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Sigmar, Aamir und der Leopard - Teil 1

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Diese Geschichte beginnt in Deutschland und sie endet in Deutschland. Sie ist größtenteils spekulativ, orientiert sich aber stets an Fakten.


Alles beginnt mit einem Anruf im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie. Zur Verdeutlichung sitzt am einen Ende der Leitung nicht irgendein Referatsleiter sondern der Minister Sigmar Gabriel in Person und am anderen Ende der Leitung nicht irgendein Mitarbeiter, sondern Frank Haun, Geschäftsführer des Rüstungsunternehmens Krauss-Maffei Wegmann.

Nach kurzem, höflichem Smalltalk bedauert Frank Haun in einem sachlichen Ton, dass ihnen damals dieser Riesendeal mit Saudi-Arabien durch die Lappen gegangen sei, dass er aber deswegen nicht anrufe. Diesmal ginge es um Katar. Wie Herr Gabriel ja wisse, habe die Vorgängerregierung den Verkauf von 62 Panzern und 24 Panzerhaubitzen nach Katar bereits bewilligt. Ein Teil der Lieferung sei ja auch schon erfolgt, trotzdem warte man nun bei KMW auf die Genehmigung, auch den Rest endlich liefern zu dürfen.

Herr Gabriel erwidert, dass er sein Amt mit dem Versprechen einer restriktiveren Rüstungspolitik angetreten sei, und dass er sein Gesicht verlöre, wenn er diesen Deal nun einfach so genehmige. Er müsse an die Wähler denken.

Herr Haun bekundet sein Verständnis für die diffizile Lage des Ministers, teilt aber gleichzeitig mit, dass er ebenso die Verantwortung für fast 3000 Mitarbeiter trage und sich deswegen solche moralischen Bedenken wie jene des Ministers nicht leisten könne.

Und so habe man eben verschiedene Interessen, entgegnet daraufhin der Minister lapidar.

Ja, sagt daraufhin der Geschäftsführer, vielleicht müsse er dann doch die Anwälte einschalten, um die Regierung auf Schadensersatz zu verklagen. Oder die Produktion ins Ausland verlagern. Aber, so fährt er fort, vielleicht sei dies auch gar nicht nötig, denn wenn die Fusion mit dem französischen Rüstungshersteller Nexter erst vom Kartellamt genehmigt sei, könnten die Lieferungen der Leopard II Panzer ja auch über den Umweg der französischen Regierung abgewickelt werden, und dort teile man die ethischen und moralischen Bedenken der Bundesregierung nicht.

Das Gespräch endet mit einem wenig versöhnlichen Ton auf beiden Seiten.

Eine Woche später genehmigt Sigmar Gabriel überraschend die Lieferung.

Mit den eigenen Transportflugzeugen (Transall C-160) können die metallenen Ungetüme jedoch nicht ausgeflogen werden, allenfalls eine Antonow könnte 1-2 Panzer aufnehmen. Und so werden die Panzer nicht per Flugzeug transportiert, sondern verschifft.

Einige Wochen nach Sigmar Gabriels Genehmigung läuft ein deutsches Transportschiff im Hafen von Ras Laffan ein, achtzig Kilometer nordöstlich von Doha. Im Frachtraum des Schiffes befinden sich die besagten Leopard II Panzer und die Panzerhaubitzen. Abdullah al-Attiyah, Vorsitzender des staatlichen Unternehmens Qatar Petroleum, unter dessen Kontrolle sich der Hafen befindet, kontaktiert auf einer verschlüsselten Leitung das Büro des Regierungschefs, dem Scheich Abdullah al-Thani. Er teilt dem persönlichen Sekretär des Scheichs mit, dass die Lieferung aus Deutschland endlich angekommen sei und dass er nun auf weitere Anweisungen warte. Nach kurzer Rücksprache mit dem Scheich ruft der persönliche Sekretär zurück und informiert den Vorsitzenden, dass auf Geheiß des Scheichs die Ladung gelöscht werden möge und dass binnen einer Woche ein anderes Schiff die Ladung wiederaufnehmen werde. Der Chef von Qatar Petroleum dankt für die rasche Antwort und legt auf.

