacht;
Daß wie in deinen Lebenstagen
Die Uhren gehn, die Glocken schlagen,
Einförmig wechseln Tag und Nacht;

Daß, wenn des Tages Lichter schwanden,
Wie sonst der Abend uns vereint;
Und daß, wo sonst dein Stuhl gestanden,
Schon Andre ihre Plätze fanden,
Und nichts dich zu vermissen scheint;

Indessen von den Gitterstäben
Die Mondesstreifen schmal und karg
In deine Gruft hinunterweben,
Und mit gespenstig trübem Leben
Hinwandeln über deinen Sarg.








.
 
Zuletzt bearbeitet:
OP
I

Iphigenie

[COLOR="Sienna"]Ich lade dich ein [/COLOR]

Liebster, ich lade dich ein,
komm in das Haus unserer Wünsche
und hänge den Hut an die Wand,
den Hut mit dem kleinen Schussloch.
Denn ich habe das Haus
Ganz nach deinem Befehle gebaut.
Es ist alles darin, was wir brauchen.
Der blaue Himmel der Tropen,
die leichte Luft von Madrid,
doch ohne den lästigen Wind, der
dir die Papiere zersaust.
Die Zimmer sind im gobelinweichen Grün
Der Hänge von Heidelberg gestrichen.
Ich geb dir die alte Brücke als Bett
Mit einer Latexmatratze darauf.
Es riecht nach den Glyzinien
Der Via Monte Tarpeo,
Marc Aurel ist wieder unser Portier.
Des Abends vergoldet die Sonne den Tiber,
dann singt uns die Nachtigall am Palatin.
Danach gehen wir in die Kammerspiele,
in die Scala oder Old Vic,
oder sehn den großen Barrault,
ob Paris ihn gerade mag oder nicht.
Du hast immer Zeit,
und es fällt dir was ein, wenn du Zeit hast.
(Die Schreibmaschine kopiert von allein,
völlig geräuschlos, versteht sich.)
Und was du schreibst,
wird im ersten Monat gedruckt
und sofort darauf rezensiert
und gefällt dir und den andern, und das mit Recht,
denn es ist bahnbrechend, einfach und gut
und zur richtigen Stunde gesagt.-
Und für die Flauten schreibt Händel
Dir neue Concerti Grossi,
weil du die alten schon kennst,
und der tote Busch dirigiert.
Dann isst du gebratene Enten
Und Frühlingssalat aus Florenz.
Wir spülen nie. Die Teller
Werfen wir zum Fenster hinaus,
wie in Rom in der Neujahrsnacht.
Sei unbesorgt, sie fallen
Niemand auf den Kopf,
denn unten ist keine Straße.
Deswegen ist’s auch so ruhig,
und nichts stört deinen Schlaf
(und morgens bleibt dir nie
ein weißes Haar an der Bürste).
Dabei sind die Oper und das Kino
Mit ausgewähltem Programm
Gleich um die nächste Ecke,
und dort stehen auch die Museen.
Die frühen Kulturen sind gut vertreten,
die fernöstliche Sammlung ist exquisit,
und ein Wiener Cafe in der Nähe.
Dort sehen wir rasch die Zeitungen durch,
sie sind, wie immer
empörend interessant,
nur ist alles viel weiter weg.
Wir lesen mit kopfschüttelndem Entsetzen,
wie die Schwalben von Himmel fallen
nach den Atomexplosionen
auf einer anderen Erde.
Dann gehen wir nachhause, und du schläfst Siesta,
und für mich steht bei der Terrasse ein Baum
mit dem unentbehrlichen grünblauen Muster.
Wir arbeiten viel,
und wir lachen noch mehr,
und wir haben reizende Gäste
- wer käme nicht gern in das Haus?-
denen liest du in allen Sprachen,
am liebsten auf Deutsch,
das Geschriebene vor.
Dann fahren wir zusammen zu Martha Graham
oder zum Negerballet von Port-au-prince,
oder machen einen kurzen Mondscheinspaziergang
in den Löwenhof der Alhambra.

Der Briefträger, mein Herz, kommt pünktlich
Zum Frühstück,
gleich nach dem blauweißen Gruß
der kleinen Möven über dem See,
und bringt Liebesbriefe von deinem Verleger
und Angebote von Stellen, die du nicht brauchst.
Denn du hast, was du wünschst,
und du tust, was du magst.
Und du tobst nur ganz selten,
damit ich behalte, wie gut du es kannst,
und bist viel geduldiger als sonst.

