Seit Februar 2013, kurz vor Hugo Chávez Frias’ Tod (5. März 2013), ist Venezuela Ziel wirtschaftlicher Sanktionen und administrativer Schikanen der USA. Und seit Anfang November 2017 sanktioniert auch die EU. Die mit 31 Millionen Einwohnern fünftgrößte Nation Südamerikas verfügt mit etwa 50 Milliarden Tonnen über die weltweit größten und, wohlgemerkt, tatsächlich anzapfbaren Ölreserven (Saudi Arabien: 34 Milliarden Tonnen). Venezuela zählt zu den wenigen ressourcenstarken Wirtschaftsräumen, die noch nicht unter US-amerikanischer Vormundschaft stehen und obendrein wirtschaftliche Beziehungen zu Russland und China pflegen. Ebenso Länder wie Bolivien, Iran, Syrien oder Simbabwe, die selbstredend auch mit Sanktionen belegt sind.
Die venezolanische Öl-, Gas- und Kohleförderung ist ausschließlich Sache des Staatsunternehmens Petróleos de Venezuela, S.A. (PDVSA) und seiner fünf Beteiligungsgesellschaften. Zu Zeiten des Öl-Booms garantierte das Erdöl etwa 50 Prozent der Staatseinnahmen.
Diese – und Hugo Chávez’ politisches Genie – ermöglichten den Aufbau der Bolivarischen Republik Venezuela auf breiter, direktdemokratischer und partizipativer Basis. Die Verfassung von 2000 schrieb die gesellschaftliche Neustrukturierung und das demokratische Prozedere fest. Besondere Bedeutung kommt neben den politischen Parteien den praxisorientierten Körperschaften der Bevölkerung zu.
Der Verfall des Ölpreises ab 2014 (von circa 110 auf zeitweilig 35 US-Dollar/Barrel, zurzeit bei 60 US-Dollar) führte zu schwerwiegenden wirtschaftlichen und innenpolitischen Konflikten. Versorgungsengpässe, Inflation und die Ängste der Verbraucher ermutigten eine von den USA dirigierte Opposition, den Regime Change anzugehen: mittels systematischer Maidanisierung, angezettelter Straßenschlachten, Zurückhaltung von Konsumgütern und medialer Desinformation.
Die Gewaltausbrüche dienten wiederum als Vorwand für US-Sanktionen. Die US-Regierung begründete sie mit (nicht nachgewiesenen) Menschenrechtsverletzungen der Regierung Maduro. Inzwischen ist auch der internationale Zahlungsverkehr Venezuelas sanktioniert und die Bonität des Landes von allen US-amerikanischen Rating-Agenturen auf Niedrigstwerte herabgestuft.
Aufgrund komplizierter Hochrechnungen erklärte die Agentur Standard & Poor’s am 14. November 2017 Venezuela zum Zahlungsverzugsfall. Die größte Handelsorganisation für außerbörsliche Papiere, International Swaps and Derivatives Association (ISDA), drohte PDVSA mit demselben Pranger – ohne faktische Grundlage.
Venezuela versichert dagegen weiterhin seine Bereitschaft zum Schuldendienst. Glaubwürdig: China leistet und verlängerte langfristige Kredite. Die Ölverträge mit Russland sind Sicherheitsfaktoren, das Land wird seinen strategisch wichtigen Partner kaum fallenlassen. Auch Maduros Neuformierung seines Kabinetts und die Festnahmen korrupter Funktionäre des PDVSA-Konzerns im November stärken die Regierung. Dennoch behindern die Sanktionen Venezuelas internationale Anleihe- und Börsengeschäfte und die Freizügigkeit seiner Entscheidungsträger. Auswirkungen auf die gesamte Ölindustrie sind nicht auszuschließen.
Öl ist aber die größte Energiequelle der Vereinigten Staaten; sie sind Venezuelas wichtigster Abnehmer. Präsident Trump (sein Außenminister Rex Tillerson war zuvor Boss von ExxonMobil ) droht seit Juli, die Venezuela-Importe zu kappen. Nicolás Maduro kontert kühl, dass er sein Öl auch im fernen Osten verkaufen könne. Im September 2017 setzte Venezuela seine Ölpreise erstmalig auch in chinesischen Renminbi (Yuan) fest.
Die Shanghaier Börse bereitet Öltermingeschäfte in chinesischer Währung vor; die VR China ist mittlerweile der weltweit größte Ölabnehmer überhaupt. Wladimir Putin erklärte schon im August 2017 den Petrodollar für passé und der russische Energieriese Rosneft, wiewohl (und trotz Gerhard Schröders Aufsichtsratsvorsitz) ebenfalls Objekt von US- und EU-Sanktionen, erklärte sich bereit, venezolanisches Öl weltweit zu vermarkten und damit US-amerikanischen Pressionen zu entziehen. Für zukünftige Lieferungen hat Rosneft sechs Milliarden Dollar vorgeschossen.
