4.5. Das soziale Konstrukt einer „natürlichen Wirtschaftsordnung“?
Die Gesellschaftsformation oder – in anderer Sprache – das soziale, ökonomische und politische System werden als eine „Natürliche Wirtschaftsordnung“ (NWO) aufgefasst, für deren Realisierung sich eine zeitweise in den 1920er und 1930er Jahren nach zigtausenden zählende NWO-Bewegung einsetzt. Ihre Ziele sind zinsloses „Freigeld“, „Freiland“ und
Mutterlohn bzw. eine „Mütterrente“ zur Erziehung der Kinder und implizit auch zur Entlastung der Väter (dies ist auch ein Punkt im „Pfingstprogramm“ von 1943, das der Gesellianer Karl Walker vorgelegt hatte, als die Niederlage der deutschen Truppen bereits absehbar war. Denn diese sollten sich auf einen „ewigen, unablässigen, schonungslosen Kampf“ konzentrieren. „Deshalb“, so heißt es in der Zeitschrift „Der Physiokrat“, um die sich seit 1909 die Anhänger Silvio Gesells sammeln, „nennen wir uns Physiokraten, weil wir die Herrschaft dieses Naturgesetzes bewusst anerkennen, uns ihm unterordnen und mit ihm rechnen, da wir sonst geräuschlos zermalmt würden...“. Die Anhänger Gesells entwickeln also einen Diskurs, in dem die Gesellschaft als von Naturgesetzen beherrscht verstanden wird. Ihnen soll die soziale und wirtschaftliche Ordnung angepasst werden. In der Natur herrscht Kampf im „survival of the fittest“,
und daher auch in der Gesellschaft. Die Ausgangsbasis freilich soll gerecht sein, und dazu bedarf es des Freilandes und des Freigeldes, ...
Die Mütterrente, wie der Mutterlohn daher auch genannt wird, ist also einerseits in Lohn verwandelte Steigerung der Grundrente, andererseits Mittel zu ihrer Abschaffung und daher des Bodenmonopols. Freigeld und freies Land sind die Bedingung für freie Menschen, die im Wettbewerb ihren Eigennutz verfolgen. Die besten setzen sich durch. Im Vorwort zur vierten Auflage seiner „Natürlichen Wirtschaftsordnung“ vom 5. Mai 1920 schreibt Gesell, nachdem er die kommunistische Revolution in Russland als einen „letzten reaktionären Schritt“ gebrandmarkt hat:
„Die N.W.O., die ohne irgendwelche gesetzlichen Maßnahmen von selber steht, die den Staat, die Behörden, jede Bevormundung überflüssig macht und die Gesetze der uns gestaltenden natürlichen Auslese achtet, gibt dem
strebenden Menschen die Bahn frei zur vollen Entfaltung des ‚Ich’, zu der von aller Beherrschtheit durch andere befreiten, sich selbst verantwortlichen Persönlichkeit, die das Ideal Schillers, Stirners, Nietzsches, Landauers
darstellt" (Gesell 1920: XIV).
Das liegt auf der Linie, die er schon länger verfolgt. So schreibt er in der Zeitschrift „Der Physiokrat“:
„Einer der unbändigsten, tiefsten Triebe ist unzweifelhaft der allen höher
entwickelten Naturen eigene Sinn für Freiheit,... und das Korrelat dazu der glühende Haß gegen... staatliche Bevormundung jeder Art, namentlich auch gegen alle im voraus gezogenen Richtlinien für die völkische Gestaltung künftiger Geschlechter...“ (Gesell 1948: 32)
Gesell vertritt also einen extremen Individualismus und er verteidigt die Ordnung, die ihn stützt: die Marktwirtschaft, die Wettbewerbsordnung. Die Bezüge zum später wichtig werdenden Neoliberalismus sind offenkundig. Gesell ist gegen die völkische Einvernahme. Damit jedoch ist er in der NWO-Bewegung eher eine Ausnahme. Es ist angesichts der ideologischen Grundlegung nicht überraschend, wenn Teile der NWO-Bewegung mit den Nationalsozialisten paktierten oder zumindest ideologisch flirten. Natürliche Auslese der Besten, schonungsloser Kampf, extremer IchIndividualismus, Heroisierung der Mutter und Boden für das Volk – das waren Ideologeme, die passgenau in Denkmuster der Nazis integriert werden konnten. Und die Vertreter dieser Positionen gleich mit.