Liebster, nimm deinen Hut von der Wand,
dem Hut mit dem kleinen Schussloch,
und geh auf ein Wohnungsbüro, ich bitt dich,
und sieh,
was sie uns anbieten können.
Sonst stürz ich mich noch aus dem Fenster
dieses Hauses, das es nicht gibt.

Und das Fenster, glaub mir, ist hoch.


~ Hilde Domin (1909-2006) deutsche Dichterin und Schriftstellerin
 
OP
I

Iphigenie

[COLOR="Sienna"]Angoisse [/COLOR]

Je ne viens pas ce soir vaincre ton corps, ô bête
En qui vont les péchés d'un peuple, ni creuser
Dans tes cheveux impurs une triste tempête
Sous l'incurable ennui que verse mon baiser :

Je demande à ton lit le lourd sommeil sans songes
Planant sous les rideaux inconnus du remords,
Et que tu peux goûter après tes noirs mensonges,
Toi qui sur le néant en sais plus que les morts.

Car le Vice, rongeant ma native noblesse
M'a comme toi marqué de sa stérilité,
Mais tandis que ton sein de pierre est habité

Par un coeur que la dent d'aucun crime ne blesse,
Je fuis, pâle, défait, hanté par mon linceul,
Ayant peur de mourir lorsque je couche seul.

~ Stéphane Mallarmé (1842-1898) französischer Dichter


[COLOR="Sienna"]Angst[/COLOR]

Ich will nicht deinen Leib besiegen diesen Abend.
O Tier, zu dem die Sünden eines Volkes kommen,
Noch Haar, das unrein ist, mit ödem Sturm zerwühlen
Aus unheilbarem Leid, das meinem Kuß entströmt.

Ich suche schweren leeren Schlaf in deinem Bett,
Den unbekannte Wehr vor Reuebiß behütet,
Und daß du schmecken lernst nach deinen schwarzenLügen
Dich selbst: du weißt vom Nichts mehr, als die Toten wissen.

Denn Laster hat, was adlig in mir war; zernagt
Und mich wie dich gezeichnet mit Unfruchtbarkeit.
Doch während deine Brust von Stein ein Herz bewahrt,

Das nie der Zahn der bösen Tat verwundet hat,
Flieh ich zerfallen bleich vom Leintuch aufgeschreckt
Und habe Todesfurcht, wenn ich alleine liege.

~Kurt Reidemeister
 
Zuletzt bearbeitet:
OP
T

Turandot

[COLOR="Sienna"]Angoisse [/COLOR]

Je ne viens pas ce soir vaincre ton corps, ô bête
En qui vont les péchés d'un peuple, ni creuser
Dans tes cheveux impurs une triste tempête
Sous l'incurable ennui que verse mon baiser :

Je demande à ton lit le lourd sommeil sans songes
Planant sous les rideaux inconnus du remords,
Et que tu peux goûter après tes noirs mensonges,
Toi qui sur le néant en sais plus que les morts.

Car le Vice, rongeant ma native noblesse
M'a comme toi marqué de sa stérilité,
Mais tandis que ton sein de pierre est habité

Par un coeur que la dent d'aucun crime ne blesse,
Je fuis, pâle, défait, hanté par mon linceul,
Ayant peur de mourir lorsque je couche seul.

~ Stéphane Mallarmé (1842-1898) französischer Dichter


[COLOR="Sienna"]Angst[/COLOR]

Ich will nicht deinen Leib besiegen diesen Abend.
O Tier, zu dem die Sünden eines Volkes kommen,
Noch Haar, das unrein ist, mit ödem Sturm zerwühlen
Aus unheilbarem Leid, das meinem Kuß entströmt.

Ich suche schweren leeren Schlaf in deinem Bett,
Den unbekannte Wehr vor Reuebiß behütet,
Und daß du schmecken lernst nach deinen schwarzenLügen Dich selbst: du weißt vom Nichts mehr, als die Toten wissen.

Denn Laster hat, was adlig in mir war; zernagt
Und mich wie dich gezeichnet mit Unfruchtbarkeit.
Doch während deine Brust von Stein ein Herz bewahrt,

Das nie der Zahn der bösen Tat verwundet hat,
Flieh ich zerfallen bleich vom Leintuch aufgeschreckt
Und habe Todesfurcht, wenn ich alleine liege.

