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Was Demokratie war, was sie ist und was sie werden muß.

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I

Iphigenie

Was Demokratie war, was sie ist und was sie werden muß.

[COLOR="Red"]Was Demokratie war, was sie ist und was sie werden muß.[/COLOR]

Als Einstieg in die Diskusssion "Welche Art von Demokratie wollen wir?" (siehe
den dazu begleitenden Tröööt http://www.politik-sind-wir.de/showthread.php?p=13605#post13605 )
werde ich hier Texte aus dem Buch von Luciano Canfora: Eine kurze Geschichte der Demokratie,
wiedergeben. PapyRossa Verlag Köln 2006/7 ISBN 3-89438-350-X Seite 15ff


Eine Verfassung in hellenischem Gewand:
Griechenland, Europa und das Abendland

Plato sagt im Staat, lib. 5. (siehe dort): Die Hellenen werden gewiß
nicht die Hellenen vernichten, sie nicht zu Sklaven machen, weder
ihre Felder verwüsten noch ihre Häuser niederbrennen; wohl aber
werden sie all dies den Barbaren antun.
Und die Reden des Isokrates
mit all ihrem Mitleid gegenüber den Leiden der Griechen sind
erbarmungslos gegenüber den Barbaren oder Persern und
ermahnen das Volk und Philipp ständig, sie zu vernichten.
Giacomo Leopardi, Zibaldone

Einem Philosophen aber mag es erlaubt sein, seinen Horizont zu
erweitern und Europa als ein großes Gemeinwesen zu betrachten,
dessen unterschiedliche Bewohner die fast gleiche Höhe der
Gesittung und der Kultur erreicht haben ... Die wilden Völker des
Erdballs sind die gemeinsamen Feinde der zivilisierten Gesellschaft,
und wir mögen besorgt und neugierig fragen, ob Europa noch
von einer Wiederkehr jener Katastrophen bedroht ist.
Edward Gibbon


1
Die Vorstellung, die Demokratie sei eine Erfindung der Griechen,
ist weit verbreitet. Sie findet noch im europäischen Verfassungs-
entwurf (in der am 28. Mai 2003 verbreiteten Form) ihren
Niederschlag. Die Urheber dieses Textes, unter ihnen der
ehemalige französische Staatspräsident Giscard d'Estaing,
wollten der neuen Verfassung den Stempel des klassischen
Griechenlands dadurch aufdrücken, daß sie an den Anfang der
Präambel ein Zitat aus Thukydides' sogenannter Totenrede
des Perikles (430 v. ehr.) stellten (Geschichte des Peloponne-
sischen Krieges II, 37).


In der Präambel zum europäischen Verfassungsentwurf also
lesen sich Perikles' Worte so: »Mit Namen heißt unsere
Verfassung, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern
auf eine größere Zahl gestellt ist, Volksherrschaft«.(In
der jüngsten Fassung des EU-Verfassungsentwurfs fehlt
dieses Zitat von Thukydides.)

Dies ist eine Verfälschung der Worte, die Thukydides dem
athenischen Strategen Perikles in den Mund legte. Und es
ist keineswegs bedeutungslos, warum man sich hier einer
so fragwürdigen Begrifflichkeit bediente.
In der gewichtigen Rede, die Thukydides dem Perikles
zuschreibt, heißt es: »Der Name, mit dem wir unsere
politische Ordnung [es ist modernistisch und falsch,
politeia mit »Verfassung« wiederzugeben] bezeichnen,
heißt Demokratie [Volksherrschaft], weil die Angelegen-
heiten [das hier verwendete Wort heißt oikein] nicht im Inter-
esse weniger, sondern der Mehrheit [also geht es mitnichten
um den >Staat< oder die Staatsmacht und schon gar nicht
um >eine größere Zahl<] gehandhabt werden«.

Und einige Zeilen weiter: Jedoch in den privaten Streitigkeiten
haben alle gleiches Gewicht, und in unserem öffentlichen Leben
herrscht die Freiheit« (Geschichte des Peloponnesischen
Krieges 11,37). Man kann es drehen und wenden, wie man will,
Perikles stellt hier die »Demokratie« der »Freiheit« entgegen.

Perikles war die größte politische Führungsgestalt Athens in
der 2. Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. Er hatte keine
militärischen Erfolge zu verbuchen, sondern in der Außenpolitik
allenfalls Niederlagen, so beispielsweise den desaströsen Ägypten-
feldzug, bei dem Athen eine große Flotte verlor. Aber es gelang
ihm, einen Konsens zu erreichen und zu wahren, der es ihm
erlaubte, fast ununterbrochen dreißig Jahre lang (462-430) die
Stadt Athen zu regieren, die »demokratisch« ausgerichtet war.

