Aktuelles
  • Hallo Neuanmeldung und User mit 0 Beiträgen bisher (Frischling)
    Denk daran: Bevor du das PSW-Forum in vollen Umfang nutzen kannst, stell dich kurz im gleichnamigen Unterforum vor: »Stell dich kurz vor«. Zum Beispiel kannst du dort schreiben, wie dein Politikinteresse geweckt wurde, ob du dich anderweitig engagierst, oder ob du Pläne dafür hast. Poste bitte keine sensiblen Daten wie Namen, Adressen oder Ähnliches. Bis gleich!

Montagu Norman - Erzählung (Fragment)

PSW - Foristen die dieses Thema gelesen haben: » 0 «  

T

Turandot

Montagu Norman - Erzählung (Fragment)

[COLOR="DarkRed"]Montagu Norman[/COLOR]


[COLOR="Gray"]ein Erzählungsfragmet von Turandot[/COLOR]














Zu jung, um mit der Sorge bekannt zu sein, und zu gelassen, um die Neugier zu kennen, lief er abends nach Hause. Die Bibliothek hatte ihn als letzten ausgeatmet und ihre Tore geschlossen. Überall war es dunkel und die Geschäfte machten zu. Eine junge Verkäuferin holte ihren Postkartenständer in den Laden. Über die Schwelle war er nicht leicht zu rollen, aber das war eine ehrliche Anstrengung. Schön anzusehen und wie aus einem Roman. In sich entfernt und heiter in seinen Zusammenhängen, überquerte er die Straße. Löwenskulpturen hatten ihre Mäuler heroisch aufgerissen. Auf der Brücke sah Paul zum Fluss hinab, dachte: „Brise Marine“, und ging weiter. Es war gut in dieser Stadt, wenn es finster wurde. Nur hier und da ein helles Fenster oder eine Leuchtreklame. Zum ersten Mal hatte ihm der Professor gesagt: „Ich habe Sie unterschätzt.“ Es hatte nichts mit Kindlichkeit zu tun, wenn er sich darüber freute, denn Prof. Karthäuser war die größte Kapazität der Uni.
Eine schön frisierte Blondine lief in ein Café, andere Menschen begrüßten sich. Ein Obdachloser schlich vorüber und hustete. Das war eben die Stadt, die Realität. Paul öffnete weit die Augen, um alles zu bemerken. Die Straßenbahn fuhr leuchtend und lärmend vorbei mit ihren ordentlichen und unordentlichen Menschen. Er mochte ewig so weiter laufen, umso weiter wurde sein Herz. Ab und zu schaute er in die Wohnungsfenster, um zu sehen, ob er Buchtitel in den Regalen erkennen konnte. Was die Leute wohl lesen mochten?
Zu Hause schaltete er seine Schreibtischlampe an und nahm sein Telefon, um Anne zu erzählen, zu welchem Thema er promovieren wollte. Leider war sie nicht da. So las er weiter über den Crash von 1929, machte sich zahlreiche Notizen auf kleinen Klebeblättern und ging schließlich schlafen mit dem Gefühl, mehr verstanden zu haben. Montagu Norman, Chef der Bank of England. Ein sonderbarer Mann fürwahr. Er schlich durch die Geschichte der Menschheit mit dem falschen Namen Professor Skinner.
Ein Journalist trat an ihn heran: „Sind Sie Professor Skinner?“
„Ja.“
„Schön Sie kennen zu lernen, ich bin Montagu Norman!“

