Rostocks Kripo-Chef warnt vor erfundenen Vergewaltigungen – ein Faktencheck
Lena Melle ist wütend. “Der Artikel hat bei uns für große Aufregung gesorgt”, schreibt Melle, die seit 2010 in der Beratungsstelle des Rostocker Vereins Frauen helfen Frauen arbeitet, der HuffPost in einer E-Mail.
Es ist die Zahl der angeblich nie stattgefundene Vergewaltigungen, die für Aufsehen sorgt: “In acht von zehn Fällen sind die Taten nur vorgetäuscht“, hatte Rogan Liebmann, Leiter der Rostocker Kriminalpolizeiinspektion, in der vergangenen Woche der “Ostsee-Zeitung” (“OZ”) gesagt.
Die Begründung: 2017 führte die Rostocker Kripo insgesamt 78 Ermittlungsverfahren wegen Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen gegen Frauen. 63 wurden “wegen begründeter Zweifel am Ende eingestellt”, in 15 Fällen habe die Polizei sogar ein Verfahren gegen die Frauen wegen Vortäuschens einer Straftat oder falscher Verdächtigung eingeleitet.
Kripo-Chef Liebmann schimpfte in der “OZ”: “Die Ressourcen, die wir auch bei letztlich vorgetäuschten Verbrechen aufwenden müssen, fehlen uns für die echten Fälle, für die wirklichen Opfer.“
Mit seiner Warnung vor mutmaßlich lügenden Opfern sexueller Gewalt will er offenbar vor allem anderen Vorurteilen entgegentreten: “In vielen Fällen sind die angeblichen Täter dunkelhäutig. So wird Misstrauen gegenüber Fremden geschürt”, bemerkte Liebmann.
Sind viele Vergewaltigungsopfer die eigentlichen Täter? Wie groß und wie weit verbreitet ist dieses Phänomen – ist wirklich die Mehrheit der Vergewaltigungen und sexueller Übergriffe erfunden?
Die HuffPost hat die Polizei in über einem Dutzend Großstädten in ganz Deutschland sowie Experten um ihre Einschätzung zu der Problematik gebeten. Ihre Antworten ähneln sich: Sie zeigen, dass die Fragen nicht einfach zu beantworten sind – und dass das eigentliche Problem ein ganz anderes ist.
Hintergrund: Vergewaltigungen in Deutschland
Deutschlandweit wurden 2017 insgesamt 7.495 Fälle von Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen erfasst, wie aus der Polizeilichen Kriminalstatistik hervorgeht.
Davon wurden 946 Vergewaltigungen ”überfallartig” von Einzeltätern und 122 durch Gruppen begangen. Das heißt im Umkehrschluss, dass etwa 85 Prozent der Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffe in Ehen, in Beziehungen sowie im Freunden- und Bekanntenkreis geschehen. Das Bundeskriminalamt (BKA) betont: “Insbesondere für Vergewaltigungen (ist) der private Raum der Tatort.”
Laut BKA gehören sexuelle Gewalttaten “zu den Straftaten mit den höchsten Aufklärungsquoten”. Tatsächlich wurden 2017 82,6 Prozent der Vergewaltigungs- und Fälle von sexuellen Übergriffe aufgeklärt, auch in der Vergangenheit lag die Aufklärungsquote immer bei um die 80 Prozent. Zum Vergleich: Insgesamt wurden in Deutschland im vergangenen Jahr nur 57,1 Prozent der erfassten Straftaten aufgeklärt.
“Nicht die Realität der Opfer”
Fakt ist: Es gibt immer wieder Fälle von Vergewaltigungen, die sich im Nachhinein als frei erfunden herausstellen.
So wie die angebliche Vergewaltigung einer 21-Jährigen im Rostocker Stadtteil Lütten Klein am 8. Dezember, auf dem der “OZ”-Artikel basiert. Die junge Frau gab in ihrer Vernehmung schließlich zu, sich den Vorfall aus “persönlichen Gründen” ausgedacht zu haben.
Oder wie der Fall einer 20-Jährigen aus Stuttgart. Sie hatte Mitte November angegeben, im Unipark nur mit Not einer Vergewaltigung entkommen zu sein. Doch die Betroffene habe sich laut Polizei in Widersprüche verwickelt und dann zugegeben, den Fall nur vorgetäuscht zu haben, wie die “Eßlinger Zeitung” berichtete.
Oder zuletzt der aufsehenerregende Fall einer 15-Jährigen in München: Das Mädchen hatte fünf Afghanen beschuldigt, es im September mehrfach und tagelang vergewaltigt zu haben. Fast drei Monate nach der angeblichen Tat hatten die Ermittler aber so erhebliche Zweifel an den Aussagen des vermeintlichen Opfers, dass sie die Tatverdächtigen am vergangenen Donnerstag aus der Untersuchungshaft entließen.
