Ich geb's auf.
Irgendwie bist Du heute neben der Spur.
Wenn Du die Meldung im Link gelesen hättest, wüßtest Du daß das
Projekt von der EU mit 200.000 Euronen gesponsert wird.
Wenn Du wieder fit bist, kannst Du bei einem Tässchen Friesentee auch noch mal nachgucken,
wer zuerst in wessen Wald rief.
Muß jetzt arbeiten. Der Sozialismus baut sich schließlich nicht von selbst auf.
Bis später, hoksila
Moin, Hoksila, Hallo Compa!
Sozialismus und Arbeit (in der Bedeutung von wirtschaftlich, sozial oder politisch sinn- und zweckmäßigem Tun) vertragen sich bekanntlich nicht und schließen einander aus, insofern nehme ich eher an, Hoksila, daß Du damit ausdrücken wolltest, Dich einfach nur ein wenig beschäftigen zu wollen? ;-)
Ihr redet aneinander vorbei, habe ich den Eindruck: es geht bei der Geschichte mit den Sinfonikern eben gerade NICHT um Pressefreiheit und selbst um Meinungsfreiheit nur in sehr eingeschränktem Umfang, insofern paßt dieser Vorfall auch nicht in die Liste der diversen Ausweisungen, Inhaftierungen etc. von Journalisten aus aller Herren Länder.
Es geht darum, daß die Türkei sich, wie stets in den letzten rund 100 Jahren, nach wie vor weigert, den Genozid an den Armeniern (und DASS es ein Genozid war, daran besteht - zumindest AUSSERHALB der Türkei - nicht der geringste Zweifel, das ist schlicht ein historischer und in der Forschung praktisch unumstrittener Fakt) als solchen anzuerkennen. Von den daraus zu ziehenden Konsequenzen, der Übernahme irgendeiner Verantwortung ganz zu schweigen.
So gesehen ist Erdogan nicht der erste türkische Regierungschef, der hier Geschichtsfälschung betreibt und er wird auch ganz sicher nicht der letzte sein.
Auch diesbezüglichen Druck auf Institutionen und Regierungen aller Art, die im Zusammenhang mit den Armeniern von Genozid oder auch "nur" Massenvertreibung sprechen, hat es seitens der Türkei immer und wiederholt gegeben, auch relativ offen.
Die Alternative wäre übrigens, sich türkischerseits Asche aufs Haupt zu streuen, den Genozid als solchen anzuerkennen - und dann entweder zu sagen, er falle nicht ins Gewicht, weil er schon lange zurückliegt, vor allem aber, weil es sich bei den Opfern um Christen, also: Ungläubige, gehandelt habe (der Applaus nicht nur der islamischen Welt, sondern auch derer der aufgeklärten, non-theologischen Europäer wäre ihnen gewiß), was allerdings übel wäre für den Anschluß der Türkei an erhebliche Teile der wirtschaftlich und militärisch starken Regionen der Welt. Die aber sind bis heute entweder christlich oder anders geprägt, auf jeden Fall nicht islamisch...
Oder aber: man streut sich Asche aufs Haupt, indem man den Genozid als solchen anerkennt, ordnet ihn als ein Verbrechen an einer Minderheit ein, das man nicht nur lange Zeit negiert hat, sondern sich auch geweigert, daraus die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen - für den Umgang nicht nur mit religiösen und/oder ethnischen Minderheiten, sondern mit der Religion an sich. Das, wiederum, wäre übel für das Verhältnis zu den mehrheitlich moslemischen Mitgliedern der eigenen Bevölkerung, aber auch zu den moslemischen Nachbarn, die ohnehin gerade auf Krawall gebürstet sind.
Aus türkischer Sicht wäre die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern, im einen wie im andern Falle, vor allem eines: blöd.
Neu, so ist mein Eindruck, ist allenfalls die Tonlage und Selbstverständlichkeit, mit der die türkische Regierung mittlerweile eine Anpassung der geschichtlichen Fakten an ihre - nachvollziehbaren - Interessen fordert, auch der fast schon unverhohlene Befehl an die EU, jegliche Subventionen zu streichen, ist neu: man hält es, scheint´s, nicht mehr für nötig, sich auf die bisherigen Formen diplomatischen Umgangs zu besinnen, sondern zieht das Benehmen einer offenen Hose auf der diplomatischen Bühne vor (ob zur Präsentation der unlängst ins Abseitige gewitzelten aufgeblähten Mannesrkraft eines im internationalen Wettbewerb bestenfalls drittklassigen Staates, sei einmal dahingestellt: lautes Trommeln mit den Fäusten auf die eigene Brust, jedenfalls, ist bei Primaten ja recht häufig zu beobachten...).