Paul legte sich müde ins Bett und schlief fast sofort ein. Doch nach kurzem wachte er auf, als hätte man ihm einen Elektroschock versetzt. Er wunderte sich über sich selbst, legte sich wieder hin, doch er konnte nicht schlafen. Um zwei Uhr nachts sah er besorgt auf die Uhr. Er begann zu husten. Jedes Mal, wenn er sich auf den Rücken legte, musste er husten. Wenn er sich aber nach links drehte, revoltierte die ganze Körperseite mit Schmerzen. Auf der Rechten war es aber nicht ewig auszuhalten. Er bekam schließlich Atemnot und stand auf. Lesen konnte er jedoch auch nicht mehr recht. Die Dawes-Kredite, die 1930 unablässig in das komatöse Deutschland gepumpt wurden, waren ausgeschöpft: Die Amerikaner wollten ihr Geld zurück. Plötzlich und vollständig hörten die Käufe deutscher Sicherheiten auf.
Paul wünschte sich nur noch den Schlaf, er drehte sich von einer Seite zur anderen, er hustete, doch er meinte, nicht in die richtige Tiefe zu husten. Sein Husten war trocken und wie unbegründet, doch er merkte, dass sein Husten sehr wohl einen Grund hatte, nur steckte dieser so verteufelt tief im Hals, dass nichts zu machen war. Als er ohne Übergang zu träumen begann meinte er, dass sein Husten rein politisch sei, er fühlte sich als das Ergebnis mehrerer Zinserhöhungen der Zentralbanken. Die ganze Nacht grübelte er, wie es die Zentralbanken geschafft hatten, ihm einen Husten zu verpassen. In manchen, wenigen Momenten schien ihm dies nicht wahrscheinlich. Aber die meiste Zeit war er vollständig überzeugt von der Macht fiskaler Maßnahmen und sein ganzer Organismus befand sich in einer Kreditklemme. Die Beine wollten nicht die gewöhnliche Form behalten, sie schienen auseinanderzufallen, dann begann er vor Kälte zu zittern. Doch auf ein Mal wurden seine Füße heiß wie durch Höllenfeuer. Sein ganzer Körper entflammte ebenfalls. Am morgen hatte er hohes Fieber und konnte sich kaum bewegen. Er machte sich einen Tee, den er zur Hälfte vergoss. Er trank einen Schluck und versuchte zu schlafen. Doch die Sonne schien ihm ins Gesicht und Vorhänge hatte er keine. Anne war immer noch nicht erreichbar. Er rief sie drei Mal hintereinander an, weil er glaubte, sich verwählt zu haben. Dann versuchte er zu lesen, aber er konnte kein einziges Mal den Zeilenanschluss finden. Nichts ergab mehr einen Sinn. Er nahm sich ein Lineal zur Hilfe und rutschte vorsichtig, Zeile für Zeile hinunter. Norman wartete. Es war ein langsamer Prozess der Erstickung, den er in England bemerkte, aber in viel stärkerem Maße noch in dessen Kreatur Deutschland. Die politische Verzweiflung war sehr weit gekommen und so beschlossen Deutschland und Österreich einen Zollverein zu gründen, um die wirtschaftliche Dürre zu überwinden. Doch am 11. Mai erlitt die österreichische Kreditanstalt den vollkommenen Zusammenbruch und mit ihr kollabierte das gesamte Bankensystem.

Paul blickte umher. Er verfolgte die Musterungen der Wand auf allen Wegen, sie bogen sich, trafen sich, explodierten oder verschwanden einfach und seine Augen irrten herum, in rastlosem Galopp. Die Bücher schienen zu ungeordnet und gaben daher keinen Halt, sondern nur sonderbare Linienführungen, Blätterhaufen lagen auf dem Boden, der Wind hatte das Papier vom offenen Fenster weggeweht. Eine Fliege ging auf seiner Bettdecke, doch ihm war, als ob sie mitten durch seine wunde Seele schritt oder schnitt.
Die Spinne an der Wand, die sich so gespenstisch langsam bewegte, taufte er Norman. Norman verbrachte den ganzen Tag damit, empor zu kriechen und sich ab und zu, in überstürzten Zinssenkungen, hinabzustürzen mit seinem unsichtbaren Seil.
Nach langen Schmerzen, kam der Körper unverhofft in eine Ruhestellung. Paul sah zur Decke und dachte aus Dankbarkeit gar nichts mehr. Er hörte zwei Lieder gleichzeitig und dachte an interkontinentale Inkontinente. Das klingelnde Telefon war zu weit weg und als sich Paul wirklich aufgerichtet hatte, um es holen, da war wieder Stille.
Als es später an der Tür klingelte, beeilte er sich zu öffnen, da er hoffte, es sei Anne. Und sie war es auch.
„Du hast mich zwölf Mal angerufen? Was ist denn los?“ Sie hatte eine neue violette Jacke an, ihre schwarze, kleine Tasche schaukelte an ihrer Seite und sie roch stark nach Parfum. Vielleicht roch sie immer so, vielleicht aber zum ersten Mal.
„Das kann nicht sein, dass ich dich … zwölf Mal? Nein … Das war, weil ich mich verwählt habe … Ich w…“
„Paul? Wie siehst du aus? Was ist los mit dir?“
Sie legte ihre Hand auf seine Stirne und er merkte, wie stark er schwitzte. Ihre Finger klebten an seinem Gesicht.
„Du bist ja völlig fertig, so habe ich dich noch nie gesehen. Warst du beim Arzt? Jetzt leg dich erst mal hin.“
Sie begann aufgeregt hin und her zu laufen, machte Tee, räumte auf, plauderte, um es ihm leichter zu machen. Er wollte nicht, dass sie aufräume, erst jetzt wurde er sich seiner dämlichen Lage bewusst, aber bevor er etwas sagen konnte, war er schon eingeschlafen. Ihr großes Gesicht neben ihm, er wollte es anfassen, aber seine Hand schwitzte aus allen Poren, er wagte es nicht und schlief vielleicht wieder, vielleicht nicht ganz.

