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L e i t s ä t z e
zum Urteil des Ersten Senats vom 15. Januar 2002
- 1 BvR 1783/99 -
1. Die Tätigkeit eines nichtdeutschen gläubigen muslimischen Metzgers, der Tiere ohne Betäubung schlachten (schächten) will, um seinen Kunden in Übereinstimmung mit ihrer Glaubensüberzeugung den Genuss von Fleisch geschächteter Tiere zu ermöglichen, ist verfassungsrechtlich anhand von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zu beurteilen.
2. Im Lichte dieser Verfassungsnormen ist § 4 a Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 des Tierschutzgesetzes so auszulegen, dass muslimische Metzger eine Ausnahmegenehmigung für das Schächten erhalten können.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1783/99 - Verkündet
am 15. Januar 2002
Achilles
Amtsinspektorin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn A...,
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Michael P. Stark und Koll.,
Gutzkowstraße 9, 60594 Frankfurt am Main -
1. unmittelbar gegen
a) den Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 9. September 1999 - 11 UZ 37/98 -,
b) das Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen vom 2. Dezember 1997 - 7 E 1572/97 (3) -,
c) den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Gießen vom 16. September 1997 - 17 c - 19 c 20/07 -,
d) den Bescheid des Landrats des Lahn-Dill-Kreises vom 7. Juli 1997 - 19 c 20/07 -,
2. mittelbar gegen
§ 4 a Abs. 1 und 2 Nr. 2 des Tierschutzgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 17. Februar 1993 (BGBl I S. 254)
hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat - unter Mitwirkung
des Vizepräsidenten Papier,
der Richterinnen Jaeger,
Haas,
der Richter Hömig,
Steiner,
der Richterin Hohmann-Dennhardt
und der Richter Hoffmann-Riem,
Bryde
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 6. November 2001 durch
Urteil
für Recht erkannt:
1. Der Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 9. September 1999 - 11 UZ 37/98 -, das Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen vom 2. Dezember 1997 - 7 E 1572/97 (3) - und der Bescheid des Landrats des Lahn-Dill-Kreises vom 7. Juli 1997 - 19 c 20/07 - in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des Regierungspräsidiums Gießen vom 16. September 1997 - 17 c - 19 c 20/07 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 4 Absatz 1 und 2 des Grundgesetzes. Der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs und das Urteil des Verwaltungsgerichts werden aufgehoben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
2. Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer die im Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
A.
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Erteilung von Ausnahmegenehmigungen für das so genannte Schächten, das heißt das Schlachten warmblütiger Tiere ohne vorherige Betäubung.
I.
2
1. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war in Deutschland das Schächten als Schlachtmethode nach jüdischem Ritus weithin erlaubt (vgl. dazu und zum Folgenden BGH, DÖV 1960, S. 635 f.). Die einschlägigen Regelungen sahen dafür überwiegend Ausnahmen vom prinzipiellen Verbot des Schlachtens ohne Betäubung vor. Nachdem der Nationalsozialismus im Deutschen Reich an die Macht gekommen war, gingen immer mehr Länder dazu über, das Schächten zu verbieten. Deutschlandweit wurde der Zwang, warmblütige Tiere vor der Schlachtung zu betäuben, durch das Gesetz über das Schlachten von Tieren vom 21. April 1933 (RGBl I S. 203) eingeführt, das nach den Feststellungen des Bundesgerichtshofs das Ziel verfolgte, den jüdischen Teil der Bevölkerung in seinen religiösen Empfindungen und Gebräuchen zu verletzen (a.a.O., S. 636). Ausnahmen vom Schächtverbot wurden nur noch für Notschlachtungen zugelassen.
3
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Schächten, soweit es nicht durch landesrechtliche Vorschriften ausdrücklich wieder zugelassen worden war, meist stillschweigend geduldet (vgl. Andelshauser, Schlachten im Einklang mit der Scharia, 1996, S. 140 f.). Eine bundesweite Regelung zum religiös motivierten betäubungslosen Schlachten wurde aber erst mit der Aufnahme des Schlachtrechts in das Tierschutzgesetz (im Folgenden: TierSchG) getroffen. Seit dem In-Kraft-Treten des Ersten Gesetzes zur Änderung des Tierschutzgesetzes vom 12. August 1986 (BGBl I S. 1309; zur aktuellen Fassung des Tierschutzgesetzes vgl. die Bekanntmachung vom 25. Mai 1998, BGBl I S. 1105, mit späteren Änderungen) enthält § 4 a TierSchG in Absatz 1 das grundsätzliche Verbot, warmblütige Tiere ohne vorherige Betäubung zu schlachten. Absatz 2 Nr. 2 sieht jedoch die Möglichkeit vor, aus religiösen Gründen Ausnahmegenehmigungen zu erteilen. Dabei wurde die Regelung der zweiten Alternative im Gesetzgebungsverfahren im Zusammenhang mit Speisevorschriften sowohl der jüdischen wie auch der islamischen Glaubenswelt gesehen (vgl. BT-Drucks 10/5259, S. 38).
