I
Iphigenie
FAZ Net vom 23. Februar 2009
Geld und Sinn
Die Krise hat erst begonnen
Von Nils Minkmar
Island schickt seine Regierung nach Hause
07. Februar 2009 Am Donnerstagabend war Nicolas Sarkozy an der
Reihe, live aus dem Elyséepalast. Er beruhigte. Er drohte. Er versprach,
„alle zu beschützen“. Er ratterte Zahlen herunter wie ein Manager
und beschrieb Einzelschicksale wie ein Geistlicher. Einmal, er
hatte gleichzeitig die Abschaffung der Gewerbesteuer und die
Erhöhung der Zuschüsse für Minijobs versprochen, knurrte er
einen skeptisch murmelnden Journalisten an: „Wollen Sie mir
mitteilen, mein Beruf sei nicht einfach? Danke, das wusste ich
schon.“ Doch Sarkozy hatte am Donnerstag ebenso wenig einen
Plan wie am Mittwoch oder heute. Die Krise frisst sich mit nicht
nachlassender Geschwindigkeit in die Fundamente der Gesellschaft,
die Arbeitslosigkeit steigt, weitere Demos sind angekündigt.
Sein historischer Auftritt hat sich längst versendet.
Seit Monaten sehen wir Angela Merkel oder Gordon Brown oder
nun Barack Obama vor wechselnden Kulissen auf- und abtreten,
ein Theater der Ratlosigkeit, in dem immer nur ein Motiv
improvisiert wird: dass es bald schon weitergehen werde wie bisher.
Bald sind die Banken gerettet, dann können sie wieder mit
Quatschpapieren handeln. Bald ist das richtige Politikinstrument
– irgendwo muss es doch liegen – gefunden, dann wird,
Lieblingsvokabel des Politsprechs, die „Stellschraube“ angezogen,
und wir setzen die Fahrt fort wie zuvor, bitte entschuldigen und
verkennen Sie die Tatsache unseres anhaltenden Absturzes.
Gefahr kommender sozialer Krisen
Unsere Milliarden, die diversen Pakete, Schirme und Spritzen hätten
die Krise längst beeindrucken müssen. Aber Pustekuchen.
„Fast täglich“, schreibt Nobelpreisträger Paul Krugman über
die dilettierenden Politiker, „kramen sie eine neue Fahne hervor,
die sie den Mast emporziehen, um zu testen, ob jemand salutiert.“
Nichts passiert.
Politiker haben diese Krise nicht angezettelt und keinen Plan, sie
zu stoppen. Alle anderen schauen zu, geduldig und nett, wie
wir postmodernen Menschen heute sind. Es ist viel zu ruhig.
Zum Thema
Konjunktur: Die Realität ist schlimmer als die Prognosen
Es ist längst Zeit, das Staunen über die irrwitzige Geschichte
von den mehrfach gebündelten Schrottpapieren und den
kriminellen Systemen, die ihre Verbreitung zum Geschäft
gemacht haben, diesen Dealern mit gepanschten Finanzspritzen,
zu überwinden und das ganze Ausmaß der sich gerade voll
entfaltenden Weltkrise ins Auge zu fassen. Das monatelange
öffentliche Kümmern um die Banken hat wenig gebracht und führt
dazu, die akute Gefahr kommender sozialer Krisen zu vernachlässigen.
Wir haben bald ganz andere Probleme, abstrakt war letztes Jahr:
In Island führten Proteste der chronisch friedlichen Bevölkerung,
die langen schlechten Zeiten entgegensieht, zum Sturz der
Regierung, der auch nur ,abwiegeln‘ und ,weiter so‘ einfiel.
