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Wie Unternehmen von unbezahlter Mehrarbeit profitieren

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Iphigenie

Arbeit zum Nulltarif
Thorsten Stegemann 16.03.2009

Wie Unternehmen von unbezahlter Mehrarbeit profitieren

Bei der Diskussion über Arbeitszeiten solle nicht die "Frage nach
institutionellen Rechtspositionen im Vordergrund stehen", forderte
Klaus F. Zimmermann, Präsident des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung (1), bereits im August 2004. Und Zimmermann
erklärte (2) - ausgerechnet im "Neuen Deutschland" - selbstredend auch,
worauf sich die ökonomischen Anstrengungen stattdessen konzentrieren
sollten. Im Zentrum aller Bemühungen müssten Maßnahmen stehen, die für
die arbeitenden und Arbeit suchenden Menschen "wirtschaftlich gut"
sind, denn die Realität gehe "ohnehin längst über die Aufgeregtheit
gesellschaftlicher Debatten hinweg".

--Die Arbeitszeitverlängerung ist klammheimlich auf dem Vormarsch.
(...) Überstunden, die weder abgefeiert noch abgegolten werden, nehmen
ständig zu. (...) Die Arbeitszeit sollte generell flexibler dem Bedarf
am Arbeitsmarkt angepasst werden, weil so Beschäftigung und Wohlstand
besser gesichert werden können. Jedenfalls sichert Mehrarbeit ohne
Lohnausgleich unter den Fachkräften und Besserverdienenden bei den
derzeitigen wirtschaftlichen Bedingungen eine größere Wertschöpfung,
den Abbau von Arbeitslosigkeit unter den gering Qualifizierten und eine
gerechtere Einkommensverteilung.-- Klaus F. Zimmermann

Zwei Jahre später konnte Zimmermanns Institut den vermuteten Trend mit
Zahlen aus dem Sozio-oekonomischen Panel dokumentieren (3). Demnach
sank der Anteil der voll bezahlten an allen geleisteten Überstunden von
rund 50 Prozent Anfang der 90er Jahre auf 15 Prozent im Jahr 2005. Ein
Drittel der Mehrarbeit wurde überhaupt nicht kompensiert, sondern durch
unbezahlte Überstunden erbracht.

Einfallstor für indirekte Lohnsenkungen

Noch einmal zwei Jahre später befragte das Wirtschafts- und
Sozialwissenschaftliche Institut in der Hans-Böckler-Stiftung ( WSI
(4)) gut 2.000 Betriebsräte zum Thema Mehrarbeit (5). Dabei stellte
sich heraus, dass in 25 Prozent der untersuchten Betriebe zwischen
Anfang 2005 und Herbst 2007 die Arbeitszeit verlängert wurde. Doch nur
37 Prozent der Arbeitnehmer, die von dieser Maßnahme betroffen waren,
erhielten einen vollständigen Lohnausgleich. 16,6 Prozent mussten sich
mit einer teilweisen Bezahlung zufrieden geben, rund die Hälfte bekam
überhaupt keine finanzielle Kompensation für die geleistete Mehrarbeit.
Betriebliche Arbeitszeitkonten standen dieser Entwicklung offenbar
nicht im Wege. In jedem vierten Betrieb verfielen die Zeitguthaben,
ergab die Betriebsrätebefragung.

Ähnlich rechnete im Februar 2009 auch das Institut für Arbeitsmarkt-
und Berufsforschung (IAB). Das IAB bezifferte (6) das Volumen der pro
Jahr geleisteten Überstunden auf 1,32 Milliarden Stunden: "Dazu kommen
unbezahlte Überstunden in ungefähr der gleichen Größenordnung."

WSI-Leiter Hartmut Seifert kam im April 2008 zu dem Schluss, dass der
Trend zu längeren Arbeitszeiten "seit gut fünf Jahren ungebrochen"
anhält und im Durchschnitt "jeder Beschäftigte pro Woche 0,7
Überstunden leistet, die nicht vergütet werden".