Schwierige Faktenlage:
Es gibt bisher keine umfassende Untersuchung dazu, wie hoch der Anteil der Falschbeschuldigungen in Vergewaltigungsfällen tatsächlich ist. Mit Blick auf einige ältere Studien sowie auf Erfahrungswerte von Psychologen und Rechtsmedizinern geht der Hamburger Rechtsanwalt Mirko Laudon, der auf Sexualstrafrecht spezialisiert ist, “realistisch von 30 Prozent Falschbeschuldigungen” aus.
Auch die Hilfsorganisation Weißer Ring geht maximal von dieser Größenordnung aus, wie Pressesprecher Dominic Schreiner der HuffPost bestätigte. “80 Prozent vorgetäuschte Vergewaltigungen – es ist eine Zahl, die mich stocken lässt”, sagt er mit Blick auf den “OZ”-Artikel.
Die Schilderungen des Rostocker Kripo-Chefs würden sich ”überhaupt nicht” mit den Erfahrungen des Weißen Rings decken. Schreiner betont: “Sie bilden auch nicht die Realität der Opfer ab.”
Ein unseriöses Vorgehen?
Ebenso konnte keine von der HuffPost kontaktierte Dienststelle die Größenordnung aus Rostock nachvollziehen. Der Tenor: Vorgetäuschte Vergewaltigungen seien weder ein großes Problem noch im Ermittlungsalltag relevant.
Beispiel Chemnitz: 2017 führte die Polizei in der sächsischen Großstadt in acht Fällen Ermittlungen wegen angezeigter Vergewaltigungen durch – in keinem Fall habe es begründete Zweifel gegeben, an den Aussagen der Opfer zu zweifeln. “Vorgetäuschte Vergewaltigungen sind somit kein Schwerpunktthema für uns im Hinblick auf die Sachverhalte im Chemnitzer Stadtgebiet”, erklärte Polizeisprecher Andrzej Rydzik der HuffPost.
Und der Kriminologe, Ex-Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen und ehemalige niedersächsischer Justizminister, Christian Pfeiffer, erklärte in einem Interview mit der “Süddeutschen Zeitung”, das mitunter fast gar nicht angezeigt wird:
“Wenn der Täter ein Unbekannter ist – also der berüchtigte Auflauerer hinterm Busch – liegt die Anzeigenquote bei fast 60 Prozent. Gehört der Täter zum Kollegen- oder Bekanntenkreis, wird jede vierte Vergewaltigung angezeigt. Innerhalb des Familienkreises sind es 17 Prozent. Und im engsten Familienkreis – wenn der Täter also der eigene Partner ist – entscheiden sich so wenige Frauen zu einer Anzeige, dass wir gar keine zuverlässigen Zahlen haben.”
Viele Fälle landen erst gar nicht vor Gericht
Weißer-Ring-Sprecher Schreiner verweist zudem auf eine unsaubere Argumentation der Rostocker Kriminalpolizei. “Es heißt, dass 63 Fälle ‘wegen begründeter Zweifel’ eingestellt worden sind. Das kann sehr viele Gründe haben”, erklärt Schreiner. “Wenn Aussage gegen Aussage steht, wird der Vorwurf regelmäßig nicht weiter verfolgt.”
Dazu kommt: “Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe sind gerade in emotionalen Beziehungen sehr schwer beweisbar. Viele Fälle landen gar nicht erst vor Gericht”, bemerkt Schreiner. Auch, weil meistens Zeugen fehlen und sich die Opfer in einem so schwierigen psychischen Ausnahmezustand befinden, dass sie sich nur bruchstückhaft oder gar nicht an die Tat erinnern können.
Ein Kölner Polizeisprecher merkt zudem mit Blick auf die Rostocker Zahlen an: Solange die Verfahren gegen die 15 Frauen wegen Vortäuschens einer Straftat oder falscher Verdächtigung nicht abgeschlossen und weder die Version der Polizei, noch der ursprünglichen Anzeigestellerin durch ein Gerichtsurteil bestätigt sind, gilt die juristische Unschuldsvermutung für beide Seiten.
“Die Grundaussagen des Artikels basieren auf völlig unzulässigen Schlussfolgerungen und lassen sich nur als irreführend, unwissenschaftlich und falsch beschreiben”, empört sich deshalb der Rostocker Verein Frauen helfen Frauen auf seiner Webseite. Die Organisation hat sich zum Ziel gesetzt, Gewalt gegen Frauen und Kinder zu verhindern und von Gewalt Bedrohten zu helfen.
Auch der Verein betont: Wenn eine Tat nicht bewiesen werden könne, “heißt das nicht, dass sie nicht stattfand”. Aus Sicht von Frauen helfen Frauen wäre nur eine einzige Schlussfolgerung aufgrund der gegebenen Zahlen zulässig: “80 Prozent der angezeigten Vergewaltigungen können nicht nachgewiesen werden.” Doch das wäre wohl keine Meldung wert gewesen.