Pfand dafür ist die für Russland hochinteressante US-amerikanische PDVSA-Tochter Citgo Petroleum Corporation. Über diese nämlich konkurriert PDVSA direkt mit der US-amerikanischen Ölindustrie. Nebenbei: Bis zum Beginn der Sanktionen versorgte das populäre Citgo-Tankstellennetz bedürftige US-Bürger mit stark verbilligtem Heizöl. Von 2005 bis 2013 wurden 790 Millionen Liter an 1,7 Millionen Alte und Arme abgegeben, vor allem in Notstandsgebieten. Hugo Chávez unterstützte mit Öllieferungen unter Preis auch Staaten wie Paraguay, Bolivien oder Kuba.
In der Regel mittels Güter- oder Dienstleistungsaustausch und somit ohne Dollarverrechnung. Maduros aktuelles Interesse an einer eigenen digitalen Verrechnungswährung mit Erdöldeckung bedeutet eine weitere Verdrängung des Petrodollars. Der nur in US-Dollar mögliche Handel des wichtigsten Welthandelsguts zwang bisher alle Staaten, den Großteil ihrer Devisenreserven in Dollar anzulegen und sichert bis heute den Status des Dollar als globale Reserve- und Leitwährung.
Die Sanktionierungsstrategie der USA
Als Ende August 2017 die US-Regierung Venezuela, den Iran, Russland und Nordkorea mit weiteren Sanktionen bedachte, ironisierte der Wirtschaftswissenschaftler und Think-Tank-Stammgast Robert Kahn diese als „Swiss Army Knife of U. S. Foreign Policy“ (sinngemäß: Schweizer Taschenmesser der US-Außenpolitik). Kahn ist Mitglied des traditionsreichen Council on Foreign Relations (Rat für Auswärtige Beziehungen) in New York. Er stellt Sanktionen als überhandnehmendes „Zentralstück wirtschaftlicher Staatskunst“ (1) in Frage, das zunehmend die Glaubwürdigkeit der USA und die globale Wirtschaft insgesamt gefährde.
Das Schweizer Taschenmesser ist eine gute Sache, man macht aber damit weder Wegweiser noch Leuchttürme. Sanktionen bewirken eher das Gegenteil ihrer Absicht. Zwei Beispiele: Seit 1959 steht Kuba unter US-Embargo. Zeit genug, um der kleinen Nation ohne nennenswerte Ressourcen die Entwicklung einer solidarischen Wirtschaftsform und eines Menschenbilds zu erlauben, die dem Sozialismus weltweiten Respekt bewahrt haben und sich sinnfällig vom „American Way of Life“ unterscheiden. Chile: Um Salvador Allendes sozialistische Regierung (1970-1973) zu unterminieren, hatte US-Präsident Richard Nixon die berüchtigte Order „bringt Chiles Wirtschaft zum Schreien“ ausgegeben (2). Die Chilenen haben das „Made in USA“ der mörderischen Pinochet-Diktatur nicht vergessen. Dennoch entschieden sie sich beim zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen am 17. Dezember 2017 mit 54,5 Prozent für den Hedgefonds-Milliardär und US-Gefolgsmann Sebastián Piñera (3).
Intensiver noch als seine demokratischen Vorgänger (und nicht zuletzt aus innenpolitischen Gründen) betreibt Präsident Trump den Wirtschaftskrieg gegen Venezuela. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und Mercosur (der gemeinsame Markt Südamerikas unter Führung der nunmehr US-hörigen Schwergewichte Brasilien und Argentinien) ziehen mit. Bei den venezolanischen Gouverneurswahlen vom 15. Oktober entschieden sich dennoch 19 der 23 Bundesstaaten für die chavistischen Kandidaten. 308 der 335 in den Gemeindewahlen vom 10. Dezember gewählten Bürgermeister sind ebenfalls Chavisten. Der versuchte Wahlboykott dreier Oppositionsparteien ging daneben. Der Wähler am Ort weiß nämlich sehr genau, wer tatsächlich seine Interessen vertritt und wer beispielsweise die Belieferung der Lebensmittelläden hintertreibt. Präsident Maduro spricht weiterhin mit seinen Opponenten vor internationalen Zeugen. Die bisherigen Gespräche auf Santo Domingo sollen am 12. Januar 2018 weitergehen. Eine erste Annäherung zeichnet sich ab.