~Kurt Reidemeister



Angst


Ich komm heut abend nicht, dich zu besiegen
Oh Tier, in dem des Volkes Sünden wachen
Noch unter Schmerzen, die dem Kuss entfliegen
In deinem Haare trüben Sturm zu fachen

Ich will von deinem Bett nur Schlaf, nicht Traumbetrügen
Wie ihn der Vorhang hüllt, wo keine Reue brennt
Wie du ihn findest, nach den scharzen Lügen
Vom Nichts mehr wissend als die Toten eben

Denn Laster höhlte meines Adels Stand
Schlug mich wie dich mit unfruchtbarem Sein
Derweil ein Herz in deiner Brust aus Stein

Das nie versehrt noch von der Sünden Brand
Flieh ich vorm Leichentuch in bleicher Not
Und lieg ich einsam hab ich Angst vorm Tod.



- weiß aber nicht, von wem die Übersetzung ist.
 
OP
T

Turandot

[COLOR="SandyBrown"]Friedrich Nietzsche

Dichters Berufung[/COLOR]








Als ich jüngst, mich zu erquicken,
Unter dunklen Bäumen saß,
Hört' ich ticken, leise ticken,
Zierlich, wie nach Takt und Maß.
Böse wurd ich, zog Gesichter, -
Endlich aber gab ich nach,
Bis ich gar, gleich einem Dichter,
Selber mit im Tiktak sprach.

Wie mir so im Verse-Machen
Silb' um Silb' ihr Hopsa sprang,
Mußt' ich plötzlich lachen, lachen
Eine Viertelstunde lang.
Du ein Dichter? Du ein Dichter?
Steht's mit deinem Kopf so schlecht?
- "Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter"
Achselzuckt der Vogel Specht.

Wessen harr' ich hier im Busche?
Wem doch laur' ich Räuber auf?
Ist's ein Spruch? Ein Bild? Im Husche
Sitzt mein Reim ihm hintendrauf.
Was nur schlüpft und hüpft, gleich sticht der
Dichter sich's zum Vers zurecht.
- "Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter"
Achselzuckt der Vogel Specht.

Reime, mein' ich, sind wie Pfeile?
Wie das zappelt, zittert, springt,
Wenn der Pfeil in edle Teile
Des Lacerten-Leibchens dringt!
Ach, ihr sterbt dran, arme Wichter,
Oder taumelt wie bezecht!
- "Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter"
Achselzuckt der Vogel Specht.

Schiefe Sprüchlein voller Eile,
Trunkne Wörtlein, wie sich's drängt!
Bis ihr Alle, Zeil' an Zeile,
An der Tiktak-Kette hängt.
Und es giebt grausam Gelichter,
Das dies - freut? Sind Dichter - schlecht?
- "Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter"
Achselzuckt der Vogel Specht.

Höhnst du, Vogel? Willst du scherzen?
Steht's mit meinem Kopf schon schlimm,
Schlimmer stünd's mit meinem Herzen?
Fürchte, fürchte meinen Grimm! -
Doch der Dichter - Reime flicht er
Selbst im Grimm noch schlecht und recht.
- "Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter"
Achselzuckt der Vogel Specht.
 
OP
T

Turandot

gleicher Dichter

[COLOR="LightBlue"]Narr in Verzweiflung[/COLOR]




Ach! Was ich schrieb auf Tisch und Wand
Mit Narrenherz und Narrenhand,
Das sollte Tisch und Wand mir zieren?...
Doch ihr sagt: "Narrenhände schmieren, –
Und Tisch und Wand soll man purgieren,
Bis auch die letzte Spur verschwand!"
Erlaubt! Ich lege Hand mit an –,
Ich lernte Schwamm und Besen führen,
Als Kritiker, als Wassermann.
Doch, wenn die Arbeit abgethan,
Säh’ gern ich euch, ihr Ueberweisen,
Mit Weisheit Tisch und Wand besch……
 
OP
I

Iphigenie

[COLOR="Sienna"]Immer mehr Worte[/COLOR]

Immer mehr
Worte wachsen über
Nacht der schwarzen Farbe
zu, die ihr Meer
zwischen uns
treibt, darin
wir nicht
ablassen
von der entsetzlichen
Mühsal zu lieben

wenn ich
Matrose wär
oder ein Hund mit
einem Anker tätowiert
auf der Stirn, ich
würd hoch auf
dem Meer nach
deinem Mund
suchen

dann
müßte die Sprache leicht
sein wie der Tod
und so schnell: es
gibt zuvieles
was ich nicht
sagen kann.

~ Rolf Dieter Brinkmann (1940-1975) deutscher Dichter
 

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