Es gab kein Axiom und kein Naturgesetz
Die angesehene Zeitschrift „Foreign Policy“ hat nun die Liste der
„nächsten Islands“ veröffentlicht, Staaten, bei denen sich
totale Überschuldung, politisches und wirtschaftliches Missmanagement
und ein kompletter Glaubwürdigkeitsverlust der Regierenden
krisenhaft zuspitzen. Nicaragua ist dabei, alle anderen aber liegen
in und bei Europa: Großbritannien, Griechenland, Lettland und die
Ukraine. Deren wachsendes Elend wird nicht stumm bleiben. Abgesehen
von Streiks, Demonstrationen, Unruhen und Plünderungen können
wir rassistische Ausschreitungen gegen Migranten und
Minderheiten, politische Instabilität, höhere Kriminalität und generell
eine um sich greifende Gewaltbereitschaft und Radikalisierung
erwarten. Diese Krise beschert uns zerfallende Gesellschaften in
unserer Nachbarschaft: Wo noch die Republik war, herrscht bald
die Mafia. Krise ist keine Frage von Blasen und Buchungen, da geht
es um durchgeheulte Nächte. Anderswo, unter den
chinesischen Wanderarbeitern und bei den Illegalen, die aus
Afrika nach Europa wollen, wird die Krise Leben kosten.
Zwei Metaphern kursieren, wenn offiziell von der Krise gesprochen
wird: Die vom Tsunami oder des „perfekten Sturms“, der über uns
gekommen ist, und, häufiger, die vom Giftmüll, jener „toxischen
Papiere“ in den „Kellern“. Der große Vorteil solcher Bilder ist
ihr naturwissenschaftlicher Ursprung. Moral, Gewissen und vor
allem das Strafrecht haben da nichts zu suchen. Im Mittelalter
wurden Tiere vor Gericht gestellt und Krankheiten verboten, also
wäre es in unseren Zeiten doch ein Witz, die Verursacher der Krise
mit dem Staatsanwalt suchen zu gehen. Bloß: Diese Krise ist
nicht natürlichen Ursprungs. Es gab kein Axiom und kein Naturgesetz,
welches eine Bank gezwungen hätte, Papiere zu kaufen, die auf
dem glücklichen Ausgang einer Wette auf den ewig steigenden Wert
von Riesenhäusern basierte, die man tagträumenden Erdbeerpflückern
und Putzfrauen angedreht hatte. Es gab bloß einen Wunsch nach
Rendite, und die steigt nun mal mit dem Risiko. Lag der ganze Witz
in diesen Systemen darin, die hohe Rendite vom Risiko zu trennen,
in dem man es der Öffentlichkeit eines Nachts gebündelt auf die
Straße kippt?
Darf man fragen, ob diejenigen, die die Risiken eingingen, je die
Absicht hatten, die Folgen eines negativen Ausgangs zu tragen? Ob
sie alles unternommen haben, frühzeitig zu warnen und den Schaden
zu begrenzen? Oder haben sie lange Jahre, in denen der Crash mit
guten Argumenten in vielen Büchern prognostiziert stand, kassiert
und weitergespielt mit der guten Gewissheit, ihr Institut, die ganze
Branche sei „too big to fail“?
Mehr faul als nur ein Stapel Papiere
Nichts gegen hohe Gewinne, aber wenn das Risiko dieser Spielchen
nicht von denen getragen wird, die den Gewinn kassieren, dann
ist die Spielanordnung ein Fall für den Staatsanwalt.
Es ist derzeit völlig offen, ob die Textur der Gesellschaft diese
Krise übersteht. Denn das Versagen der Banken war ja in der
herrschenden Ideologie, die sich als Wissenschaft tarnte, gar
nicht vorgesehen: Weniger Steuern und mehr Freiheiten für die
Tüchtigen, dann geht es allen gut. Doch wir sehen: Nirgendwo
gibt es so viele tüchtige und berühmte Millionäre wie in Kalifornien.
Hollywood und Silicon Valley ziehen Talente aus der ganzen Welt
an, und doch kann es sein, dass dieser reiche, dynamische Staat
bald seine Lehrer nicht mehr bezahlen kann. Da ist mehr faul als
nur ein Stapel Papiere. Wie lebt der Kalifornier, zu dessen
Betriebssystem das große Versprechen auf ewige Verbesserung
gehört, mit einer dauerhaft verbauten und überschuldeten Zukunft?