Am gleichen Abend ruft der Scheich von Katar, Abdullah al-Thani, den König und Premierminister von Saudi-Arabien, Salman al-Aziz, an und bespricht mit ihm die Lage in der Republik Jemen, wo sie gemeinsam mit anderen Golfstaaten und der logistischen Unterstützung der USA, Frankreichs und Großbritanniens eine Militärintervention begonnen haben. Zunächst hat der König und Premier von Saudi-Arabien eine gute Nachricht: Abed Rabbo Mansur Hadi, dem Ex-Präsidenten der Republik Jemen, ist die Flucht vor den schiitischen Huthi-Rebellen aus der südjemenitischen Stadt Aden geglückt und er befindet sich nun unter dem persönlichen Schutz des Königs, also ihm selbst. Scheich al-Thani atmet am anderen Ende der Leitung hörbar auf und dankt Allah für die geglückte Flucht. Anschließend aber fokussiert er sich im Gespräch wieder auf die schwierige Gemengelage im Jemen. Die Huthi-Rebellen, so der Scheich, müssen mit allen möglichen Mitteln bekämpft werden, denn schließlich sei Hadi bei der Präsidentschaftswahl 2012 mit 99,8 Prozent als einziger Kandidat demokratisch gewählt worden. Der König und Premier von Saudi-Arabien stimmt zu und bittet formell um die Unterstützung des Scheichs von Katar. Dieser sichert ihm die Unterstützung zu und bietet an, eine frische Lieferung von deutschen Leopard II Panzern und Panzerhaubitzen in den Jemen zu liefern, um die Huthi-Rebellen ein für allemal zu besiegen. Des Weiteren bietet der Scheich an, tausend seiner eigenen Soldaten zu entsenden, von denen über fünfzig von Mitarbeitern der deutschen Rüstungsfirma Krauss-Maffei Wegmann mit dem Leopard II vertraut gemacht und militärisch ausgebildet wurden. Der König von Saudi-Arabien dankt dem Scheich, fragt nach dem Wohlbefinden seiner zweiten Frau Scheicha Moza, die ihm persönlich ja viel zu progressiv ist, und legt schließlich auf.

Zwei Tage später verlässt ein katarisches Schiff unter portugiesischer Flagge den Hafen von Ras Laffan. An Bord befinden sich die Leopard II Panzer und die Panzerhaubitzen von Krauss-Maffei Wegmann. Das Schiff durchquert den Persischen Golf, den Golf von Oman, erreicht das Arabische Meer und läuft letztendlich in den Hafen von Aden ein, der von den Hadi-Loyalisten kontrolliert wird. Hier werden die Panzer und die Haubitzen entladen und in die Hände eines Generals der Militärkoalition übergeben. Der General plant, die Kampfpanzer aus deutscher Produktion für die Operation Restoring Hope zu verwenden. Ein paar Tage zuvor hatte der General die Stadt und gleichnamige Provinz Sa’da im Nordwesten Jemens als militärisches Ziel deklariert und die Einwohner aufgefordert, die Stadt und die Provinz binnen einer Woche zu verlassen. Er lässt drei Tieflader mit jeweils einem Leopard II Panzer beladen, die sich dann auf den weiten Weg von Aden nach Sa’da machen, um dort, an der Grenze zu Saudi-Arabien, für den Kampf gegen die angeblich vom Iran gestützten Huthi-Rebellen vorzugehen.

In der Stadt Sa’da lebt auch der 29-jährige Aamir, zusammen mit seiner Frau Nawal und seinem zweijährigen Sohn Adil. Er ist von Beruf Apotheker, hat ein kleines Haus unweit des Bab Najran, einem alten Stadttor, und denkt nicht daran, die Stadt oder die Provinz zu verlassen. Die Huthi-Rebellen kontrollieren vor allem die Gebiete in den Bergen und Aamir glaubt, wie alle in der Stadt, dass die Kämpfe zwischen den Huthi-Rebellen und den Hadi-Loyalisten sich auch dort abspielen werden. Außerhalb der Stadt.