Als Demokratie wurde die »Volksherrschaft« von ihren Gegnern
bezeichnet, um ihren gewalthaItigen Charakter zu unterstreichen
(kreitos bezeichnet genau die auf Gewalt gestützte Ausübung
von Macht). Für die Gegner des auf die Volksversammlung gegrün-
deten Systems war die Demokratie also eine freiheits-
feindliche Herrschaftsform. In der zitierten gewichtigen Rede, die
Thukydides ihm in den Mund legt, schränkt Perikles denn auch
den Geltungsbereich dieses Begriffs ein und distanziert sich von
ihm, wohlwissend, daß das Volk das Wort Demokratie nicht gern
hört, obwohl es den Begriff demos (»Volk«) selbst benutzt, um
die Regierungsform zu bezeichnen, in der es sich wiederfindet.

Thukydides läßt seinen Perikles deshalb einen Schritt zurück
machen und sagen: Zur Beschreibung unseres politischen Systems
benutzen wir den Begriff Demokratie einfach deshalb, weil wir
es gewohnt sind, das Prinzip der »Mehrheit« gelten zu lassen;
trotzdem herrscht bei uns die Freiheit.
Thukydides sieht in Perikles den princeps im eigentlichen Sinn
des Wortes verkörpert, der mit einer Art »Primat« oder »Prinzipat«
betraut ist, eine allseits akzeptierte und anerkannte persönliche
Herrschaft, die das Gleichgewicht zwischen den Mächten
verschiebt, ohne diese selbst jedoch zu zerstören. Vierhundert
Jahre später errichtete Augustus eine ähnliche Herrschaftsforrn.
Und obwohl er »princeps« wurde, zögerte er nicht, den Anspruch
zu erheben, fiir Rom die Republik wiederhergestellt zu haben.

Die Zeitgenossen des Perikles dachten freilich an eine andere,
ihnen vertrautere Spielart der persönlichen Herrschaft, die
»Tyrannis«. Und tatsächlich nutzten einige Komödiendichter die
dem Theater zugebilligte Redefreiheit, geißelten von der Bühne
herab den princeps Perikles und flehten ihn spöttisch an, bloß
nicht die Tyrannis über Athen zu übernehmen. Derjenige, der
fiir Perikles den Begriff »princeps« (protos aner) prägte, war
sein Zeitgenosse und Bewunderer Thukydides. In dem »Porträt«,
das dieser von ihm zeichnet, heißt es daher auch, daß es unter
Perikles in Athen »dem Namen nach die Demokratie, in
Wirklichkeit aber eine Herrschaft des protos aner [des
Ersten Mannes]« gab (Geschichte des Peloponnesischen Krieges
H, 65
).

Eine wohl erwogene Beschreibung, die um so vielsagender ist,
als gleich darauf jene Rede folgt, in der Perikles selbst (wiederum
nach Thukydides) sich von dem Begriff Demokratie distanziert
und betont, wie unzureichend diese Bezeichnung sei, um das wahre
- und ursprüngliche - Wesen des in Athen herrschenden politischen
Systems zu beschreiben.
Wohlgemerkt, Thukydides sagt nicht, Perikles' Herrschaft gleiche
der» Tyrannis«, was die dem Perikles kritisch gegenüberstehenden
Kömödiendichter sehr wohl taten. Er erfindet vielmehr - und das
ist ein Zeichen seiner Größe als politischer Denker - die neue
Kategorie des »Prinzipats«.

Dabei ist er sich durchaus im klaren über den besonderen
Typus von Herrschaft, den im vorangegangenenJahrhundert
die »Tyrannen« - oder vielmehr Peisistratos (560-528 v.ehr.),
das Urbild des Tyrannen - in Athen ausgeübt hatten. Im
Begriff der »Tyrannis« vermischen sich verschiedene Aspekte,
und man tut sich schwer, sie ausgewogen zu bewerten, weil
die meisten Quellen jene radikal ablehnten, die in verschiedenen
griechischen Städten eine solche Rolle auf sich nahmen: Im
Prinzip ging es dabei um eine Vermittlerrolle, welche von Männern
ausgeübt wurde, die sich - wie Peisistratos - auf das Volk
stützen konnten.

»Als Peisistratos Volksführer gewesen war, hatte er sich zum
Tyrannen gemacht«, sagt Aristoteles im Staat der
Athener
(22,3). Thukydides weiß genau, daß es in der
griechischen Welt Sparta war, das die »Tyrannen« niederwarf.
Und im speziellen Fall von Athen stand die Herrschaft des
Peisistratos keineswegs im Zeichen von grausamem Terror und
von Unterdrückung (dies entspricht dem »rhetorisch-demokrati-
schen« Bild des Tyrannen), sondern durch eine kontinuierliche
Machtausübung in einem verfassungsmäßig korrekten Rahmen,
der allenfalls dadurch modifiziert wurde, daß es stets dieselben
Männer waren (nämlich Peisistratos und seine Verwandten), die
an der Spitze der Stadt standen.

