...Denn Kunst ist dem Wesen nach interpretierbar und das bleibt so. Wenn etwas eine vorbestimmte Bedeutung hat, dann handelt es sich um Abgrenzung und damit um Unfreiheit. Eine Gesellschaft lässt sich so nicht aufbauen...
Okey, damit wir nicht auf abstrakte Ebene bleiben: Wenn man ein Bild betrachtet, ein Lied hört, ein Buch liest, ist es vorbestimmt, weil auf bestimmte Sinne, Gefühle, Vorstellungen, Themen sich orientiert. Ich behaupte sogar, dass in jedem Kunststück handelt sich um eine Abgrenzung (was Du zwangsläufig mit Unfreiheit verbindest), weil das Thema aus der Realität oder Ideenwelt gegriffen wird und von ihr isoliert zu Show gestellt, unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Somit haben wir ein Paradebeispiel von Dialektik: Mit einem Fall der Unfreiheit wird eine neue Ebene der Freiheit – der Interpretationen – eröffnet.
Die Biologie liefert unzählige Beispiele dazu. Im Grunde jede biologische Art ist eine Begrenzung, innerhalb der sich neue Freiheit entfaltet. Jede Entscheidung ist eine erzwungene Begrenzung der Freiheit. Als junges Mädchen war ich sehr unglücklich, ich fühlte mich unfrei, weil ich in meinem künftigen Leben nur heiraten oder nicht-heiraten, studieren oder nicht-studieren könnte. Jetzt schmunzele ich darüber, damals fühlte es aber wie eine Freiheitsberaubung
. Man steht auf eine Kreuzung, auf dem entschieden werden muss, wie man weiterfährt. Macht man die Entscheidung, hat man eine Freiheit entdeckt, die bei dem anderem Weg ausgeschlossen wäre, mindestens nicht in der Form.
Wenn man Propaganda in Diskussion einbeziehen will, müsste man verstehen, dass jede Wahrnehmung beruht auf eine Art Propaganda. Unsere Sinne filtern, sie nehmen die Umgebung
selektiv ein. Das Gleiche betrifft unsere Kognition, unseres Denken. Jedoch keiner von uns wird wohl es beschimpfen wollen. Im Grunde müsste man konstatieren, dass wir nehmen wahr nur deshalb, weil wir im Stande sind zu selektieren. Dass jemand die Technik unserer Wahrnehmung für sich benutzt, auf uns bestimmten Einfluss zu nehmen, DAS verurteilen wir als Propaganda. Wobei auch eine Werbung ist Propaganda. Wir beschimpfen es – manchmal, dennoch nicht verurteilen. Unsere Erziehung der Kinder ist wohl auch eine Art Propaganda, wir lenken, kanalisieren Nachwuchs, üben seine selektive Fähigkeit im unserem (gut gemeinten) Sinne zu nutzen.
Was Marx betrifft, verstehe ich – neben dem dialektischen Materialismus – seine Aufklärung darüber, wo der größte gesellschaftliche Bruch sich befindet, als sein großer Beitrag eben in deren Entwicklung. Allein deshalb verdient er in der Reihe der größten Köpfe der Menschheit zu stehen, wenn auch seine große Vision als Utopie erwies. Jetzt ist mehr als je wichtig aus den Augen nicht zu verlieren, wo der gesellschaftliche „ozeanische Rücken“ sich befindet. Wenn auch das Kapitalismus sich strukturell verändert hat, das „ozeanische Rücken“ bleibt bestehen. In moderne Zeit wird es von vielem überschattet, in Hintergrund gedruckt. Daher mal wieder daran zu erinnern ist wichtig, wenn man richtige (im Sinne: Realität entsprechende) gesellschaftliche Analyse machen will. Es ist hier ohen Belang ob man rechts oder links sich anordnet. Im Grunde Unterschied in der "richtigen" Analyse besteht nur um die Beurteilung, die ein Lager wird wohl immer als "halbvoll" wahrnehmen, andere als "halbleer".
Übrigens auch der „Freie Markt“ in seiner Radikalität ist nichts anderes als Utopie. Er hat nie frei existiert, für seine Entstehung und Entwicklung benötigte er den Staat. In den letzten Jahrzehnten schien er sich von dem Staat weitgehend zu emanzipieren. Die große neoliberale Vision, den Staat aus dem Weg zu schaffen, schien greifbar nah zu sein. Die Überdehnung hat aber zur Spaltung sowohl des linken als rechtem Lager geführt, und jeweils ein wesentliches Teil von ursprünglichen Gegenstücke über großen Bogen (die Spiegelung des gekrümmten Raumes – gerader Linie – in der Gesellschaft) treffen einander. Dieser gesellschaftliche Bruch (die Verneinung bzw. Behauptung des Staates als selbständiges Akteur) war schon früher vorgezeichnet (Anarchisten und Nationalisten), dennoch praktische Dimension hat m. E. er nur jetzt erreicht. Um Missverständnisse zu vermeiden: "Praktische Dimension" des Faschismus als extremen Nationalismus zähle ich nicht dazu, weil dieses Phänomen markierte nicht den Bruch bzw. Schnittstelle Anarchisten-Nationalisten. Es war die Bruchstelle der Monarchie und aufsteigender Mittelschicht, wo es sich manifestierte und unter anderem auch durch internationale Wirkungen (also von außen) hat sich radikalisiert und verstärkt.
Aber zurück zum Marx. Es mag seine Utopie als falsch sich erwiesen, hat aber in der gesellschaftlichen Entwicklung
eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt. Es ist falsch, den Sozialismus nur auf ein gescheitertes Experiment zu reduzieren. Der Sozialismus – als ständige Gefahr am Horizont- ließ sich in politischem Pokern den linken Forderungen eher Zugeständnisse machen, als es ohne diesen Hintergrund passieren würde. Der Wohlfahrtstaat muss eigentlich als Ergebnis der Synthese des Kommunismus und Kapitalismus gesehen werden, nicht als Erfolg allein des Kapitalismus. Seit drei Jahrzehnten haben wir keinen externen Sozialismus (China geht anderen Weg der Synthese durch) und der Wohlfahrstaat zeigt erste Risse...