Doch mit jedem Tag, an dem das Ultimatum des Generals näher rückt und die Hadi Loyalisten sich mit Soldaten und militärischer Ausrüstung auf die Stadt zu bewegen, verändert sich die Lage. Die Huthi-Rebellen verlassen die Berge, weil sie erkennen, dass die exponierte Lage dort oben sie zu Kanonenfutter für Luftangriffe der Militärkoalition macht. Sie entschließen sich daher zu einer Guerillataktik und setzen auf einen Häuserkampf inmitten des Stadtzentrums von Sa’da. Sie infiltrieren die Stadt Viertel für Viertel, besetzen private Wohnhäuser und lagern ihre Waffen dort. Sie legen ihre paramilitärischen Uniformen ab, kleiden sich zivil und verschanzen sich in den Räumen der Wohnungen, um die besten Schusspositionen zu finden.
Auch Aamirs Wohnung wird von einem Trupp Huthi-Rebellen besetzt. Aamir begegnet den vier Männern höflich und zuvorkommend, er stellt sein Haus, sein Geld und seine Vorräte zur Verfügung. Er tut dies vor allem aus Sorge um seine Frau.

Als das Ultimatum abläuft, lässt der General der Militärkoalition, der längst Wind von der Strategie der Huthi-Rebellen bekommen hat, die Stadt räumen. Soldaten rücken vor, an ihrer Spitze befinden sich die Leopard II Panzer, die den nachrückenden Kämpfern den Weg ins Innere der Stadt ebnen sollen. Als die Huthi-Rebellen, die sich in Aamirs Wohnung verbarrikadiert haben, den Leopard II Panzer die Straße hinaufkommen sehen, greifen sie instinktiv zur Panzerfaust 3 der Dynamit Nobel Defence GmbH. Sie schießen, verfehlen ihr Ziel und sehen noch, wie sich das Kanonenrohr des Panzers in ihre Richtung dreht. Sekunden später durchschlägt eine 120mm Glattrohrkanone des Unternehmens Rheinmetall die Häuserwand, zerstört in einer heftigen Explosion das gesamte, obere Stockwerk des Hauses und tötet die vier Huthi-Rebellen augenblicklich.

Aamir, der sich mit seiner Frau und seinem Kind im Erdgeschoss des Hauses unter dem Küchentisch verschanzt hatte, ergreift panisch die Flucht. Er zerrt seine Frau mit dem Kind unterm Küchentisch hervor und rennt aus dem Haus. Es gelingt ihm, sich mit seiner Frau und seinem Kind in die 15 Kilometer entfernte Kleinstadt At-Talh durchzuschlagen. Er kommt zunächst bei seinem dort lebenden Onkel unter, doch der berichtet ihm, dass auch einige Häuser in At-Talh bereits von Huthi-Rebellen besetzt worden sind.

Noch in der Nacht entschließt sich Aamir dazu, das Land zu verlassen. Schon länger haben er und seine Frau erkannt, dass es im Jemen keine Zukunft mehr für sie gibt, aber sie haben lange gehofft, dass die von der UN vermittelten Gespräche zwischen den Kriegsparteien in Genf den Frieden zurück in die Region bringen würden. Vergebens.
Aamir ist klar, dass er nur dann eine Chance hat, wenn er alleine flieht. Ihm ist auch klar, dass er nicht Richtung Norden fliehen kann, denn wenn er über Saudi-Arabien zu fliehen versucht, ist er gleich verloren. Ihm bleibt also nur eines übrig: Er muss zunächst nach Mokka gelangen. Von dort, so erzählt ihm sein Onkel, könne er mit Hilfe von Schleppern die Hafenstadt Assab im Südosten Eritreas erreichen. Dort könne er sich den eritreischen Flüchtlingen anschließen, die über die zentrale Mittelmeerroute nach Europa flüchteten.

Zwei Tage später verlässt Aamir das Haus seines Onkels. Der Onkel verspricht Aamir, sich um seine Frau und um das Kind zu kümmern. Er verspricht auch, ins nächstgelegene Flüchtlingscamp zu fliehen, für den Fall, dass auch At-Talh von den Kämpfen nicht verschont bleibt. Der Abschied gerät hastig, unbeholfen und schmerzlich. Aamir möchte so viel sagen, aber ein Kloß im Hals hindert ihn daran. Im Weggehen zwingt er sich, geradeaus zu schauen und den Blick nicht zurück zu werfen.