Die deutsche Gesellschaft hat auf die Krise erst mal recht liebevoll
reagiert: Jemand ist süchtig geworden, hat alles Geld verbraucht
und verlangt nun nach mehr. Also räumt man die Schränke aus,
um ihm über die nächsten Tage zu helfen. So haben wir, obwohl
der Haushalt fast ausgeglichen war, Schulden gemacht und
Bürgschaften abgegeben, wie in den „Kindern vom Bahnhof Zoo“
die Freunde den Junkies Rotwein und Hustensaft gemixt haben
– um die Schmerzen zu lindern.
Warum sollen wir eure Schulden zahlen?
Aber so kann es nicht weitergehen. Die Republik kann nicht länger
koabhängig sein und muss auf die systemische Krise mit einem
Systemwandel reagieren. Dem muss eine klare und öffentliche
Analyse der Ursachen dieser Krise vorausgehen. In Washington
wurden ja bereits parlamentarische Anhörungen vorgenommen,
wenn Konzerne Steuergelder oder Garantien wollten. Es waren
wichtige Anhörungen, auch für die Branchen selber: Die
amerikanischen Autohersteller haben etwa erkannt, dass es besser
kommt, wenn sie von Detroit nach Washington mit dem Auto fahren,
als wenn jeder Boss seinen eigenen Firmenjet nimmt. Und die
Öffentlichkeit, darunter ja auch die Beschäftigten der
betroffenen Unternehmen, konnte sehen, wie die Verantwortlichen
bei ganz normalen Fragen in Schwierigkeiten gerieten, etwa nach
dem Verwendungszweck für die beantragten Gelder. Die
Führungsebene hat das Vertrauen der Aktionäre und der
Belegschaft missbraucht, das wurde da klar, aber einem Land
von Erwachsenen kann man solche Erkenntnisse nicht ersparen.
Angst vor dem Sozialismus rechtfertigt nicht das Vertuschen der
Fehler der Kapitalisten. Auch nach den Attentaten
vom 11. September 2001 hat der amerikanische Kongress
einen Untersuchungsausschuss eingesetzt. Die dort
vorgetragene öffentliche Entschuldigung des einstigen
Terrorabwehrchefs Richard Clarke für das Versagen der für den
Schutz der Bürger verantwortlichen Exekutive war eine wichtige
Etappe der nationalen Traumaverarbeitung.
Es ist ein Skandal, dass der Bundestag zwar Gelder in Höhe
der Wiedervereinigungskosten bereitstellt, aber nicht mal e
inen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einsetzt, um
zu fragen, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Und ob
es im Privatvermögen der Verantwortlichen nicht noch Reserven
gibt, die man zur Begleichung des entstandenen Schadens
heranziehen könnte, etwa in Form einer Härtefallstiftung für
kleine Betriebe oder ländliche Gemeinden? Die Bürger wollen
wissen, was war. Schon bald wird an den Küchentischen der
Nation das große Rechnen und Grübeln einsetzen, und bald
darauf kommt man auch in Deutschland auf die Frage, die die
italienischen Studenten längst stellen: Warum sollen wir eure
Schulden zahlen?
Um die Gesellschaft vor Unruhen und kalten Bürgerkriegen zu
bewahren, muss ein großer Dialog begonnen werden. Das alte
System wird sich nicht fangen, für die Ramschpapiere gibt es
keinen Markt, und es wird auch keinen mehr geben.
Mit gouvernementalem Herumfuchteln in Klüngelrunden,
um irgendwelche Stellschrauben zu befingern, ist nichts mehr
zu gewinnen. In solch einer Lage kann es einen Fortschritt nur
geben, wenn man sich von ideologisch begründeten Prinzipien
verabschiedet und all das stärkt, was Gemeinsinn stiftet.
Geld verleiht keinen Sinn
Wäre es undenkbar, eine Bank untergehen zu lassen und mit
den Rettungsmilliarden lieber ein neues Institut mit weniger
krimineller Energie zu gründen?
Es ist unklar, welche politischen Kräfte das überstehen werden.
