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Gelöschtes Mitglied 4754
ZEIT ONLINE | Lesen Sie zeit.de mit Werbung oder im PUR-Abo. Sie haben die Wahl. | https://www.zeit.de/wirtschaft/2023-07/usa-europa-wirtschaftswachstum-wohlstand-lebensstandard-lebenserwartungZeit.de schrieb:Reiches Amerika, armes Europa
Es war eine Schlagzeile, die ihre Wirkung zumindest bei mir nicht verfehlte. "Europäer werden ärmer, während Amerikaner wohlhabender werden", behauptete das Wall Street Journal auf seiner Titelseite vergangene Woche.
Das Leben auf dem Kontinent, der lange Zeit um seine joie de vivre beneidet worden sei, verliere nun rapide an Glanz, da die Kaufkraft der Europäer schwinde, hieß es da. Vielleicht bin ich als Europäerin zu empfindlich, aber ich glaube, einen gewissen hämischen Unterton zu vernehmen. Als Beleg für die These führte der Autor unter anderem an, die Franzosen würden weniger Foie gras essen und weniger Rotwein trinken, die Spanier beim Olivenöl sparen.
Die Finnen würden dazu angehalten, an windigen Tagen in die Sauna zu gehen, weil die Energie dann weniger teuer ist. In Deutschland sei der einst boomende Markt für Biolebensmittel eingebrochen und Fleisch- und Milchkonsum auf den niedrigsten Stand seit drei Jahrzehnten gesunken. Ob letzteres eine negative Entwicklung ist, sei einmal dahingestellt. Doch die Statistiken, die in dem Artikel angeführt werden, sind besorgniserregend.
Konsumentenausgaben etwa sind laut der OECD in der Eurozone seit Ende 2019 inflationsbereinigt um etwa ein Prozent zurückgegangen, während sie in den USA im gleichen Zeitraum um neun Prozent gestiegen sind. Noch vor 15 Jahren hielten die EU und die USA jeweils ein Viertel der weltweiten Konsumnachfrage, heute kommt die EU nur noch auf 18 Prozent, die USA erreicht dagegen fast ein Drittel. Die Kaufzurückhaltung auf dem alten Kontinent ist nachvollziehbar, denn die Löhne sind ebenfalls geschrumpft. In Deutschland seit 2019 um drei Prozent, in Italien und Spanien um 3,5 Prozent und in Griechenland sogar um sechs Prozent. In den USA dagegen sind die Löhne und Gehälter um sechs Prozent gestiegen, für die untersten Lohngruppen sogar um neun Prozent.
Die aktuellen Ursachen für Europas relative Verarmung sind kein Geheimnis. Es ist die Energiekrise, ausgelöst durch die Invasion Russlands in der Ukraine und das Ende der billigen russischen Erdgaslieferungen. Und während die Europäer mit der dadurch forcierten Energiewende kämpfen, sind die USA nicht zuletzt dank des umstrittenen Frackings zum größten Öl- und Gasproduzenten aufgestiegen.
Auch Europas Abhängigkeit vom Export erweist sich inzwischen als Schwäche, wie das Wall Street Journal vermerkt. So hängt rund die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts der Eurozone an Unternehmen, die ihre Güter und Dienstleistungen ins Ausland verkaufen. In den USA sind es gerade mal zehn Prozent der Wirtschaftsleistung. Da macht sich nicht zuletzt die Verlangsamung in China bemerkbar.
Aber der relative Niedergang Europas hat schon lange vorher begonnen. "Europa fällt hinter Amerika zurück und der Abstand wächst", lautete auch die Schlussfolgerung der Financial Times im vergangenen Monat. Als Beleg führte der Autor die Tatsache an, dass die US-Technologiekonzerne bis heute Europa beherrschen, ohne eine nennenswerte einheimische Konkurrenz. Die sieben größten Techunternehmen gemessen an der Marktkapitalisierung sind von Apple, Amazon und Alphabet mit der Suchmaschine Google über Microsoft bis zur Facebook-Mutter Meta alle in den USA beheimatet.
SAP ist das einzige Softwareunternehmen, das als Global Player noch mitspielt – und auch dort hat man das Cloud-Geschäft verschlafen. Bei Halbleitern, dem wichtigsten Baustein unserer modernen Wirtschaft, dominiert zwar die niederländische ASML den Ausrüstungsbereich, ansonsten sind die Europäer weit abgeschlagen. Das wird in Zukunft noch zunehmen, denn egal wie man zur künstlichen Intelligenz steht, wird KI künftig zu einer Schlüsseltechnologie. Und da führt der US-Hersteller Nvidia. Es mangelt bestimmt nicht an Ideen und Kreativität, aber meist an Kapital. Der tiefe und liquide Kapitalmarkt der USA ist – neben der staatlich geförderten Innovationspipeline an den Hochschulen – nicht zuletzt die größte Stärke der Amerikaner. Im Prinzip wäre Geld für Start-ups sicher vorhanden, man denke nur an die Tatsache, dass Deutschland auf dem Ranking der Länder mit den meisten Milliardären immerhin Platz vier erreicht.
Eine Studie des Thinktanks European Council of Foreign Relations warnte kürzlich davor, dass Europa auf dem Weg sei, ein amerikanischer Vasallenstaat zu werden. "In den letzten zehn Jahren ist die EU wirtschaftlich, technologisch und militärisch weniger mächtig geworden als Amerika", stellten die Autoren fest.
Soziale Probleme werden wirtschaftliche Stärke der USA unterminieren
Es gibt durchaus vieles, um das US-Amerikaner uns Europäer beneiden. Mögen die Autoren des Wall Street Journals und der Financial Times uns wegen unseres Lebensstils belächeln und dafür kritisieren, dass viele Europäer Freizeit und Wohlbefinden einen höheren Stellenwert einräumen als dem Verdienst. Tatsache ist auch, dass die europäische Lebenserwartung höher liegt als die der US-Bürger. In Europa liegt die Lebenserwartung von Frauen bei 84 Jahren, die von Männern bei 79. Dagegen ist die Lebenserwartung für Männer in den USA auf 73 Jahre und für Frauen auf 79 Jahre gefallen. Und der Abstand ist in den vergangenen Jahren gewachsen.
Das liegt an dem sehr ungleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung. Aber auch an Gewalt und Verzweiflung: Einer von 25 amerikanischen Fünfjährigen wird seinen 40. Geburtstag nicht erleben. Überdosen, Waffengewalt, Suizide und Unfälle durch gefährliches Fahren gehören zu den häufigsten Ursachen. Das sind Symptome tief verwurzelter sozialer Probleme, die irgendwann auch die wirtschaftliche Stärke unterminieren werden.
Für die Europäer gilt die umgekehrte Warnung: Um weiterhin unser gesünderes und erfüllteres Leben zu bewahren, müssen wir uns anstrengen, innovativer, dynamischer und produktiver zu werden.