Hallo Olivia,
davon, daß ihm die Fahne "wichtiger" gewesen sei als die Frau, mit der er die Nacht vor seinem Tode verbracht hat, steht in der Erzählung nichts... Im Gegenteil: es ist die zutiefst fatalistische Einsicht, dem Hier und Jetzt nicht entgehen zu können, um nichts in der Welt: "EINER, der weiße Seide trägt, erkennt, daß er nicht erwachen kann; denn er ist wach und verwirrt von Wirklichkeit."
Ich halte es für grundsätzlich problematisch, gleichzeitig ein Werk interpretieren und einordnen zu wollen und dessen Rezeptionsgeschichte. Bisweilen unterscheiden sich die ursprünglichen Aussagen erheblich von dem, was spätere Generationen aus ihrer ganz spezifischen Sicht daraus herauslesen (wollen?)...
So spricht gegen die, eher der heutigen Zeit entsprechende Deutung, der junge Fähnrich habe sich am Ende aus freiem Antrieb für einen sinnlosen Tod um einer Fahne willen entschieden, die Szene mit der Rosenblüte: nachdem er von dem Franzosen erfahren hat, daß dieser eine Verlobte habe, fragt er:
"Aber zum Teufel, warum sitzt Ihr denn dann im Sattel und reitet durch dieses giftige Land den türkischen Hunden entgegen?" Der Marquis lächelt. "Um wiederzukehren."
Und bereits an dieser Stelle, also: BEVOR er die Fahne erhält, scheint ihm aufzugehen, daß es für ihn keine Rückkehr geben wird, aller Wahrscheinlichkeit nach. Denn Rilke schreibt weiter:
"Und der von Langenau wird traurig. Er denkt an ein blondes Mädchen, mit dem er spielte. Wilde Spiele. Und er möchte nach Hause, für einen Augenblick nur, nur für so lange, als es braucht, um die Worte zu sagen: »Magdalena, – daß ich immer so war, verzeih!« Wie – war? denkt der junge Herr. – Und sie sind weit."
Vergangenheit und Zukunft spielen im Grunde keine Rolle. Ein kurzer Moment der Trauer, wohl eher: Sentimentalität. Mehr nicht. Und schon geht es im Hier und Jetzt weiter. So weit, daß von dem blonden Mädchen auch dann nicht mehr die Rede ist, als er, aus einer Augenblickssituation heraus, die Nacht mit einer Fremden verbringt.
Das paßt gut zum Zeitgeist des ausklingenden 19. Jahrhunderts, hat aber wenig mit Patriotismus oder gar Heldenverehrung zu tun. Auch die zahlreichen biblischen Zitate und Bezüge bleiben weitgehend Staffage, es ist eher geprägt vom sich abzeichnenden Glauben ans Diesseits und der Abkehr vom Glauben an ein Jenseits.
Gruß -
Bendert
Vielen Dank für Ihr gutes Eingehen auf das Thema.
Es steht natürlich nicht explizit geschrieben, dass ihm die Fahne wichtiger gewesen sei als die Frau. Aber das ergibt sich einfach durch sein Tun, was normalerweise dazu hätte angetan sein müssen, einen Menschen zu retten. Und nicht die Fahne. Somit gilt er als "getreu bis in den Tod" - und zwar seinem Vaterland.
Und das war dann der Ausgangspunkt für gezielte Propaganda des Hitler-Regimes. 1936 schreibt Irene Betz über den Soldaten Max Schönauer, dem die Erzählung auf Französisch in die Hände fiel: "[...] Eine jähe Freude ließ mein Herz bis zum Halse schlagen, als hätte ich einen geliebten Menschen, nein, eine Geliebte nach langer Zeit pßlötzlich und unerwartet wiedergefunden. Ja, das war sie, die Weise von Liebe und Tod des Cornet Chritoph Rilke. [...] Der "Cornet" auf Französisch. Das zog sich nun vom Weltkrieg herüber in die Nachkriegszeit bis in diesen Krieg [...] Ich lächelte über mich selbst, als ich mich dabei ertappte, wie ich mit diesen großen französischen Buchstaben geradezu zärtliche Zwiesprache hielt."
Bei diesem Soldaten hatte sie gewirkt, ihn zutiefst beseligt, die "Weise von Liebe und Tod".
Eigentlich wurde immer schon der Begriff des "Ruhmes" mit dem des "Gewinns" gekoppelt. Siegte man und blieb am Leben, dann winkte Geld und die Liebe einer schönen Frau. Z.B. dann, wenn ein Ritter einen anderen im Kampf besiegte.
Und wenn Männer auf den Schlachtfeldern ihr Leben ließen, dann gab es immer auch eine Frau, die um ihn weinte. Eine Geliebte, eine Mutter. Jedoch musste die Liebe zu diesen zurücktreten, wenn es um die Liebe zum Vaterland ging. Das war die edlere Liebe.
Somit handelte der Cornet ideologisch korrekt. Er rettete nicht die Gräfin sondern die Fahne.
Krieg wurde zur romantischen Gewaltverherrlichung hochstilisiert. Man denke hierbei z.B. an Ernst Jünger der behauptete, dass sich die "Männlichkeit" im Tod manifestieren würde.
"Heldentum" wurde somit "verkauft", auf eine gefährliche Art in die Köpfe ruhmesbesessener Männer eingepflanzt. Die sich dann einer blutigen Idee opferten, die andere hatten und die ihn zum willigen Werkzeug machen.
Was das Frauenbild des von Langenau anbelangt, so gibt es in der Erzählung deren drei: Magdalene, die Jugendfreundin, die für ihn eher eine Art Schwester darstellte, die Gräfin als erotische Gespielin und die Mutter. Wobei dieses Frauenbild das Größte war. Man denke, wie er an einer Marienstatue vorbeiritt und die Mütze abnahm.
Die Menschen derzeit haben die Geschichte anders gelesen, wie Sie auch bemerken, aus ihrer Zeit heraus. Heute sind die Motivationsreden und Schriften der Zeit angepasst. De facto jedoch meinen sie das Gleiche: Es ist ehrenhaft fürs Vaterland zu "kämpfen". Das Wort "sterben wird tunlichst vermieden. Dass das mit zu den Möglichkeiten einer Ruhmgelangung gehören kann, das merken die Hinterbliebenen. Die sich dann den Orden des Verstorbenen ans trauerumflorte Bild heften dürfen.
Tempora mutantur.... Aber einige Dinge ändern sich nie.