--Die Arbeitszeit wird zunehmend zum Einfallstor für indirekte
Lohnsenkungen. Würde hingegen die tatsächlich geleistete Arbeitszeit
voll bezahlt, würden die Einkommen nicht unbeträchtlich steigen.--
Hartmut Seifert

91,5 Milliarden Euro für die Arbeitgeber?

So sieht es auch der Publizist Jörn Boewe, der in einem vorab
veröffentlichten Beitrag (7) für die Konferenz Arbeits-Unrecht in
Deutschland (8), die am Wochenende in Köln stattfand, davon ausgeht,
dass jeder abhängig Beschäftigte pro Jahr 45 unbezahlte Überstunden
leistet. Zuzüglich der 2,2 Urlaubstage, die alljährlich verfallen,
kommt Boewe auf 60 Stunden, die er mit der Bruttowertschöpfung je
Erwerbstätigenstunde multipliziert. Dabei handelte es sich nach Angaben
des Statistischen Bundesamtes im Jahr 2007 um 42,50 Euro.

Im Durchschnitt erarbeitete jeder der 35,9 Millionen abhängig
Beschäftigten in diesen 12 Monaten einen Zusatzwert von 2.550 Euro, den
Boewe auf die volkswirtschaftliche Gesamtbilanz von 91,5 Milliarden
Euro hochrechnet, "die sich die Arbeitgeber praktisch unentgeltlich
aneignen konnten".

Doch die Gegenseite ist auf diese Argumente vorbereitet. Der im
November 2008 von der Unternehmensberatung Proudfoot Consulting (9)
veröffentlichte Global Produktivity Report (10) wirbt mit dem Slogan
"A world of unrealised opportunities", weil die weltweite Produktivität
im schmalen Zeitraum zwischen 2006 und 2007 von 67,9 auf 65,7 Prozent
gesunken sei. In Deutschland liege der Anteil produktiv genutzter Zeit
bei lediglich 59,8 Prozent. Deutsche Unternehmen lassen demnach zu,
dass zwei Arbeitstage pro Woche ohne effektive Leistung vertrödelt
werden. Schlimmer, so meint Proudfoot Consulting, geht es nur noch in
Südafrika zu.

Nun darf allerdings darf bezweifelt werden, ob diese Zahlen in
irgendeiner Weise belastbar sind. Denn die Unternehmensberatung stützt
sich auf eine Umfrage unter Führungskräften und gut 3.000
Unternehmensanalysen der "Proudfoot-Berater", über deren
wissenschaftliche Qualifikation der Öffentlichkeit keine näheren
Auskünfte mitgeteilt wurden. Boewe wertet die Studie jedenfalls als
"ideologische Vorbereitung" auf weitere Eingriffe in Arbeitnehmerrechte
und im übrigen als "PR-Kampagne" einer ungetarnten Interessenvertretung.

--Am meisten Arbeitszeit vergeuden laut Studie Deutschlands Bergleute
(43,7 Prozent). Spätestens hier muss man sich fragen, ob das Ein- und
Ausfahren in bzw. aus einer Grube nach Definition solcher
Unternehmensberater Arbeit oder "Zeitverschwendung" ist. Die
Fragestellung ist keineswegs abstrus: Eine juristische Fachzeitschrift
in den USA machte im November darauf aufmerksam, dass derzeit mehrere
Sammelklagen von Angestellten verschiedener Telekommunikationsfirmen
(darunter AT&T) und Versicherungen anhängig seien, mit denen sich die
Mitarbeiter gegen die offenbar gängige Praxis der Unternehmen zur Wehr
setzen, das Hoch- und Runterfahren des PCs nicht zur Arbeitszeit zu
zählen.-- Jörn Boewe

Peter Ascher, Leiter von Proudfoot Consulting in Deutschland,
Österreich und der Schweiz, denkt so kleinlich nicht, doch die
Schlüsse, die Unternehmen aus der neuen "Produktivitätsstudie" ziehen
sollen, gehen in die skizzierte Richtung.