4
§ 4 a TierSchG hat derzeit folgenden Wortlaut:
5
(1) Ein warmblütiges Tier darf nur geschlachtet werden, wenn es vor Beginn des Blutentzugs betäubt worden ist.
6
(2) Abweichend von Absatz 1 bedarf es keiner Betäubung, wenn
7
1. ...,
8
2. die zuständige Behörde eine Ausnahmegenehmigung für ein Schlachten ohne Betäubung (Schächten) erteilt hat; sie darf die Ausnahmegenehmigung nur insoweit erteilen, als es erforderlich ist, den Bedürfnissen von Angehörigen bestimmter Religionsgemeinschaften im Geltungsbereich dieses Gesetzes zu entsprechen, denen zwingende Vorschriften ihrer Religionsgemeinschaft das Schächten vorschreiben oder den Genuß von Fleisch nicht geschächteter Tiere untersagen oder
9
3. dies als Ausnahme durch Rechtsverordnung nach § 4 b Nr. 3 bestimmt ist.
10
2. Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Juni 1995 (BVerwGE 99, 1), in dem dieses die Ablehnung einer Ausnahmegenehmigung nach der zweiten Alternative des § 4 a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG bestätigte, verlangt diese Bestimmung die objektive Feststellung zwingender Vorschriften einer Religionsgemeinschaft über das Betäubungsverbot beim Schlachten. Erforderlich sei das eindeutige Vorliegen von Normen der betreffenden Religionsgemeinschaft, die nach dem staatlicher Beurteilung unterliegenden Selbstverständnis der Gemeinschaft als zwingend zu gelten hätten. Eine individuelle Sicht, die allein auf die jeweilige subjektive - wenn auch als zwingend empfundene - religiöse Überzeugung der Mitglieder einer Religionsgemeinschaft abstelle, sei mit Wortlaut, Sinn und Zweck sowie Entstehungsgeschichte des Gesetzes nicht vereinbar (vgl. a.a.O., S. 4 ff.).
weiter
https://www.bundesverfassungsgerich...idungen/DE/2002/01/rs20020115_1bvr178399.html
zum Urteil des Ersten Senats vom 15. Januar 2002
- 1 BvR 1783/99 -
1. Die Tätigkeit eines nichtdeutschen gläubigen muslimischen Metzgers, der Tiere ohne Betäubung schlachten (schächten) will, um seinen Kunden in Übereinstimmung mit ihrer Glaubensüberzeugung den Genuss von Fleisch geschächteter Tiere zu ermöglichen, ist verfassungsrechtlich anhand von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zu beurteilen.
2. Im Lichte dieser Verfassungsnormen ist § 4 a Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 des Tierschutzgesetzes so auszulegen, dass muslimische Metzger eine Ausnahmegenehmigung für das Schächten erhalten können.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1783/99 - Verkündet
am 15. Januar 2002
Achilles
Amtsinspektorin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn A...,
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Michael P. Stark und Koll.,
Gutzkowstraße 9, 60594 Frankfurt am Main -
1. unmittelbar gegen
a) den Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 9. September 1999 - 11 UZ 37/98 -,
b) das Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen vom 2. Dezember 1997 - 7 E 1572/97 (3) -,
c) den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Gießen vom 16. September 1997 - 17 c - 19 c 20/07 -,
d) den Bescheid des Landrats des Lahn-Dill-Kreises vom 7. Juli 1997 - 19 c 20/07 -,
2. mittelbar gegen
§ 4 a Abs. 1 und 2 Nr. 2 des Tierschutzgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 17. Februar 1993 (BGBl I S. 254)
hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat - unter Mitwirkung
des Vizepräsidenten Papier,
der Richterinnen Jaeger,
Haas,
der Richter Hömig,
Steiner,
der Richterin Hohmann-Dennhardt
und der Richter Hoffmann-Riem,
Bryde
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 6. November 2001 durch
Urteil
für Recht erkannt:
1. Der Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 9. September 1999 - 11 UZ 37/98 -, das Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen vom 2. Dezember 1997 - 7 E 1572/97 (3) - und der Bescheid des Landrats des Lahn-Dill-Kreises vom 7. Juli 1997 - 19 c 20/07 - in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des Regierungspräsidiums Gießen vom 16. September 1997 - 17 c - 19 c 20/07 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 4 Absatz 1 und 2 des Grundgesetzes. Der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs und das Urteil des Verwaltungsgerichts werden aufgehoben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
2. Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer die im Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
A.