Attac hat mit der jahrelangen Kampagne gegen die Zocker an
den Finanzmärkten präziser gearbeitet als die im Bundestag
vertretenen Parteien. Die müssen schon deutlich machen, dass
man sie hinters Licht geführt hat, sonst gibt es keinen Grund mehr,
diesen braven Begleitern eines wahnsinnigen Marktgeschehens zu
folgen. Die Leute werden sonst dieselben Schlüsse ziehen, die schon
die Bürger Argentiniens gezogen haben: „Ihr alle müsst gehen!“ war
da der Slogan.
Symbolische Handlungen sind heute wichtiger, als Milliarden zu
versprechen, die eh kein Mensch mehr hat. Die Wirksamkeit
symbolischer Gesten auch auf den verfahrensten Politikfeldern
belegt die Wissenschaft: Von 2004 bis 2008 haben die
amerikanischen Anthropologen Scott Atran und Jeremy Ginges
viertausend Akteure des Nahostkonflikts an einem Test teilhaben
lassen: Sie sollten erklären, welche Handlung der Gegenseite,
also der Palästinenser oder Israelis, sie als wichtigen Fortschritt
anerkennen würden. Zu beurteilen hatten sie drei Möglichkeiten:
Die Gegenseite bietet ihnen etwas mehr Land, oder sie erhalten,
gegen eigene moderate Zugeständnisse, eine wirklich
bedeutende internationale Finanzhilfe, oder aber die anderen
entschuldigen sich: Die Palästinenser für die Terrorakte und die
Israelis für die Vertreibung.
Schon die Nennung dieser dritten Möglichkeit soll selbst von den
grimmigsten Gestalten auf beiden Seiten mit Erleichterung
aufgenommen worden sein, in erdrückender Mehrheit wurde
diese Option bevorzugt. Sich den Verzicht auf heilige Ansprüche
bezahlen zu lassen, dieser Vorschlag rief oft Abscheu hervor.
Geld verleiht keinen Sinn.
Text: F.A.Z.
Bildmaterial: AP
Geld und Sinn
Die Krise hat erst begonnen
Von Nils Minkmar
Island schickt seine Regierung nach Hause
07. Februar 2009 Am Donnerstagabend war Nicolas Sarkozy an der
Reihe, live aus dem Elyséepalast. Er beruhigte. Er drohte. Er versprach,
„alle zu beschützen“. Er ratterte Zahlen herunter wie ein Manager
und beschrieb Einzelschicksale wie ein Geistlicher. Einmal, er
hatte gleichzeitig die Abschaffung der Gewerbesteuer und die
Erhöhung der Zuschüsse für Minijobs versprochen, knurrte er
einen skeptisch murmelnden Journalisten an: „Wollen Sie mir
mitteilen, mein Beruf sei nicht einfach? Danke, das wusste ich
schon.“ Doch Sarkozy hatte am Donnerstag ebenso wenig einen
Plan wie am Mittwoch oder heute. Die Krise frisst sich mit nicht
nachlassender Geschwindigkeit in die Fundamente der Gesellschaft,
die Arbeitslosigkeit steigt, weitere Demos sind angekündigt.
Sein historischer Auftritt hat sich längst versendet.
Seit Monaten sehen wir Angela Merkel oder Gordon Brown oder
nun Barack Obama vor wechselnden Kulissen auf- und abtreten,
ein Theater der Ratlosigkeit, in dem immer nur ein Motiv
improvisiert wird: dass es bald schon weitergehen werde wie bisher.
Bald sind die Banken gerettet, dann können sie wieder mit
Quatschpapieren handeln. Bald ist das richtige Politikinstrument
– irgendwo muss es doch liegen – gefunden, dann wird,
Lieblingsvokabel des Politsprechs, die „Stellschraube“ angezogen,
und wir setzen die Fahrt fort wie zuvor, bitte entschuldigen und
verkennen Sie die Tatsache unseres anhaltenden Absturzes.