Vier Tage später erreicht er Mokka, die Hafenstadt am Roten Meer. Er fragt sich am Hafen durch, bis er endlich von einem Mann in einer Bar eine Kontaktadresse bekommt. Er sucht den Kontakt auf und bespricht mit ihm die Kosten für die Überfahrt nach Assab. Er soll 1000 Dollar bezahlen. Aamir hat nur 500 Dollar dabei, diese gibt er dem Schlepper. Er verspricht ihm weitere 1000 Dollar, wenn er dafür sorgt, dass er es bis nach Asmara, der Hauptstadt von Eritrea, schafft. Er lockt den Schlepper damit, dass es in Asmara ein Büro der Western Union gibt, und dass er sich von seinen Verwandten Geld dorthin schicken lassen werde. Der Schlepper, ein einfacher Mann, beißt an.
 
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Sigmar, Aamir und der Leopard - Teil 2

Am nächsten Morgen um fünf Uhr beginnt die Überfahrt mit einem kleinen Kahn. Insgesamt befinden sich zwanzig Menschen an Bord. Ein alter Mann auf dem Boot erinnert Aamir an seinen alten Lehrer. Sie brauchen fünf Stunden bis Assab, dort entlässt der Schlepper die Passagiere in ihr Schicksal. Mit Aamir aber geht er in ein Internet-Café am Hafen. Dort treffen sie auf einen Mann, der Aamir bis nach Asmara bringen kann. Aamir erklärt, dass er ihn erst bezahlen kann, wenn sie in Asmara sind, weil seine Familie das Geld über die Western Union verschickt. Der Mann winkt ab, lacht fast, weil Aamir so naiv ist. Er schlägt ihm stattdessen vor, eine seiner Nieren zu spenden und vom Erlös seine Weiterfahrt zu finanzieren. Aamir hält das zunächst für einen Witz, aber der Mann lacht nicht. Spende deine Niere, und ich bringe dich nach Asmara, wiederholt er nüchtern.
Aamir hat keine andere Wahl und willigt ein. Der Mann gibt dem Schlepper aus Mokka fünfhundert Dollar und ruft dann mit seinem Handy eine Nummer an. Zwanzig Minuten später kommen zwei Männer in das Café und nehmen Aamir mit. Sie behandeln ihn recht grob, Aamir fühlt sich wie ein Gefangener. Sie fahren mit ihm zum Hafen, hier wird er zusammen mit fünfzehn anderen Männern, hauptsächlich Eritreern, auf einen größeren Kahn verfrachtet und in einen Raum eingesperrt, der augenscheinlich mal als Kühllager gedient hat. Aamir verbringt einige Tage eingesperrt in diesem Raum, er verliert das Zeitgefühl, er wird krank. Irgendwann dürfen sie einmal kurz raus, um an Deck frische Luft zu schnappen und um die Eimer mit dem Urin und dem Kot zu entleeren. Man gibt ihnen auch etwas Brot und Wasser. Aamirs Zustand verbessert sich leicht.

Nach einer unendlichen Zeit legen sie wieder an. Sie sind in einer kleinen Hafenstadt vor Anker gegangen. Aamir und die elf Eritreer, die die Überfahrt überlebt haben, werden wieder an andere Männer übergeben. Aamir möchte fragen, wo er ist, aber die Männer sprechen eine andere Sprache, es klingt wie ein Dialekt. Außerdem hat Aamir Angst vor diesen Männern. Aber er möchte seine Niere nicht spenden, also spricht er die Männer wiederholt auf Englisch an. Er sagt „Western Union“ und „Money, Money“, aber die Männer lachen nur.
Was Aamir nicht weiß: Er befindet sich auf der Sinai-Halbinsel und er wurde an Männer des Sawarka Stammes ‚verkauft’. Diese Männer fahren ihn und die Eritreer in eine als Wohnhaus getarnte Klinik in Al-Arisch. Die Operation dort erfolgt schnell und als Aamir aus der Narkose aufwacht, kümmert man sich den Umständen entsprechend gut um ihn. Er wird auch tatsächlich mit 1500 Dollar entlohnt, als er drei Tage später mit verbundenen Augen aus dem Haus gebracht, in einen Jeep verfrachtet und dann nahe der Stadtgrenze von Kairo frei gelassen wird.