--Training, Mitarbeiter- und Führungskräfteentwicklung sind wichtige
Ansatzpunkte. Um schnell, aber auch nachhaltig
Produktivitätssteigerungen zu etablieren müssen Unternehmen mehr tun:
Sie müssen eine Produktivitätskultur etablieren.-- Peter Ascher

Ob unbezahlte Überstunden ein Filetstück dieser Produktivitätskultur
sein könnten, erfahren wir weder aus der Studie noch aus den
begleitenden Pressetexten. Doch Proudfoot Consulting ahnt, dass sich in
Sachen Produktivitätssteigerung bald etwas tun könnte. 56 Prozent der
Unternehmen hätten sich bereit erklärt, ein "Change-Programm"
umzusetzen. Was immer das genau heißen mag.

Mindestlohn für die falsche Stundenzahl

Durch die Wirtschafts- und Finanzkrise wird sich der Druck auf die
Unternehmen weiter erhöhen, und für Arbeitnehmer, die sich bereits seit
geraumer Zeit fragen, in welchem Abhängigkeitsverhältnis unentgeltliche
Mehrarbeit und der Erhalt ihres Arbeitsplatzes tatsächlich stehen, gibt
es vorerst keine beruhigenden Antworten. Dafür aber ausreichend
Beispiele, die deutlich machen, wie die prekäre Arbeitsmarktlage
allerorten genutzt wird, um die Produktivität des Unternehmens zu
Lasten der Mitarbeiter zu erhöhen.

So dokumentierte (11) Jörn Boewe im Sommer 2008 massive Verstöße gegen
die Mindestlohnregelungen im Baugewerbe. Die zuständige Sozialkasse
(12) war seinerzeit zu dem Schluss gekommen, dass in etwa 40 Prozent
der Berliner Bauunternehmen offiziell nur dreiviertel der tariflichen
Arbeitszeit abgeleistet werden. Doch die Arbeitnehmer waren voll im
Einsatz.

--Das Prinzip ist denkbar einfach: Ein Beschäftigter arbeitet
tatsächlich um die 40 Stunden in der Woche, ist aber offiziell
teilzeitbeschäftigt und bekommt nur 30 Stunden bezahlt - die allerdings
korrekt entsprechend dem gültigen Mindestlohn. Derzeit sind das in
Berlin, das zum Tarifgebiet West gehört, 12,50 Euro für Facharbeiter
und 10,40 Euro für Bauhelfer. Ein Arbeiter, der sich darauf einlässt,
wird auf diese Weise schnell um 500 Euro im Monat geprellt.-- Jörn Boewe

Ein Jahr zuvor hatte das ARD-Hauptstadtstudio Berlin bereits zahlreiche
vergleichbare Fälle beschrieben (13) und darauf hingewiesen, dass die
Bauarbeiter, die mit der Errichtung der schönen neuen BMW-Welt in
München beschäftigt sind, einen Stundenlohn von 2,89 Euro bekommen und
die Neue Messe Stuttgart für einen Stundenlohn von etwa 4 Euro gebaut
wird. Für all diese Fälle gibt es gesetzliche Regelungen mit zum Teil
erheblichen Bußgeldern. Doch die dem Zoll zugeordnete Finanzkontrolle
Schwarzarbeit (14) ist mit ihren Aufgaben trotz der 6.500 Beschäftigten
offensichtlich vor allem personell überlastet und kann nicht überall
sein.

Immerhin konnten die Ermittler die Personenüberprüfungen an der
Arbeitsstelle zwischen 2004 und 2007 von 264.500 auf 477.035 fast
verdoppeln. Damit stiegen allerdings auch die Abschlüsse von
Ermittlungsverfahren wegen Straftaten (2004: 56.900, 2007: 117.441) und
die Abschlüsse von Ermittlungsverfahren wegen Ordnungswidrigkeiten
(2004: 49.926, 2007: 72.969).