Gefahr kommender sozialer Krisen
Unsere Milliarden, die diversen Pakete, Schirme und Spritzen hätten
die Krise längst beeindrucken müssen. Aber Pustekuchen.
„Fast täglich“, schreibt Nobelpreisträger Paul Krugman über
die dilettierenden Politiker, „kramen sie eine neue Fahne hervor,
die sie den Mast emporziehen, um zu testen, ob jemand salutiert.“
Nichts passiert.
Politiker haben diese Krise nicht angezettelt und keinen Plan, sie
zu stoppen. Alle anderen schauen zu, geduldig und nett, wie
wir postmodernen Menschen heute sind. Es ist viel zu ruhig.
Zum Thema
Konjunktur: Die Realität ist schlimmer als die Prognosen
Es ist längst Zeit, das Staunen über die irrwitzige Geschichte
von den mehrfach gebündelten Schrottpapieren und den
kriminellen Systemen, die ihre Verbreitung zum Geschäft
gemacht haben, diesen Dealern mit gepanschten Finanzspritzen,
zu überwinden und das ganze Ausmaß der sich gerade voll
entfaltenden Weltkrise ins Auge zu fassen. Das monatelange
öffentliche Kümmern um die Banken hat wenig gebracht und führt
dazu, die akute Gefahr kommender sozialer Krisen zu vernachlässigen.
Wir haben bald ganz andere Probleme, abstrakt war letztes Jahr:
In Island führten Proteste der chronisch friedlichen Bevölkerung,
die langen schlechten Zeiten entgegensieht, zum Sturz der
Regierung, der auch nur ,abwiegeln‘ und ,weiter so‘ einfiel.
Es gab kein Axiom und kein Naturgesetz
Die angesehene Zeitschrift „Foreign Policy“ hat nun die Liste der
„nächsten Islands“ veröffentlicht, Staaten, bei denen sich
totale Überschuldung, politisches und wirtschaftliches Missmanagement
und ein kompletter Glaubwürdigkeitsverlust der Regierenden
krisenhaft zuspitzen. Nicaragua ist dabei, alle anderen aber liegen
in und bei Europa: Großbritannien, Griechenland, Lettland und die
Ukraine. Deren wachsendes Elend wird nicht stumm bleiben. Abgesehen
von Streiks, Demonstrationen, Unruhen und Plünderungen können
wir rassistische Ausschreitungen gegen Migranten und
Minderheiten, politische Instabilität, höhere Kriminalität und generell
eine um sich greifende Gewaltbereitschaft und Radikalisierung
erwarten. Diese Krise beschert uns zerfallende Gesellschaften in
unserer Nachbarschaft: Wo noch die Republik war, herrscht bald
die Mafia. Krise ist keine Frage von Blasen und Buchungen, da geht
es um durchgeheulte Nächte. Anderswo, unter den
chinesischen Wanderarbeitern und bei den Illegalen, die aus
Afrika nach Europa wollen, wird die Krise Leben kosten.
Zwei Metaphern kursieren, wenn offiziell von der Krise gesprochen
wird: Die vom Tsunami oder des „perfekten Sturms“, der über uns
gekommen ist, und, häufiger, die vom Giftmüll, jener „toxischen
Papiere“ in den „Kellern“. Der große Vorteil solcher Bilder ist
ihr naturwissenschaftlicher Ursprung. Moral, Gewissen und vor
allem das Strafrecht haben da nichts zu suchen. Im Mittelalter
wurden Tiere vor Gericht gestellt und Krankheiten verboten, also
wäre es in unseren Zeiten doch ein Witz, die Verursacher der Krise
mit dem Staatsanwalt suchen zu gehen. Bloß: Diese Krise ist
nicht natürlichen Ursprungs. Es gab kein Axiom und kein Naturgesetz,
welches eine Bank gezwungen hätte, Papiere zu kaufen, die auf
dem glücklichen Ausgang einer Wette auf den ewig steigenden Wert
von Riesenhäusern basierte, die man tagträumenden Erdbeerpflückern
und Putzfrauen angedreht hatte. Es gab bloß einen Wunsch nach
Rendite, und die steigt nun mal mit dem Risiko. Lag der ganze Witz
in diesen Systemen darin, die hohe Rendite vom Risiko zu trennen,
in dem man es der Öffentlichkeit eines Nachts gebündelt auf die
Straße kippt?