Im Zentrum von Kairo kann Aamir endlich seine Familie kontaktieren. Er ruft zunächst bei seinem Onkel an, doch der nimmt nicht ab. Er versucht es dann bei seinem Bruder, der in Sanaa lebt. Als er ihn erreicht, hört er, dass sein Onkel, seine Frau und das Kind sich bereits in einem Flüchtlingslager der UNHCR befinden, das erst vor kurzem errichtet wurde. Aamir bittet seinen Bruder, ihm Geld ans Western Union Office in Kairo zu schicken. Er verspricht, es ihm zurück zu zahlen, sobald er in Europa ist und Arbeit gefunden hat. Sein Bruder verspricht ihm, dass die Familie zusammen legen und 5000 Dollar schicken wird. Zusammen mit dem Geld von der Nierenspende, so denkt Aamir, muss das für die Überfahrt nach Europa reichen.

Während er auf das Geld wartet, erkundigt er sich in Kairo nach Möglichkeiten der Flucht nach Europa. Hier erfährt er schnell, dass es am einfachsten ist, wenn er über Libyen flieht. Libyen, so lernt er, ist ein Land, das im Chaos versinkt, seit der ehemalige Herrscher Muammar al-Gaddafi im Bürgerkrieg 2011 ums Leben kam. Der Vorteil sei nun, dass die Grenzen kaum noch kontrolliert würden und er sich ohne Probleme bis Bengasi oder Tripolis durchschlagen könne. Dort müsse er nur noch Schlepper finden, die ihn auf eines der Boote lassen, das sich dann auf nach Lampedusa macht.

Tatsächlich erlebt Aamir die folgende Woche aufgrund der Umstände seiner bisherigen Flucht fast als angenehm. Mit drei jemenitischen Landsmännern, die er in Kairo kennengelernt hat, organisiert er einen Fahrer, der sie die 1300 Kilometer von Kairo bis nach Bengasi fährt. Vorher kann er in Kairo noch Medikamente kaufen, die seine Narbe von der Organentnahme besser verheilen lassen. Drei Tage fahren sie an der Küste entlang, sie machen Halt in Marsa Matruh, in Tobruk und in Al Bayda. Am dritten Tag kommen sie in Bengasi an.

In Bengasi herrscht ein reges Treiben. Syrer, Eritreer, Somalier und Afghanen tummeln sich zu Hunderten am Juliyana Beach und organisieren ihren Transport übers Mittelmeer. Aamir und seine zwei jemenitischen Kollegen sprechen mit mehreren Schleppern und entscheiden sich schließlich für einen fünfzigjährigen Libyer, der ihnen das meiste Vertrauen einflößt und am billigsten ist. Er erzählt ihnen, dass sie mit ihrem Boot gar nicht weit raus müssen und es nicht wirklich bis Malta oder gar Lampedusa schaffen müssen. Auf dem Mittelmeer, so behauptet er, kreuzten Rettungsschiffe von Ärzte ohne Grenzen und er habe Kontakte, die ihm sagen könnten, wo dieses Rettungsboot sich befinde. Es kreuze momentan gerade einmal hundert Kilometer vor der libyschen Küste. Er würde sie mit einem richtigen Boot in die Nähe dieses Schiffes bringen, dann würde er sie auf ein Schlauchboot setzen und aufs offene Meer hinaustreiben lassen. Sie müssten sich dann nur noch von dem Rettungsschiff in Empfang nehmen lassen.

Es kommt genau so. Zwei Tage später fahren die drei mit zwanzig anderen Flüchtlingen aufs Mittelmeer hinaus. Der libysche Kapitän setzt sie irgendwann in ein Schlauchboot und dreht ab. Eine Stunde später taucht am Horizont ein ungefähr fünfzig Meter langes, blaues Schiff auf, das sich direkt auf sie zubewegt. Als es näher kommt, kann Aamir den Schriftzug am Bug des Schiffes nicht verstehen: Dignity I, Panama. An Bord des Schiffes befindet sich medizinisches Fachpersonal, das sich sofort um Aamir kümmert, als er die Narbe von seiner Organentnahme zeigt. Als ein Arzt ihn in einem geheizten Raum behandelt, kommen Aamir die Tränen. Er verspürt zum ersten Mal seit langer Zeit wieder so so etwas wie Glück. Ich habe es geschafft, denkt er immer wieder. Ich habe es geschafft.