Deshalb belegt Thukydides den »Tyrannen« von Athen
(Peisistratos) mit ähnlichen Attributen wie den princeps
Perikles, den wiederum er nicht als Tyrannen bezeichnet. Statt-
dessen führt er einen neuen Begriff ein, eben den des princeps.
Derselbe Historiker, der theoretisch von der stetigen Wiederho-
lung historischer Ereignisse ausgeht, war mithin auch in der Lage,
deren Spezifik und Unverwechselbarkeit wahrzunehmen.
Thomas Hobbes, einer der Begründer des politischen Denkens, der
im Jahr 1628 mit einer für seinen geistigen Entwicklungsweg
entscheidenden Übersetzung des Thukydides begann, gelangte
zu dem Schluß, daß dieser Peisistratos und Perikles unter die
»Monarchen« einreihte und selbst als einer der größten Theoretiker
und Befürworter der Monarchie zu betrachten sei.

Hobbes war hierbei durch seine eigene Sicht der politischen
und institutionellen Formen geblendet. So ungenau seine Beur-
teilung auch sein mag, so ist sie doch von größter Bedeutung
für die Revision eines stereotypen Bildes mittelmäßiger Interpre-
ten, die Thukydides zum Lobredner der Demokratie stilisierten,
weil er die Totenrede des Perikles verfaßt hat.

Schon diese knappen Vorbemerkungen zeigen, weshalb alle
Bemühungen der Modernen, sich auf die komplizierten
politischen Verhältnisse der Antike - und insbesondere der
griechischen Antike - zurückzubeziehen, größten Schwierigkeiten
begegnen müssen und oftmals in die Irre gehen. Diese Bemü-
hungen werden noch erschwert durch die verbale Identität
verschiedenartiger Grundprinzipien, allen voran die »Demokratie«.
Diese Identität verschleiert Unterschiede und macht es schwer,
sie zu verstehen. Dazu bedarf es, wie gesagt, schon eines
Thukydides.

So erkennen wir allmählich den Mißgriff, den die Urheber
der Präambel zur europäischen Verfassung begangen haben.
Als Schulweisheit (eher der Unterstufe) haben sie gelernt, daß
»Griechenland die Demokratie erfunden hat« - eine effektha-
scherische, schematische Formulierung, die sich bei genauerem
Hinsehen als falsch erweist. Sie werden auch noch gewußt haben,
daß die antiken Autoren Athens (oder diejenigen, die sich mit
Athen beschäftigten) die politische Demokratie erwähnt, erörtert
und beurteilt haben. Und wahrscheinlich wandten sie sich
zunächst den politischen Philosophen (Platon und Aristoteles) zu
und müssen sich dann gewundert haben, daß in deren so breit
überlieferten Werken die Demokratie fortwährend eine Zielscheibe
der Polemik darstellt, in Platons Staat sogar einer ausgesprochen
scharfen Polemik. Also galt es, anderswo fündig zu werden.

Haben sie vielleicht bei den Rednern gesucht? Wir wissen es nicht.
Wenn ja, wären sie erschrocken. Bei Isokrates hätten sie
Sparta als »perfekte Demokratie« definiert gefunden und sich
verwirrt gefragt: Wie kann das sein? War Sparta nicht das Parade-
beispiel
einer Oligarchie? (Auch dies ein Gemeinplatz.) Schließlich
kamen sie auf Thukydides (es war ratsam, Demosthenes links
liegen zu lassen, schlägt er doch vor, die politischen Gegner,
die er als »Verräter« und »feindliche Agenten« brandmarkt, kurzer-
hand zu »verprügeln«). Aber wo sollten sie bei dem schwierigen und
dialektischen Thukydides fündig werden?

Ihr Schulwissen verwies sie auf die Totenrede des
Perikles! Mithilfe eines Stichwortregisters gelangt man über den
Eintrag demokratia schnell zu der oben zitierten Stelle. Doch
die Lektüre war gewiß alles andere als zufriedenstellend. Die
gängigen Übersetzungen, auch wenn sie noch so sehr glätten,
können die distanzierende, komplizierte Ausdrucksweise des Perikles
nicht vertuschen. Die Lösung, auf die man verfiel, ist so verblüffend
einfach wie klassisch: Man verändert den Text und läßt Thukydides
etwas sagen, was gar nicht dasteht.

[COLOR="Sienna"]Unser Streifzug durch die Werke der alten Griechen war hoffentlich
lehrreich und hat die folgende wichtige, wenn auch keineswegs
erbauliche Erkenntnis gebracht: Es existieren keine Texte
athenischer Autoren, die die Demokratie hochleben lassen. Und das
wird kein Zufall sein. [/COLOR] (farblich von Iphigenie unterlegt)

(Fortsetzung folgt)
 
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