Darf man fragen, ob diejenigen, die die Risiken eingingen, je die
Absicht hatten, die Folgen eines negativen Ausgangs zu tragen? Ob
sie alles unternommen haben, frühzeitig zu warnen und den Schaden
zu begrenzen? Oder haben sie lange Jahre, in denen der Crash mit
guten Argumenten in vielen Büchern prognostiziert stand, kassiert
und weitergespielt mit der guten Gewissheit, ihr Institut, die ganze
Branche sei „too big to fail“?
Mehr faul als nur ein Stapel Papiere
Nichts gegen hohe Gewinne, aber wenn das Risiko dieser Spielchen
nicht von denen getragen wird, die den Gewinn kassieren, dann
ist die Spielanordnung ein Fall für den Staatsanwalt.
Es ist derzeit völlig offen, ob die Textur der Gesellschaft diese
Krise übersteht. Denn das Versagen der Banken war ja in der
herrschenden Ideologie, die sich als Wissenschaft tarnte, gar
nicht vorgesehen: Weniger Steuern und mehr Freiheiten für die
Tüchtigen, dann geht es allen gut. Doch wir sehen: Nirgendwo
gibt es so viele tüchtige und berühmte Millionäre wie in Kalifornien.
Hollywood und Silicon Valley ziehen Talente aus der ganzen Welt
an, und doch kann es sein, dass dieser reiche, dynamische Staat
bald seine Lehrer nicht mehr bezahlen kann. Da ist mehr faul als
nur ein Stapel Papiere. Wie lebt der Kalifornier, zu dessen
Betriebssystem das große Versprechen auf ewige Verbesserung
gehört, mit einer dauerhaft verbauten und überschuldeten Zukunft?
Die deutsche Gesellschaft hat auf die Krise erst mal recht liebevoll
reagiert: Jemand ist süchtig geworden, hat alles Geld verbraucht
und verlangt nun nach mehr. Also räumt man die Schränke aus,
um ihm über die nächsten Tage zu helfen. So haben wir, obwohl
der Haushalt fast ausgeglichen war, Schulden gemacht und
Bürgschaften abgegeben, wie in den „Kindern vom Bahnhof Zoo“
die Freunde den Junkies Rotwein und Hustensaft gemixt haben
– um die Schmerzen zu lindern.
Warum sollen wir eure Schulden zahlen?
Aber so kann es nicht weitergehen. Die Republik kann nicht länger
koabhängig sein und muss auf die systemische Krise mit einem
Systemwandel reagieren. Dem muss eine klare und öffentliche
Analyse der Ursachen dieser Krise vorausgehen. In Washington
wurden ja bereits parlamentarische Anhörungen vorgenommen,
wenn Konzerne Steuergelder oder Garantien wollten. Es waren
wichtige Anhörungen, auch für die Branchen selber: Die
amerikanischen Autohersteller haben etwa erkannt, dass es besser
kommt, wenn sie von Detroit nach Washington mit dem Auto fahren,
als wenn jeder Boss seinen eigenen Firmenjet nimmt. Und die
Öffentlichkeit, darunter ja auch die Beschäftigten der
betroffenen Unternehmen, konnte sehen, wie die Verantwortlichen
bei ganz normalen Fragen in Schwierigkeiten gerieten, etwa nach
dem Verwendungszweck für die beantragten Gelder. Die
Führungsebene hat das Vertrauen der Aktionäre und der
Belegschaft missbraucht, das wurde da klar, aber einem Land
von Erwachsenen kann man solche Erkenntnisse nicht ersparen.
