Aus einer fernen Galaxie: Forscher spüren erstmals Geisterteilchen auf
berliner-zeitung vor 6 Std.
Als 2016 die Entdeckung der ersten Gravitationswelle vermeldet wurde, versetzte das die Fachwelt in Euphorie. Denn damit war eine neue Art von Astronomie begründet – Gravitationswellen können völlig neue Erkenntnisse über den Kosmos liefern. Ähnlich Spektakuläres ist nun mithilfe eines geisterhaften Elementarteilchens gelungen, dem Neutrino: Ein riesiges Nachweisinstrument namens IceCube hat erstmals ein Neutrino aufgeschnappt, dessen Herkunft sich einwandfrei rekonstruieren ließ. Es entstand in einer knapp vier Milliarden Lichtjahre entfernten Galaxie in unmittelbarer Nähe eines Schwarzen Lochs.
Damit haben die Astronomen ein neues Werkzeug in der Hand – Neutrinos können bislang unbekannte Details
über kosmische Gewaltakte verraten. An der Entdeckung waren auch Berliner Forscher beteiligt. „Genau darauf haben wir gewartet – ein Schlüsselmoment für die Astronomie.“
Am vergangenen Donnerstag auf einer Pressekonferenz der National Science Foundation in den USA wirkt Olga Botner fast ein wenig sentimental. Die Astrophysikerin von der Universität Uppsala in Schweden zählt zu j
enen mehr als 300 Forscherinnen und Forschern aus 12 Ländern, die IceCube aufgebaut haben.
Sensoren am Südpol
Der größte Neutrinodetektor der Welt findet sich an einem höchst unwirtlichen Ort –
der „Amundsen-Scott“-Forschungsstation am Südpol.
„Selbst im antarktischen Sommer im Dezember wird es höchstens minus 20 Grad warm“, erzählt Markus Ackermann, Physiker am Forschungszentrum DESY in Zeuthen bei Berlin. „Dann können die Temperaturen aber auch schnell auf minus 30 oder minus 40 Grad fallen.“
Für die Detektion von Neutrinos jedoch sind das beste Bedingungen. Neutrinos sind geisterhafte Elementarteilchen, die lichtschnell und in Unmengen durchs All rasen, dabei aber kaum mit Materie interagieren. Manche dieser Geister kommen aus den fernsten Winkeln des Alls.
Für die Forscher sind es kosmische Kuriere, im Gepäck einzigartige Botschaften.
„Diese Neutrinos können im Prinzip von nichts aufgehalten werden“, erklärt Ackermann. „Selbst aus Regionen des Universums, aus denen wir sonst keine andere Information kriegen können, kommen diese Neutrinos zu uns, während Licht und alle andere Strahlung abgeblockt wird.“
Nur: Um die flüchtigen Kundschafter aufspüren zu können, braucht es ein gewaltiges Nachweisgerät – den IceCube-Detektor, eingesetzt in den drei Kilometer dicken Eispanzer am Südpol. Höchst selten stößt ein Neutrino mit einem Atomkern im Eis zusammen.
Dann entsteht ein schwaches, bläuliches Leuchten, das sich im Eis ungehindert ausbreitet. Dort stecken 5160 basketballgroße Spezialsensoren, verteilt über ein Volumen von einem Kubikkilometer, und fangen die Leuchtsignale auf.
Mehr als 100 Geisterteilchen aufgeschnappt
Die Bauarbeiten begannen 2005, fertig war der etwa 230 Millionen Euro teure Gigant Ende 2010. Drei Jahre später konnte IceCube die beiden ersten kosmischen Neutrinos registrieren. Die Begeisterung war so groß, dass ihnen die Forscher Spitznamen verpassten – Ernie und Bert, zwei Charaktere aus der Sesamstraße.
„Das war ein großer Spaß“, erinnert sich IceCube-Sprecher Darren Grant von der University of Alberta in Kanada. „Doch Ernie und Bert waren nur der Anfang. Danach kamen noch viel mehr, und wir benannten sie ebenfalls nach den Muppets – bis wir alle Namen durchhatten.“ Kermit, Grobi, Krümelmonster – sie alle sind nun verewigt in den Annalen der Neutrinophysik.