Er erwachte in ganz neuer Ruhe und richtete sich im Bett auf. Anne kam herbei, sie hatte ihm ein Tablett hergerichtet mit Medikamenten und Süßigkeiten. Es war rührend aber unerträglich. Sie kannten sich erst drei Monate. Ihr Profil war ihm fremd. So hatte er sie noch nicht gesehen.
Sie tropfte etwas auf einen Löffel und hielt ihn diesem hin mit den Worten: „Ich war unten in der Kleeapotheke und die Frau meinte, das wäre rein hömopathisch, rein natürlich sozusagen! Probier das doch mal, wenigstens. Ansonsten wusste ich nicht, was du magst, deswegen habe ich einfach bei der Bäckerei Wolf von allem eins geholt.“
„Ich wünschte, du würdest dir nicht so viel Mühe machen. Ich bekomme ein Mal pro Jahr eine Grippe, da passiert nichts. Lass gut sein.“
„Lass gut sein! Ich hatte deine Nummer zwölf Mal auf dem Handy, da soll sich einer nichts denken, wie!“
Gekränkt ging sie ins Nebenzimmer und kam eine halbe Stunde nicht zurück. War es eine halbe Stunde? Als sie zurückkam, sagte sie nichts, zwang ihn aber die ´hömopathischen´ Mittel zu nehmen, wie sie immer falsch sagte. Er traute sich nicht, sie anzureden, denn er war sich nicht sicher, ob er unter ihren geschminkten Augenwimpern eine Träne gesehen hatte.
Doch ihre Stimmung hellte sich von selbst auf und sie begann: „Ach, weißt du was! Ich habe vor ein paar Tagen eine Frau kennen gelernt, die ist so toll, du musst sie kennen lernen. Also schwarze Haare hat sie bis hier …“
Sie zeigte mit beiden Zeigefingern in die Hüften. „Und ihr Pony geht bis hier“, und sie zeigte fast bis zur Nase. „Tanja heißt sie. Eine Künstlerin! Sie malt Bilder und hat mir sogar ihr Atelier gezeigt. Ich sage dir: wir haben vierundzwanzig Stunden pausenlos gesprochen. Naja, oder zwölf, ich weiß nicht. Aber wir verstehen uns blendend! Normalerweise habe ich es nicht so mit den Frauen, weißt du, weil die meistens neidisch und ungut sind. Aber Tanja wird vielleicht meine erste beste Freundin.“
So plauderte sie weiter und er freute sich an ihrem Lachen und ihren schönen Lippen. Dann sprang sie auf, denn sie musste zur Arbeit.
„Aber geh zum Arzt, wenn es dir nicht gut geht! Versprich! Ciao! Ich ruf dich an!“
Nachdem sie die violette Jacke angezogen hatte, schickte sie ihm einen Luftkuss und verschwand. Die Türe schnappte zu. Und er begriff, dass er sie wirklich hatte sehen wollen. Nur nicht so.

Als er wieder, fast gesund, bei seinen Fußnoten saß, dachte er immerzu an Anne. Es bleibt bis heute ein Geheimnis, wie das österreichische Bankensystem zusammenbrechen konnte. Es gibt obskure Hinweise auf ´überkreuzte´ Anlagen zwischen den österreichischen Banken und amerikanischen und englischen Kreditinstituten, die 1929 ins Leben gerufen wurden. Noch ist es unbekannt, welche Rolle dieses System vielleicht gespielt haben kann. Drei Wochen später griff die Krise auf Deutschland über. Die Reichsbank beschuldigte Ausländer des ´Runs´, während die Federal Reserve den Deutschen die Schuld gab, ihr Geld zu exportieren. Wie dem auch sein mochte: Das Geld floh. Und Norman wusste, dass England als nächstes dran sein würde.