Das Boot, die Dignity I, geht in Lampedusa vor Anker. Hier kommt Aamir zunächst in ein Flüchtlingslager. Dort bleibt er eine ganze Woche, dann wird er zusammen mit anderen Flüchtlingen aufs Festland verschifft. Seine jemenitischen Landsmänner hat er längst wieder aus den Augen verloren. In Italien wird er in einem Bus bis nach Mailand transportiert, dort steckt man ihn in ein Aufnahmelager. Das Aufnahmelager ist jedoch völlig überfüllt, die Verhältnisse sind unzumutbar. Aamir versucht sich im Stadtzentrum von Mailand als Tagelöhner, aber ohne festen Wohnsitz möchte ihn niemand beschäftigen, nicht mal für einen Tag. Er lebt von dem, was die Mailänder in den Müll schmeißen. Er bettelt. Mehrmals spricht er bei Behörden vor, doch immer ist er ihrer totalen Willkür ausgesetzt. Er kann keine Sozialleistungen beantragen.

Er entschließt sich, nach Deutschland weiter zu reisen. Von einem anderen Flüchtling hört er, dass er von einer Sachbearbeiterin des Ausländeramtes in Mailand ein paar Hundert Euro und ein Schengen-Aufenthaltspapier bekommen kann. Dafür muss er aber versprechen, Italien zu verlassen. Er geht hin, spricht mit der Sachbearbeiterin, verspricht, noch am nächsten Tag einen Zug nach Deutschland zu nehmen und bekommt im Gegenzug tatsächlich vierhundert Euro und einen Aufenthaltstitel.

Am nächsten Tag steigt Aamir in den Zug nach Deutschland. In Zürich muss er einmal umsteigen, trotzdem kann er die Grenzen mühelos passieren. Nach fast vierzehn Stunden Zugfahrt kommt er schließlich in Hamburg an. Am Hauptbahnhof irrt er zunächst orientierungslos umher, doch dann spricht ihn ein junger Deutscher auf Englisch an. Er fragt ihn, ob er Flüchtling sei. Als Aamir dies bejaht, fragt der Deutsche ihn, woher er komme. Jemen, antwortet er. Daraufhin holt der Deutsche ein laminiertes Blatt mit einem arabischen Text aus seiner Tasche. Aamir liest, dass der Deutsche zu einer Gruppe namens Lampedusa in Hamburg gehört, die sich um Flüchtlinge wie ihn kümmert und dass er vorläufig in einem Container unterkommen kann. Da Aamir keine bessere Idee hat, nickt er dem jungen Deutschen freundlich zu. Sie fahren mit einem PKW los, Aamir ist fasziniert von der Stadt, die an ihm vorbeizieht. Nach zwanzig Minuten halten sie an einer schönen Kirche, neben der große, weiße Container aufgestellt sind. Im Eingangsbereich empfangen in eine deutsche Frau und ein Flüchtling aus Syrien, der ihn auf Arabisch einweist.

In den folgenden zehn Monaten bleibt Aamirs Aufenthaltsstatus ungeklärt. Es gibt Menschen und es gibt Politiker, die ihm helfen wollen. Genauso gibt es Menschen und Politiker, die ihn wegschicken wollen. Nach zwei Monaten stellt Aamir einen offiziellen Antrag auf eine Aufenthaltsgenehmigung. Er bittet Antje, eine ehrenamtliche Helferin, die ihn in Deutsch unterrichtet, beim Petitionsausschuss der Bürgschaft für ihn vorzusprechen. Auch dort sagt man ihm, er müsse sich in Geduld üben. Er erhält eine Duldung und Antje muss ihm lange erklären, was das für ihn bedeutet. Er fühlt sich wie ein Gefangener, er versucht, Kontakt mit seiner Frau und seinem Kind aufzunehmen, aber das Flüchtlingslager, in dem sie untergebracht sind, ist wie eine Insel, es dringt nur wenig nach außen und es geht auch fast nichts hinein.