Bis heute hat IceCube mehr als 100 Geisterteilchen aus dem Kosmos aufgeschnappt. Das Problem: „Uns war zwar klar, dass diese Neutrinos aus den Tiefen des Weltalls stammen“, sagt Grant. „Aber wir wussten noch nicht, woher sie genau kommen und wie sie entstanden waren.“
Das Schwarze Loch
Genau das gelang den Forschern nun mit jener Messung, auf die sie so sehnsüchtig gewartet hatten. Erstmals konnten sie ein Neutrino mit einer Quelle im Kosmos verknüpfen, einem gewaltigen astronomischen Objekt.
Im September letzten Jahres fing IceCube ein hochenergetisches Neutrino auf, dessen Herkunftsrichtung die Fachleute genau messen konnten. Daraufhin gab das System automatisch einen Alarm an die internationale Astronomen-Gemeinde heraus. In der Folge schauten sich Teleskope rund um die Welt und auch einige Satelliten im Weltall diese Region genauer an. Was sie sahen, war ein besonderes Objekt – ein sogenannter Blazar.
Dahinter steckt ein supermassives Schwarzes Loch, das derart gewaltige Kräfte erzeugt, dass es ungeheure Mengen an Materie beschleunigt und ins Weltall bläst.
Unter anderem schnappte der Fermi-Satellit sogenannte Gammastrahlen auf, ebenso das Teleskop Magic auf den kanarischen Inseln. Insgesamt konnten 18 Teleskope das Objekt beobachten – eine astronomische Ringfahndung. „Das ist, als würde man Puzzle-Teilchen zusammensetzen, um schließlich ein klares Bild über dieses astrophysikalische Objekt zu erhalten“, sagt Darren Grant.
Erkenntnisse über Blazar-Funktionen möglich
Der Blazar, ein regelrecht galaktisches Monstrum,
befindet sich im Sternbild Orion und ist knapp vier Milliarden Lichtjahre von uns entfernt. Wenn er gewaltige Materiemengen ins All bläst, entstehen jede Menge Neutrinos.
Mittlerweile haben die Forscher sogar herausgefunden, dass auch frühere von IceCube erfasste Geisterteilchen aus dieser Quelle stammen.
Die Messaktion, die dieses Neutrino ausgelöst hat, wird der Fachwelt neue Erkenntnisse darüber bescheren, wie ein Blazar funktioniert.
Doch das, vermutet Grant, dürfte nur der Anfang sein. „Jetzt haben wir ein neues Frühwarnsystem, das Bescheid gibt, wenn sich irgendwo im Universum etwas Spannendes abspielt“, sagt der kanadische Physikprofessor. „Das ist wie mit den Gravitationswellen, die man vor einigen Jahren entdeckt hat. Auch sie geben anderen Teleskopen frühzeitig die Information, dass da etwas passiert.“
Ausbau der Anlage
Kollidierende Sternleichen, gewaltige Supernova-Explosionen, kosmische Teilchenbeschleuniger – über solche Extremprozesse sollen die Neutrinos künftig neue Details verraten.
Um die Möglichkeiten besser auszuschöpfen, tüfteln die Fachleute schon an den Plänen für eine Ausbaustufe von IceCube. „Sie soll nicht mehr einen Kubikkilometer groß sein, sondern bis zu zehn Kubikkilometer“, sagt Marek Kowalski, Physikprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Zu
sätzlich zu den vorhandenen 5 000 Kugeln wollen die Forscher 10 000 weitere Sensoren im antarktischen Eis versenken. Damit ließen sich noch energiereichere Neutrinos aufschnappen als bislang. Um das Jahr 2025 könnte „IceCube 2“ loslegen.
Dann soll auch eine zweite Anlage nach Neutrinos lauschen – ein Detektor namens KM3NeT, stationiert im Mittelmeer.
Er würde eine andere Himmelsrichtung überwachen als IceCube, dadurch könnten sich beide Teleskope ergänzen. „Dann hätten wir ein Teleskop im Süden und eins im Norden“, schwärmt Kowalski. „Für die Astronomie wäre das die Idealsituation.“
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