Während nun der kultivierte Mitteleuropäer dazu neigt, in Zwickmühlen in sich zu gehen und sich elegant, möglichst unauffällig herauszuwinden oder, in bester sportlicher Tradition, stillschweigend unterzugehen, neigen andere Kulturen und Völker wohl eher dazu, im Wald so laut wie möglich zu pfeifen, vielleicht in der Hoffnung, dies werde die Bäume schon umlegen... verdenken kann man es ihnen nicht, viel Erfahrung in der Holzwirtschaft ist in diesen Regionen nicht erwarten.
Ich halte die Vorgänge um die Sinfoniker schon - im symbolischen Sinne - für wichtig: und zwar für die Europäer. Als Übung, unmißverständliche Signale zu geben und, in diesem Falle, der Türkei mitsamt ihres Regierungschefs klare, eindeutige und unmißverständliche Grenzen zu setzen.
Sind wir doch mal ehrlich: die "Drohung", bei fortgesetzter Subventionierung des Projekts wolle man seitens der Türkei die Beitrittsverhandlungen mit der EU beenden, ist für sich betrachtet die beste Satire aller Zeiten und das Risiko, daß dieser Drohung die entsprechenden Taten folgen, ist für die EU nicht nur überschaubar, sondern wäre, gegebenenfalls, eine vorzügliche Lösung eines nicht unerheblichen Problems.
Hier also auch nur die kleinsten(!) Zugeständnisse zu machen (und sei es nur die Änderung eines kleinen Internet-Auftritts), gibt den türkischen Versuchen, Europa lächerlich zu machen, jedes nur erdenkliche Recht. Und, und das ist das Perfide: es ist auch nicht geeignet, den fehlenden Respekt vieler türkischer, aber auch anderer moslemischer Migranten INNERHALB Europas FÜR Europa in irgendeiner Weise zu stärken - im Gegenteil: wäre ich Türke, ich käme wohl vor Lachen nicht mehr in den Schlaf. Vermutlich sähe ich es, wäre ich konservativer Moslem, obendrein als Gnadenakt an, das moralisch-diskussionsgeschwächt röchelnde Europa von seinem Leid zu erlösen. Egal, ob mit oder ohne Betäubung.
Das, allerdings, wäre auch blöd: für jeden Europäer, der mit dem hiesigen Lebensstil leidlich zufrieden ist.
Für eine solche, aus den oben genannten Gründen dringend notwendige, "Grenzsetzung" sind eher singuläre Ereignisse wesentlich geeigneter - weil prägnanter - als sich massenhaft und dauerhaft wiederholende Menschenrechtsverletzungen aller Art, antidemokratische Regierungsstile oder unfreiheitlicher Umgang mit, z.B. in - und ausländischen Journalisten, Regierungskritikern, aber eben auch(!) Minderheiten im eigenen Land.
Während der Sturm im Wasserglas, den das Sinfoniker-Projekt entfacht hat, eher Rückschlüsse auf die türkischen Befindlichkeiten im Hinblick auf ihre europäischen Nachbarn zuläßt (sowohl innerhalb Europas als auch in der Türkei), ist die immer weiter fortschreitende und immer offenere Einschränkung von Presse-, vor allem aber auch Meinungsfreiheit, ein Indiz für wesentlich tiefer liegende Probleme der Türkei als Schlüsselstaat. Schlüsselstaat zwischen Ost und West (eine Funktion, die der Türkei eine gewisse Macht in die Hände legt, ohne Zweifel, die - vor allem wohl auch aus propagandistischen Gründen - zu Absurditäten wie den Angriff auf die europäische Kulturförderung führt), aber auch zwischen islamischer Tradition und Moderne, zwischen islamischem Fundamentalismus und Aufklärung und Säkularisierung.
Vor allem im Hinblick auf diesen internen Spagat der Türkei sollte man, meiner Einschätzung nach, vorsichtig sein mit der Be- aber häufig auch VERurteilung Erdogans: einen arabischen Frühling nebst darauffolgendem Winter in der Türkei muß Europa weit mehr fürchten, als halbgare und eher lächerliche Versuche der Einflußnahme, lautstarkes Macho-Gehabe ihres Regierungschefs oder die Festsetzung einiger Journalisten.
So, wie ich es sehe, muß Europa, müssen die europäischen Staaten und, allen voran: muß DEUTSCHLAND mit seinen diesbezüglichen Defiziten, auch im Hinblick auf die "öffentliche Meinung" und die "veröffentlichte Meinung" dringend lernen, die Erdogans dieser Welt zu instrumentalisieren, bevor sie selbst zu deren Instrumenten werden, statt sich im Versuch, mit den eigenen moralischen und politischen (Wert-)Vorstellungen die Politik anderer Länder bewerten zu wollen, selbst ans Messer zu liefern.
Mit kurzen und knappen Grüßen -
Bendert