Angst vor dem Sozialismus rechtfertigt nicht das Vertuschen der
Fehler der Kapitalisten. Auch nach den Attentaten
vom 11. September 2001 hat der amerikanische Kongress
einen Untersuchungsausschuss eingesetzt. Die dort
vorgetragene öffentliche Entschuldigung des einstigen
Terrorabwehrchefs Richard Clarke für das Versagen der für den
Schutz der Bürger verantwortlichen Exekutive war eine wichtige
Etappe der nationalen Traumaverarbeitung.
Es ist ein Skandal, dass der Bundestag zwar Gelder in Höhe
der Wiedervereinigungskosten bereitstellt, aber nicht mal e
inen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einsetzt, um
zu fragen, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Und ob
es im Privatvermögen der Verantwortlichen nicht noch Reserven
gibt, die man zur Begleichung des entstandenen Schadens
heranziehen könnte, etwa in Form einer Härtefallstiftung für
kleine Betriebe oder ländliche Gemeinden? Die Bürger wollen
wissen, was war. Schon bald wird an den Küchentischen der
Nation das große Rechnen und Grübeln einsetzen, und bald
darauf kommt man auch in Deutschland auf die Frage, die die
italienischen Studenten längst stellen: Warum sollen wir eure
Schulden zahlen?
Um die Gesellschaft vor Unruhen und kalten Bürgerkriegen zu
bewahren, muss ein großer Dialog begonnen werden. Das alte
System wird sich nicht fangen, für die Ramschpapiere gibt es
keinen Markt, und es wird auch keinen mehr geben.
Mit gouvernementalem Herumfuchteln in Klüngelrunden,
um irgendwelche Stellschrauben zu befingern, ist nichts mehr
zu gewinnen. In solch einer Lage kann es einen Fortschritt nur
geben, wenn man sich von ideologisch begründeten Prinzipien
verabschiedet und all das stärkt, was Gemeinsinn stiftet.
Geld verleiht keinen Sinn
Wäre es undenkbar, eine Bank untergehen zu lassen und mit
den Rettungsmilliarden lieber ein neues Institut mit weniger
krimineller Energie zu gründen?
Es ist unklar, welche politischen Kräfte das überstehen werden.
Attac hat mit der jahrelangen Kampagne gegen die Zocker an
den Finanzmärkten präziser gearbeitet als die im Bundestag
vertretenen Parteien. Die müssen schon deutlich machen, dass
man sie hinters Licht geführt hat, sonst gibt es keinen Grund mehr,
diesen braven Begleitern eines wahnsinnigen Marktgeschehens zu
folgen. Die Leute werden sonst dieselben Schlüsse ziehen, die schon
die Bürger Argentiniens gezogen haben: „Ihr alle müsst gehen!“ war
da der Slogan.
Symbolische Handlungen sind heute wichtiger, als Milliarden zu
versprechen, die eh kein Mensch mehr hat. Die Wirksamkeit
symbolischer Gesten auch auf den verfahrensten Politikfeldern
belegt die Wissenschaft: Von 2004 bis 2008 haben die
amerikanischen Anthropologen Scott Atran und Jeremy Ginges
viertausend Akteure des Nahostkonflikts an einem Test teilhaben
lassen: Sie sollten erklären, welche Handlung der Gegenseite,
also der Palästinenser oder Israelis, sie als wichtigen Fortschritt
anerkennen würden. Zu beurteilen hatten sie drei Möglichkeiten:
Die Gegenseite bietet ihnen etwas mehr Land, oder sie erhalten,
gegen eigene moderate Zugeständnisse, eine wirklich
bedeutende internationale Finanzhilfe, oder aber die anderen
entschuldigen sich: Die Palästinenser für die Terrorakte und die
Israelis für die Vertreibung.
Schon die Nennung dieser dritten Möglichkeit soll selbst von den
grimmigsten Gestalten auf beiden Seiten mit Erleichterung
aufgenommen worden sein, in erdrückender Mehrheit wurde
diese Option bevorzugt. Sich den Verzicht auf heilige Ansprüche
bezahlen zu lassen, dieser Vorschlag rief oft Abscheu hervor.
Geld verleiht keinen Sinn.
Text: F.A.Z.
Bildmaterial: AP