Den Leitmedien der „Westlichen Wertegemeinschaft“ zufolge ist das chavistische Venezuela längst bankrott und der Arbeiterpräsident Maduro ein skrupelloser Diktator. Sie unterschlagen die Grundinformation, dass die Bolivarische Republik Venezuela (wie der Plurinationale Staat Bolivien) ein historisch fundiertes egalitäres Gesellschaftmodell verwirklicht hat. Ziel und Maß ist die althergebrachte, präkoloniale Sozialethik, das gute Zusammenleben („buen vivir“) nach indigener Tradition, der verantwortungsvolle Umgang mit den Menschen und ihrer Umwelt. Die sozialen Prärogativen schließen dabei Freiraum für privatwirtschaftliche Initiative nicht aus. „Bolivarisch“ aber bedeutet auch lateinamerikanische Identität, Integration und internationale Solidarität – Resultate des Kampfes gegen den alten, europäischen, Kolonisator. Dem neuen, globalen, müssen sie erneut abgerungen werden.
Redaktioneller Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zweiwochenschrift Ossietzky, Heft 25/2017.
Quellen:
(1) Council on Foreign Relations, 24. Juli 17
(2) Noam Chomsky: „Secrets, Lies, and Democracy“, 1994
(3) vgl. W.G., Die neoliberale Reconquista,
http://www.ossietzky.net/9-2017&textfile=3929
Auch noch interessant ist dieser Artikel:
Der globale Wahlboykott
Misst man die Regierungen der USA und der EU nicht an ihren Worten, sondern an ihren Absichten, so scheint es hier im Grunde um eins zu gehen: nicht mehr Demokratie in Venezuela zu wagen und zu fördern, sondern um die scheindemokratische Prämisse der Nicht-Anerkennung der Regierung Nicolás Maduro.
Lächerlich bis hirnrissig ist dabei folgender Umstand. Nach dem von den Präsidentschaftskandidaten und der CNE unterzeichneten Abkommen über die Wahlgarantien hatten sowohl Nicolás Maduro als auch Henri Falcón darauf bestanden, dass die Vereinten Nationen die Wahlen als qualifizierter, kritischer Beobachter begleiten. Davor hatte der MUD während der Verhandlungen in Santo Domingo mit aller Vehemenz die Beobachtung der Vereinten Nationen als Garant freier und transparenter Wahlen gefordert.
Doch welch´ Überraschung! Als Henri Falcón sich vom MUD abspaltete und der Wahltermin näher rückte, hieß es plötzlich, „das oppositionelle Bündnis hat die UNO gebeten, die Wahlfarce nicht zu unterstützen“ (ONU reiteró que no participará como observador en las presidenciales – El Nacional, 25. März 2018). „Für eine UN-Beobachtungsmission brauchen wir überall, nicht nur in Venezuela, ein Mandat von einem Organ der Mitgliedsstaaten, das heißt im Klartext, dem Sicherheitsrat oder der Generalversammlung “, erklärte am 14. März Farhan Haq, Sprecher des Generalsekretärs der UNO, António Guterres.
Zu Recht wird in Venezuela vermutet, dass die Trump-Regierung im Bündnis mit der EU Druck auf die UNO ausübt, die Wahlen in Venezuela nicht mit Beobachtern zu assistieren und damit ihre „Legitimität“ in Frage zu stellen. Nach der skandalösen Pro-Trump-Wahlmanipulation durch Cambridge Analytics fasst sich doch jeder gescheite Mensch bei dieser Heuchelei an den Kopf.
Nicht anders auf Seiten der EU. Die Geschäftsführer der parlamentarischen “Arbeitsgruppen zur Unterstützung der Demokratie und der Wahlkoordination” des Europäischen Parlaments, David McAllister und Linda McAvan, haben der geplanten Anreise einzelner EU-Parlamentarier nach Venezuela das politische Mandat entzogen. Zur geplanten Wahlbeobachtung der Einheitlichen Linken in Venezuela erklärte das Europäische Parlament, es handele sich keinesfalls um eine Beobachtermission mit offiziellem Charakter. „Angesichts der Tatsache, dass die notwendigen Voraussetzungen für glaubwürdige, transparente und inklusive Wahlen nicht erfüllt sind […], wird das Parlament keine Beobachter zu den Wahlen entsenden”. Sollte ein Abgeordneter dennoch an der Wahl als Beobachter teilnehmen, werde er dies von sich aus tun. Auf keinen Fall dürfe er seine Anwesenheit mit dem Europäischen Parlament verbinden, weder durch Erklärungen noch durch Handlungen “, hieß es in der Erklärung (LA UE se desmarca de los eurodiputados que viajarán a Venezuela en calidad de observadores – ABC, 23.04.2018).
https://www.nachdenkseiten.de/?p=44033#more-44033