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Über den Stil des inneren Monologs

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Turandot

Über den Stil des inneren Monologs

JEDER Stil ist widersprüchlich. Ich würde sogar sagen: Stil lebt hauptsächlich durch den Widerspruch. Aber freilich meine ich nicht einfache Ungereimtheiten, sondern Kräfte und Gegenkräfte, die sich die Waage halten können.

Ich mache mal ein paar Beispiele für innere Monologe:


1. Penelope (letztes Kapitel des Ulysses von Joyce):


Hier spricht eine Frau namens Molly Bloom. Sie liegt im Bett, kann nicht schlafen und wird von einer Wortwelle getragen: sie lästert gedanklich über alle möglichen Leute, gibt sich erotischen Phantasien hin, sinnlich und derb. Ihr Wortschatz ist beschränkt, umgangssprachlich und oft ordinär. Durch die Worte hindurch hört man ganz deutlich, wie sie sich ärgert, wie sie seufzt, wie sie fühlt, dass ihre Menstruation bald kommt etc.
Ich kann diesen Text täglich lesen ohne zu ermüden, es ist für mich wie ein langes Prosagedicht. Aber warum ist ein Schwall von Banalitäten und Vulgaritäten so poetisch? Wenn ich auf der Straße gehe und "Hey du verdammtes Arschloch, verpiss dich!" höre, dann gerate ich keineswegs in lyrische Zustände.
Das Geheimnis ist der Widerspruch zwischen Authentizität und Stilisierung.

In der Wirklichkeit reden Menschen chaotisch, unsere Sprache wird von tausend Quellen permanent beeinflusst. Mal reden wir umgangssprachlich, mal hochgestochen, mal professionell, mal verkaufsorientiert, mal zuckersüß-romantisch etc.

Aber in der Literatur muss das Stilchaos bis zu einem Grad gebändigt werden, eine durchscheinende Klarheit muss den Stil beherrschen. Das bedeutet nicht, dass man umso fester konstruieren muss (kann), es gibt keinen fehlerlosen Stil: zum Glück! Wie Jascha Heifetz sagte: "Man kann keine Oktave rein spielen, sonst hört man sie nicht."
Auch, wenn sich die Widersprüche die Waage halten, gibt es in jedem Stil regelrechte Fehler. Und es sind diese Fehler, die den Text vollenden, durchzittern, schön und menschlich machen. Jeder geniale Text hat seine Wunde und alle großen Werke der Literatur sind in gewisser Weise Fehlschläge. Aber Wunderschöne. Wunder ganz einfach.

Also, wenn Penelope auch umgangssprache spricht: es ist eine stilisierte Umgangssprache. Jedes Wort sitzt fest im Sattel, es ist eine stolze Parade von Banalitäten, nicht einfach Gelaber. Die Wortwiederholungen sind allesamt notwendig, halten den Stil zusammen und erschaffen vor den Augen des Lesers die Figur Molly Bloom.



2. Die Schule der Dummen (Sascha Sokolow)

Ganz besonders anschaulich, sind die Beispiele, bei denen der innere Monologist eine geistige Behinderung hat. Häufig geht es den Autoren (ohne dass sie so etwas Sentimentales zugeben würden) darum, die Gesellschaft als kalt und gemein darzustellen und den Dummen als den warmen und "im Herzen klugen". Da sind schon alle Widersprüche vorprogrammiert: die Dummheit sei klug und Klugheit dumm. Dabei ist jeder Schriftsteller eitel und wird nicht einfach ein dummes Buch schreiben. Oh nein. Außerdem steht die Frage im Vordergrund: wie macht sich der Geistesbehinderte der Leserschaft des Autors verständlich?
Hinzu kommt noch eine andere Ebene, die in fast jeder Literatur vorhanden ist: ein Autor möchte gemocht werden, für klug (und schön) gehalten werden. Gleichzeitig möchte er nicht, dass der Leser etwa seine Eitelkeit bemerke! (Diese Unmöglichkeit verwandelt alle "großen Männer", wie Thomas Mann zum Beispiel, in süße & menschliche Typen.)
Zurück zu dem Stil von Sokolow: sagen wir mal, das Buch wäre wie Musik. Hier singen mehrere Stimmen zusammen, übereinander, ineinander. Die Stimme des herzlichen Dummen, seine ganze Sensibilität und die ganze Kraft der Poesie, des Mitgefühls und die Bildung, die Eitelkeit, die Ansprüche & die Wünsche des Dichters. Der Leser ist sich dessen bewusst und es stört nicht. Natürlich entstehen auf diese Weise viele "Fehler" im Erzählen und unfreiwillige Komik. Aber wenn sich all diese verschiedenen Motivationen in fließende, gleichmäßige Sätze fügen, die dem Schriftsteller entsprechen und ihn jedes Mal von Neuem an seine innere Quelle bringen- dann ist es zum Wundern.



3. Das erste Kapitel von: The Sound and the Fury (William Faulkner)

Gepriesen sei die Sekundärliteratur! Entweder man liest das Buch mehrmals, oder man informiert sich vorher. Für den ersten Weg bin ich schlicht zu faul. Wer sagt mir, dass sich die Mühe lohnt? Ich bin nicht so gern Schülerin gewesen und so viel Respekt vor den Avantgardisten habe ich nicht.
Wieder spricht hier ein Geistesbehinderter (Benji, 33 Jahre alt). Seine geistige Anomalität besteht darin, dass er seine Erinnerungen nicht von der Gegenwart unterscheiden kann. (Ich weiß nicht, ob es ein solchen Phänomen in der Realität gibt, also wirklich klinisch ist, aber das kümmert hier nicht. Es geht um Stil.)
Das erschwert die Lektüre und hinzu kommt, dass mehrere unterschiedliche Leute, die gleichen Namen tragen. Aber das Kapitel ist ungemein strukturiert. Wenn man die biographischen Anhaltspunkte kennt, weiß man zu jedem Zeitpunkt ganz genau, wer gemeint ist, was passiert ist und wann das alles passiert ist.
Bestimmte Episoden werden mit bestimmten Leitmetaphern und Geschehenissen gekennzeichnet. Z.B als Benji fünf Jahre alt war: Feuer, Wasser, Spiegel, seine Namensänderung etc.
Ein weiteres dominantes (etwas aufdringliches) Element ist die Aufforderung still zu sein. "Still! Sei still! Sei endlich still!" Mit diesem Schlachtruf unterdrücken die Erwachsenen alle Gefühle und Regungen der Kinder (besonders Benjis). Er kommt in rythmischen Abständen immer wieder und scheint sich auch an den Leser zu richten.
Das verleiht der düsteren Stimmung noch eine weitere Bekemmung, Verklemmung. Und ebenso rythmisch ertönt das Weinen Benjis, der sich nach nichts anderem als nach der Liebe seiner Schwester Candace sehnt.
Wie Faulkner den Leser informiert hält, worum es geht: durch Dialoge. Jede Gegenwart und Erinnerung ist von Dialogen vollgespickt. Aus diesen Aussagen der verschiedenen Figuren kann der Leser mit relativ wenig kriminalistischer Begabung genau (meist) verstehen, was Sache ist. Zwar könnte er sich fragen: Aber wenn Benji nichts mitbekommt und nichts versteht, wie kann er dann alle Dialoge so wortgetreu widergeben? Na, es ist ja nicht Benji, der uns informieren möchte, es ist Faulkner. Außerdem ist ein Stil ohne Widerspruch unmöglich!
 

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