56.000 kostenlose Arbeitsstunden

Dem niederländischen Chemiekonzern Akzo Nobel gelang es 2005 ganz
legal, seine Personalkosten deutlich nach unten zu korrigieren. Die
tarifliche Arbeitszeit am deutschen Standort Wunsdorf bei Hannover
wurde damals um 2,5 Stunden auf 40 Arbeitsstunden erhöht. Ohne
Lohnausgleich, versteht sich, doch dafür gab es eine Standortzusage bis
2011, die nun offenbar nicht mehr gilt. Ende 2009 soll das
Vertriebszentrum in Wunsdorf geschlossen werden, aber auch der
Produktionsstandort in Rheinberg und Teile der Produktion in
Köln-Bickendorf stehen vor dem Aus. Die so genannte "Reorganisation",
die "Teil des globalen Programms für betriebliche Exzellenz" sein soll,
könnte 350 Mitarbeitern den Job kosten.

Unternehmensvertreter finden (15) diese Entwicklung "bedauerlich",
aber "so nicht vorhersehbar" und verweisen (16) auf ihre Bemühungen,
mit den Betroffenen einen "Interessenausgleich und Sozialplan" zu
erarbeiten.

Dabei konnte der weltgrößte Farbenhersteller 2008 ein Umsatzplus
verbuchen und musste den beträchtlichen Jahresverlust von mehr als
einer Milliarde Euro vor allem der "unbaren Einmalbelastung"
zuschreiben, der sich aus dem Wertverlust des 2007 übernommenen
britischen Chemiekonzerns ICI ergeben (17) hatte.

Was aus den 56.000 zusätzlichen Arbeitsstunden wird, welche die
Mitarbeiter seit 2005 als ungedeckten Scheck auf den erhofften sicheren
Arbeitsplatz investiert haben, steht in den Sternen.

Blick über die Grenzen

Wenn nichts mehr hilft, kommt der internationale Vergleich, und dann
sieht mit etwas gutem Willen wieder alles ganz anders aus.

Die am 7. Oktober 2008, dem "Tag der Guten Arbeit", veröffentlichte
Studie Decent work and Wage Indicator (18) kommt beispielsweise zu dem
Schluss, dass Deutschland in Sachen "overtime hours not compensated at
all" bis auf weiteres noch im gesicherten Mittelfeld liegt. In
Großbritannien werden 53,6 Prozent der geleisteten Überstunden nicht
bezahlt, und in Argentinien liegt die Quote bereits bei 67,2 Prozent.
In Spanien und Mexiko wird noch häufiger zum Nulltarif gearbeitet. Hier
liegt der Anteil der nicht bezahlten Überstunden bei 68,8
beziehungsweise 78,8 Prozent.

LINKS

(1) http://www.diw.de
(2)
http://www.diw.de/documents/dokumentenarchiv_diwip/75/42381/DIWiP_ND_KFZ
_Mehrarbeit_20040827.pdf
(3) http://www.diw.de/documents/publikationen/73/44184/06-15-1.pdf
(4) http://www.boeckler.de/8.html
(5) http://www.boeckler.de/pdf/impuls_2008_05_1.pdf
(6)
http://www.iab.de/de/informationsservice/presse/presseinformationen/az20
08.aspx
(7) http://www.linksnet.de/de/artikel/24259
(8) http://businesscrime.de/?p=1#more-1
(9) http://www.wbpr.de
(10)
http://enable06.myenable.com/fusion/apps/doc/public/130/Productivity S
tudy/2008%20Global%20Productivity%20Study%20US.pdf
(11) http://www.dielinke-info.de/presse/presse_08/004685.html
(12) http://www.sozialkasse-berlin.de
(13) http://www.tageschau.de/multimedia/sendung/bab/bab64.html
(14) http://www.zoll.de/d0_zoll_im_einsatz/b0_finanzkontrolle/index.html
(15) http://www.ndrinfo.de/nachrichten/akzo100.html
(16)
http://www.akzonobel.com/de/presse_medien/pressreleases/_2008_deutsch/ak
zoobel_stellt_sein_geschaeft_mit_bautenfarben_in_deutschland_neu_auf.asp
x
(17) http://www.akzonobel.com/news/reports/2009/q4_fy_report_2008.aspx
(18)
http://www.wageindicator.org/documents/publicationslist/publications_200
8/081006-decentwork-report.pdf

Telepolis Artikel-URL: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/29/29930/1.html

Copyright © Heise Zeitschriften Verlag
 

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