Aamir lernt Deutsch wie ein Besessener. Er glaubt, dass er gar nicht mehr abgeschoben werden könne, wenn er zeigt, wie viel Mühe er sich gegeben hat. Er guckt pausenlos Fernsehen und liest alles, was er zwischen die Finger bekommt. Im Spiegel liest er ein Interview mit dem deutschen Vizekanzler, der sagt, dass man die Flüchtlinge anständig behandeln, ihnen nicht nur Unterkunft und Nahrung, sondern Lebensperspektiven geben wolle. Das beruhigt Aamir. Er lernt weiter, verfolgt die politischen Diskussionen und die Wahlkämpfe, in denen es auch um ihn und die Situation der Flüchtlinge in Hamburg geht. Manchmal fühlt er sich wie ein Spielball größerer Mächte, denen er nichts entgegen zu setzen weiß. Es gibt Tage, da ist Aamir gut gelaunt und hoffnungsfroh und es gibt Tage, da fühlt Aamir sich zermürbt und niedergeschlagen.

Eines Mittags liest er mit Antje Zeitung. Er liest einen Artikel, in dem sich die Regierung zu den Flüchtlingen äußert. Es gebe keinen primären Schutz mehr, heißt es da. Primärer Schutz, was bedeutet das, fragt er Antje. Antje druckst ein wenig herum, dann sagt sie, dass er ohne primären Schutz seine Frau und sein Kind nicht nachholen könne. Erst nickt Aamir nur, um zu zeigen, dass er verstanden hat, doch dann muss er plötzlich aufstehen und den Container verlassen. Er verlässt das Gelände, läuft und läuft und läuft, bis er sich plötzlich in der Innenstadt befindet. Er drängt sich an den Passanten in der Einkaufspassage vorbei, er schaut in die mit teuren Waren ausgelegten Schaufenster, er schaut auf die gut gelaunten, schick gekleideten Deutschen um ihn herum, aber er sieht sie nicht.

Bruder, ruft plötzlich jemand. Bruder.
Aamir erwacht aus seiner geistigen Umnachtung und dreht sich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Er sieht drei junge Männer, die hinter einem Tisch stehen. Auf dem Tisch liegen rote Rosen und Bücher. Rechts und links sind zwei große Plakate, auf denen steht: Lies!
Bruder, sagt der Mann jetzt auf Arabisch. Bruder, woher kommst du?
Aamir geht zögerlich zum Tisch.
Aus dem Jemen, antwortet er auf Arabisch.
Bruder, fragt der Mann, liest du den Koran?







 
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Die Menschheit schreibt mittlerweile mehr als 7,3 Milliarden Geschichten. Geschichten, die mehr oder weniger mit dem gefüllt sind, was Menschen sich wünschen und versuchen, zu vermeiden. Das war schon immer so und wird auch weiterhin so sein. Und wenn es irgendwann keine Menschen mehr gibt, weil sie zu doof waren, ihr Hirn zu benutzen um herauszufinden, was zuviel vom einen und zu wenig vom anderen macht, entwickelt sich vielleicht mal eine Spezies, die mehr Geschichten schreiben kann, die mehr Hoffnung machen als diese.
 

Stefan O. W. Weiß

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Was soll man machen? Die Bundeswehr kauft keine Panzer mehr, da muß man andere Abnehmer suchen. Aber es tut einem schon in der Seele weh, deutsche Qualitätspanzer an diese Zauselbärte da unten zu liefern. Ein Leo braucht liebevolle Pflege und Wartung. Da unten wird man ihn binnen kürzester Zeit zu Schrott fahren. :traurig:
 
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Was soll man machen? Die Bundeswehr kauft keine Panzer mehr, da muß man andere Abnehmer suchen. Aber es tut einem schon in der Seele weh, deutsche Qualitätspanzer an diese Zauselbärte da unten zu liefern. Ein Leo braucht liebevolle Pflege und Wartung. Da unten wird man ihn binnen kürzester Zeit zu Schrott fahren. :traurig:


Unter dem Motte:
Wir liefern die Panzer und bekommen dafür die Flüchtlinge ?!?!
 

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