Der Hauptbahnhof der deutschen Hauptstadt ist zum westlichen Drehkreuz für die Kriegsflüchtlinge geworden. Noch können Verwaltung und Helfer den Ansturm bewältigen. Aber bei der Polizei sind viele besorgt. «Hier reist der halbe Balkan an», sagt ein Beamter.
Fatina Keilani, Berlin12.03.2022, 12.55 Uhr
Der Zug aus Warschau hat mehrere Stunden Verspätung, so wie alle Züge aus der polnischen Hauptstadt, die zurzeit in Berlin ankommen. Philipp Mauritz steht am Gleis, um Flüchtlinge aus der Ukraine abzuholen und bei sich aufzunehmen. Der 52-Jährige wohnt mit seiner Frau und zwei Kindern in einer Zweizimmerwohnung im Stadtteil Prenzlauer Berg, ausserdem hat er noch ein Einzimmerappartement. Dieses möchte er Ukrainern überlassen. Er wisse auch schon, wem, sagt er. Ein Bekannter habe den Kontakt vermittelt.
Aus dem heillos überfüllten Zug steigt Olha Roswadowska. Sie stammt aus der zweitgrössten ukrainischen Stadt Charkiw, die sich durch das russische Bombardement in ein Trümmerfeld verwandelt hat. Die 41-Jährige ist mit der Mutter und ihren zwei kleinen Töchtern nach einer schlaflosen Nacht in der Früh aufgebrochen und freut sich, nun erst einmal zur Ruhe kommen zu können. Ihr Mann sei in der Ukraine geblieben, sagt sie. Er wolle anderen helfen, aus der belagerten Stadt zu entkommen.
In Berlin kommen täglich Tausende Flüchtlinge aus der Ukraine an – und andere, die den Krieg als Gelegenheit zur Einreise nutzen
Filip Singer / EPA
Der Hauptbahnhof der deutschen Hauptstadt ist zum westlichen Drehkreuz für die Kriegsflüchtlinge geworden. Noch können Verwaltung und Helfer den Ansturm bewältigen. Aber bei der Polizei sind viele besorgt. «Hier reist der halbe Balkan an», sagt ein Beamter.
Fatina Keilani, Berlin12.03.2022, 12.55 Uhr
Der Zug aus Warschau hat mehrere Stunden Verspätung, so wie alle Züge aus der polnischen Hauptstadt, die zurzeit in Berlin ankommen. Philipp Mauritz steht am Gleis, um Flüchtlinge aus der Ukraine abzuholen und bei sich aufzunehmen. Der 52-Jährige wohnt mit seiner Frau und zwei Kindern in einer Zweizimmerwohnung im Stadtteil Prenzlauer Berg, ausserdem hat er noch ein Einzimmerappartement. Dieses möchte er Ukrainern überlassen. Er wisse auch schon, wem, sagt er. Ein Bekannter habe den Kontakt vermittelt.
Aus dem heillos überfüllten Zug steigt Olha Roswadowska. Sie stammt aus der zweitgrössten ukrainischen Stadt Charkiw, die sich durch das russische Bombardement in ein Trümmerfeld verwandelt hat. Die 41-Jährige ist mit der Mutter und ihren zwei kleinen Töchtern nach einer schlaflosen Nacht in der Früh aufgebrochen und freut sich, nun erst einmal zur Ruhe kommen zu können. Ihr Mann sei in der Ukraine geblieben, sagt sie. Er wolle anderen helfen, aus der belagerten Stadt zu entkommen.
Aus der Ukraine nach Deutschland
Fluchtwege in der Ukraine
Fluchtweg aus der Ukraine
500 Kilometer
Kartengrundlage:
© Openstreetmap, © Maptiler
NZZ / eck.
Olha Roswadowska wolle mit ihrer Mutter und den Töchtern nur vier bis sechs Tage bleiben, sagt Philipp Mauritz, der die vier bei sich aufnimmt. Und danach? Das werde sie sehen, sagt die 41-Jährige. Sie brauche vor allem Internet. Und vorher Schlaf. Roswadowska ist Software-Ingenieurin; der Kontakt zu Mauritz kam über einen Bekannten aus der IT-Branche zustande. Ihr Gastgeber ist Schauspieler an einem Theater in Potsdam.
«Jetzt ist alles wundervoll»
Die Nacht zuvor habe sie mit der Mutter und den beiden Töchtern bei Freunden in Posen verbracht, sagt Roswadowska – zusammen mit vier schnarchenden Männern in einem Zimmer. Geschlafen habe sie kaum, zumal sie keinesfalls den Zug nach Deutschland verpassen wollte. Die Flucht habe insgesamt zwei Wochen gedauert, weil es zunächst nicht über die Grenze nach Polen gegangen sei. Alles sei überfüllt gewesen.