Die beiden Mädchen saßen nah an einander wie zwei Tauben. Die schwarzhaarige Halbrussin kämmte sich mit den Fingern pausenlos die Haare aus den Augen und sie sagte: „Nachdem ich alle meine Gedichte zerrissen hatte, meinte Njuscha dann: Medea! Du frisst deine Kinder!“ Anne meinte: „Ich weiß nicht, ich fand das schön. Ich meine, ich fand dich schön, wie du die Blätter zerrissen hast.“ Sie tranken Wein und die Mädchen lachten über ihre Depressionen.
Paul war perplex, dass seine Anne (´Njuscha´) genug von griechischer Mythologie verstand, um den `Medea`- Vergleich zu ersinnen. Und auch sonst befand er sich in vollkommener Dunkelheit. Seit einiger Zeit hatte er das Gefühl, nichts von Wirtschaft zu verstehen. Und das, obwohl er sich Tag und Nacht mit nichts anderem beschäftigte und hinlänglich intelligent war. Er geriet ins Grübeln und hörte nur von weitem das Lachen der Mädchen. Sie sind zu jung, dachte er.
„Ihr seid zu jung“, sagte er. „Ihr versteht von Depressionen nichts. Von wirtschaftlichen Depressionen. Es ist etwas anderes, wenn die Grundlage für das Leben plötzlich vernichtet ist.“
Ein unangebrachter Kommentar, der zunächst verständnisloses Schweigen auslöste.
„Aber da kann man doch nichts machen!“, meinte die Russin. „Man kann nicht mehr verstehen, als man versteht, und deshalb mache ich mir keinen Kopf, wegen Dingen, die ich nicht beeinflussen kann.“
„Ich finde das auch ziemlich unfair, Paul. Jeder war mal jung. Und jeder macht seine eigenen Erfahrungen.“
Wie demonstrativ packten sie schließlich ihre Hefte aus und begannen Verse zu schreiben und zu lachen. „Du weinst ja Wein, du dichter Dichter!“ Sie kicherten wie Spatzen.

Die beiden Mädchen hatten viel getrunken und es gefiel ihm nicht. Er zahlte alles, ohne dass sie es bemerkten und kam dann zum Tisch zurück.
„Komm jetzt. Wir gehen nach Hause.“ Er reichte Anne die Hand und zog sie empor und der Abschied ging recht schnell. Auf der Straße wollte Anne ein Gedicht vorsagen und sie begann beschwingt mit den Worten: „Hier auf glatten Felsenwegen, lauf ich tanzend dir entgegen, tanzend, wie die pfeifst und singst, der du ohne Schiff und Ruder als der Freiheit freister Bruder über wilde Meere springst. Kaum erwacht, hört ich dein Grüßen, stürmte zu den … nein, kaum erwacht, hört ich dein Rufen … nein …“
Als hätte die frische Luft sie erst betrunken gemacht, taumelte sie bei ihm eingehakt und wollte plötzlich ein Taxi. Paul streckte seinen Arm aus und ein Taxi hielt an.

„Was ist das für ein Geräusch? Das klingt wie ein verstimmter Magen“, sagte Anne beim Aufwachen.
„Die Heizung. Ihr fehlt das Wasser.“
„Das rumort so laut!“
„Ist aber nix.“
„Weißt du, was komisch ist“, sie lehnte sich auf. „Gestern waren zwei Blitze in meinem Zimmer. Drinnen, ohne Witz. Und zwar genau dann, als draußen ein Gewitter war. Wie kommt das?“
„Weiß nicht.“
„Sag mal, war Tanja aber gestern nicht beleidigt, oder?“
„Weiß nicht, kann ich mir schlecht denken.“















.
 

Wer ist gerade im Thread? PSW - Foristen » 0 «, Gäste » 6 « (insges. 6)

Neueste Beiträge

Chrupalla bei Illner -...
*Heiterkeit. Diese " Durchmischung " bekämpft immer noch das Gesetz. Nein Schelm, das...
Hallo liebe Sportsfreunde
20 Jahre, exakt in diesem Jahr. Seit 2004 nix mehr. Extra Tischntennis Schläger 2013...
Die totgesagte Welt
Der herrschende Materialismus betrachtet den Menschen und die Welt als sinn- und leblose Apparaturen.
Sektor für Sektor
Oben