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Erteilung von Ausnahmegenehmigungen für das so genannte Schächten, das heißt das Schlachten warmblütiger Tiere ohne vorherige Betäubung.
I.
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1. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war in Deutschland das Schächten als Schlachtmethode nach jüdischem Ritus weithin erlaubt (vgl. dazu und zum Folgenden BGH, DÖV 1960, S. 635 f.). Die einschlägigen Regelungen sahen dafür überwiegend Ausnahmen vom prinzipiellen Verbot des Schlachtens ohne Betäubung vor. Nachdem der Nationalsozialismus im Deutschen Reich an die Macht gekommen war, gingen immer mehr Länder dazu über, das Schächten zu verbieten. Deutschlandweit wurde der Zwang, warmblütige Tiere vor der Schlachtung zu betäuben, durch das Gesetz über das Schlachten von Tieren vom 21. April 1933 (RGBl I S. 203) eingeführt, das nach den Feststellungen des Bundesgerichtshofs das Ziel verfolgte, den jüdischen Teil der Bevölkerung in seinen religiösen Empfindungen und Gebräuchen zu verletzen (a.a.O., S. 636). Ausnahmen vom Schächtverbot wurden nur noch für Notschlachtungen zugelassen.
3
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Schächten, soweit es nicht durch landesrechtliche Vorschriften ausdrücklich wieder zugelassen worden war, meist stillschweigend geduldet (vgl. Andelshauser, Schlachten im Einklang mit der Scharia, 1996, S. 140 f.). Eine bundesweite Regelung zum religiös motivierten betäubungslosen Schlachten wurde aber erst mit der Aufnahme des Schlachtrechts in das Tierschutzgesetz (im Folgenden: TierSchG) getroffen. Seit dem In-Kraft-Treten des Ersten Gesetzes zur Änderung des Tierschutzgesetzes vom 12. August 1986 (BGBl I S. 1309; zur aktuellen Fassung des Tierschutzgesetzes vgl. die Bekanntmachung vom 25. Mai 1998, BGBl I S. 1105, mit späteren Änderungen) enthält § 4 a TierSchG in Absatz 1 das grundsätzliche Verbot, warmblütige Tiere ohne vorherige Betäubung zu schlachten. Absatz 2 Nr. 2 sieht jedoch die Möglichkeit vor, aus religiösen Gründen Ausnahmegenehmigungen zu erteilen. Dabei wurde die Regelung der zweiten Alternative im Gesetzgebungsverfahren im Zusammenhang mit Speisevorschriften sowohl der jüdischen wie auch der islamischen Glaubenswelt gesehen (vgl. BT-Drucks 10/5259, S. 38).
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§ 4 a TierSchG hat derzeit folgenden Wortlaut:
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(1) Ein warmblütiges Tier darf nur geschlachtet werden, wenn es vor Beginn des Blutentzugs betäubt worden ist.
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(2) Abweichend von Absatz 1 bedarf es keiner Betäubung, wenn
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1. ...,
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2. die zuständige Behörde eine Ausnahmegenehmigung für ein Schlachten ohne Betäubung (Schächten) erteilt hat; sie darf die Ausnahmegenehmigung nur insoweit erteilen, als es erforderlich ist, den Bedürfnissen von Angehörigen bestimmter Religionsgemeinschaften im Geltungsbereich dieses Gesetzes zu entsprechen, denen zwingende Vorschriften ihrer Religionsgemeinschaft das Schächten vorschreiben oder den Genuß von Fleisch nicht geschächteter Tiere untersagen oder
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3. dies als Ausnahme durch Rechtsverordnung nach § 4 b Nr. 3 bestimmt ist.
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2. Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Juni 1995 (BVerwGE 99, 1), in dem dieses die Ablehnung einer Ausnahmegenehmigung nach der zweiten Alternative des § 4 a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG bestätigte, verlangt diese Bestimmung die objektive Feststellung zwingender Vorschriften einer Religionsgemeinschaft über das Betäubungsverbot beim Schlachten. Erforderlich sei das eindeutige Vorliegen von Normen der betreffenden Religionsgemeinschaft, die nach dem staatlicher Beurteilung unterliegenden Selbstverständnis der Gemeinschaft als zwingend zu gelten hätten. Eine individuelle Sicht, die allein auf die jeweilige subjektive - wenn auch als zwingend empfundene - religiöse Überzeugung der Mitglieder einer Religionsgemeinschaft abstelle, sei mit Wortlaut, Sinn und Zweck sowie Entstehungsgeschichte des Gesetzes nicht vereinbar (vgl. a.a.O., S. 4 ff.).
weiter
https://www.bundesverfassungsgerich...idungen/DE/2002/01/rs20020115_1bvr178399.html