«Aber jetzt ist alles wundervoll», sagt Roswadowska: «so viel Hilfe!» Die Sonne scheint durch das Glasdach des Hauptbahnhofs. Der Berliner Himmel ist strahlend blau an diesem Märztag.
In Sicherheit: Olha Roswadowska (links) aus Charkiw mit Mutter und Töchtern in Berlin.
Ferdinand Knapp / NZZ
Willkommensgruss am Hauptbahnhof.
imago
Der Grossteil der inzwischen mehr als zwei Millionen Menschen, die seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine das Land verlassen haben, hält sich nach wie vor in Polen, Moldau, Ungarn, Rumänien und der Slowakei auf. Aber im Westen Europas ist Berlin zum zentralen Drehkreuz der Flüchtlingsbewegung geworden. Etwa zehn Züge kommen täglich allein aus Warschau.
«Dear refugees from Ukraine», schallt es aus den Lautsprechern am Hauptbahnhof: «Welcome in Berlin!» Dann folgt die Aufforderung, sich an die Menschen in den gelben und orangen Schutzwesten zu wenden. Es sind meist Freiwillige, oft sehr junge Menschen, die den Flüchtlingen hier als erste Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Ihre Vornamen haben sie auf ihre Westen gekritzelt, dazu «eng/de» oder auch «pl/ru/eng», um den Ankömmlingen zu zeigen, in welchen Sprachen man sie versteht.
Unten im Bahnhof ist es dunkel, kalt und überfüllt
Wer, wie Olha Roswadowska und ihre Angehörigen, nicht das Glück hat, direkt am Gleis abgeholt zu werden, der wird ins Untergeschoss des Bahnhofs geschickt. Dort ist es dunkel, kalt und heillos überfüllt. Menschen, die mit Bus oder Bahn weiterreisen wollen, in andere deutsche oder europäische Städte, bekommen ein kostenloses Ticket. Und wer in Berlin bleiben möchte, kann mit dem Smartphone verschiedene QR-Codes scannen und gelangt so auf die Websites verschiedener Wohnungs- und Zimmeranbieter.
Die Freiwilligen schenken auf der zugigen Plattform Kaffee aus, sie verteilen Sandwiches und stecken den Kindern Schokoriegel zu. Es gibt eine Spielecke mit Plüschtieren und Buntstiften und einen LGBTQI-Stand, an dem allerdings nichts los ist. Fragen der sexuellen Identität sind offenbar nachrangig, wenn es ums Überleben geht.
Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) bietet in zwei Zelten eine medizinische Erstversorgung an. In einer Ecke liegen unbenutzte Decken und Matratzen; schwer vorstellbar, dass in dieser Kälte und diesem Durcheinander jemand schlafen kann. Es stehen Unmengen an Kartons mit Altkleidung und Tierfutter bereit – die Berliner stehen Schlange, um Spenden abzugeben. Aber die Hilfsbereitschaft lockt auch Menschen an, die nicht zur Zielgruppe gehören.
Vier Männer, alle im besten Alter und putzmunter, freuen sich diebisch – und das ist hier wörtlich gemeint – über drei Paar nagelneue Krücken, die sie im Zelt des DRK erbeutet haben. Feixend üben sie, damit zu laufen. Frauen mit Goldzähnen und langen Röcken durchwühlen derweil die gespendeten Altkleider. Natürlich bleibt den Bundespolizisten, die hier auf Streife gehen, das Treiben nicht verborgen. Das mit den Krücken ist ein bekannter Betteltrick auf Berlins Strassen.
«Ihr kriegt hier alles in den Arsch geschoben!»
Die Beamten kontrollieren die Gruppe: «Your identity, please». Nach langem Gestikulieren und umständlichem Kramen in den Hosentaschen fördern die Männer zerfledderte Papiere zutage. «Aufenthaltsgestattung», liest eine Beamtin vor. Sie wird wütend. Die Männer sind Moldauer, mutmasslich Roma, und haben hier eigentlich nichts zu suchen.
Als die Männer dann noch versuchen, die Krücken mitzunehmen, flippt die Polizistin aus. «Ihr kriegt hier alles in den Arsch geschoben!», brüllt sie. «Geh doch zur Krankenkasse, und hol dir welche!» Auch ihr Kollege ist sauer: «Ihr könnt hier nicht die Leute beklauen!» Die Männer müssen die Krücken abgeben und werden weggeschickt. Ihnen folgen die Frauen und Kinder. Konsequenzen hat das Ganze nicht.
Von der Hilfsbereitschaft versuchen auch jene etwas abzubekommen, die sonst nichts geschenkt bekommen. Zwischen den Flüchtlingen sieht man Obdachlose mit Suppenschüsseln und belegten Brötchen in den Händen. Die Helfer dulden das. An anderer Stelle aber wird gewarnt.
Teil1,
@Bronco