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Das Universum der Lügen - Ein Erfahrungsbericht aus der Welt wie sie nicht sein soll!

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Das Universum der Lügen - Ein Erfahrungsbericht aus der Welt wie sie nicht sein soll!

Das Universum der Lügen
Ein Erfahrungsbericht aus der Welt wie sie ist und nicht sein sollte​

Vorerde: Ich lüge!

Jeder Mensch lügt. Ich lüge, Sie lügen, die Anderen lügen. Wir lügen, um unsere Ruhe zu haben oder weil es mit der Wahrheit nur Streit und Zank gibt. Wir lügen, um keine Nachteile zu haben oder in extremen Situationen das nackte Leben zu retten. Solche Lügen nennt man »Notlügen«, weil man sich gezwungen fühlt, zu lügen. Man würde doch viel lieber die Wahrheit sagen, doch dann bekommt das Gegenüber einen Anfall. Man würde doch viel lieber zu dem stehen, was man ist, doch dann terrorisiert einen die Gesellschaft oder eine Amok laufende Regierung lässt einen einsperren oder umbringen.
So rechtfertigen wir all unsere großen und kleinen Lügereien.
Dann gibt es da noch das Lügen um des eigenen Vorteils willen. Auch das tun wir nur zu oft. Wir verschweigen Abweichungen von einer ominösen »Norm« um leichter einen Job oder eine Wohnung zu bekommen oder um Bürgermeister oder Landeshauptmann zu werden.
Auch das rechtfertigen wir wieder vor uns und anderen.
Und merken dabei nicht, wie die Lügen langsam eine Eigendynamik gewinnen. Wir schaffen mit unseren Lügen ein Bild von der Welt, wo die Menschen Jahre oder Jahrzehnte brauchen, um zu erkennen, dass dieses Bild nicht stimmt. Aber selbst das rechtfertigen wir vor uns und anderen:
»Die Leute wollen belogen werden.«
»Wer die Wahrheit sagt, wird ausgelacht oder umgebracht.«
Nachdem wir unser Gewissen, sofern wir überhaupt noch eins haben, so beruhigt haben, lügen wir weiter. Schließlich haben wir damit Erfolg und arglose Zeitgenossen machen nur zu oft den Eindruck, als ob sie belogen werden wollen.
Wir lügen nicht mehr zum Schutz vor Nachteilen, wir lügen, weil wir uns so am einfachsten Vorteile verschaffen können. Wir belügen nicht mehr die Schergen einer Diktatur, die uns sonst umbringen würden, sondern wir belügen mit Vorliebe und ohne Zwang die Menschen, die uns vertrauen.
Als kleiner Polit-Kader belügen wir Menschen, die »etwas ändern wollen« oder die aus Verzweiflung über ihre Lebenssituation bei uns Rat suchen. Als so genannter »Experte« belügen wir die Menschen, die von uns Erklärungen und Handlungsanleitungen für knifflige politische, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Probleme suchen. Als religiöser Würdenträger belügen wir die Menschen, die in unsere Kultstätte kommen, um hier Gemeinschaft und Orientierung zu suchen. Als Philosoph belügen wir die Menschen, die in unseren Büchern Antworten auf die großen Fragen suchen. Als Naturwissenschaftler erfinden wir Beweise und Belege, damit man uns unsere Theorien glaubt. Als Politiker belügen wir die Menschen, die von uns Schwung und Tatkraft, Ideen und energische Führung erwarten.
Wir lügen so lange und so dreist, bis sich an uns der Spruch erfüllt: »Lügnern glaubt man nicht, auch wenn sie die Wahrheit sagen.«
War die Mondlandung ein Schwindel oder lügen die, das behaupten?
Angesichts der allgegenwärtigen Kultur der Lügen interessiert diese Frage niemanden wirklich. Die einen lügen, um den Nimbus einer historischen Großtat weiter zu behalten und die anderen lügen, weil sie gegen Raumfahrt sind. Zur Hohen Schule der Lüge gehört es, auch bei der Widerlegung einer Lüge selbst zu lügen. Man entlarvt einen Lügner, dessen Lügen zu offenkundig geworden sind, um an seiner Stelle die arglosen oder apathischen Menschen weiter zu täuschen.

Ich selbst habe es nie über das Stadium der Notlüge hinaus gebracht. Beim Vorstellungsgespräch habe ich meinen zukünftigen Chefs die Sachen verschwiegen, die sie sowieso nicht wissen wollten. Auf der Passiv-Seite gehöre ich ausgerechnet als gesellschaftlich interessierter und aktiver Mensch zu jenen Intellektuellen, die dann noch auf sich als Hoffnungsträger ausgebende Lügner hereinfallen, wenn einfache Menschen mit ihrem einfachen Verstand schon resigniert abwinken. Ich gehe noch wählen und habe sogar noch Hoffnungen auf Präsident Obama. So wie ich einmal auf Gerhard Schröder und Joschka Fischer gehofft hatte und in deren Seltsamkeiten nur normale Fehler und die Eitelkeiten von Spitzenpolitikern sah. Ehe als Fazit kam: »Der Schröder hat uns doch nur alle verarscht!«
Aber allmählich kommt bei mir die Götzendämmerung. Weil von der Partei bis zum Internet-Portal immer wieder das gleiche Schema arglistiger Täuschung oder »Täuschung der Arglosen« durchgespielt wird. Man ist ein bisschen naiv und passt nicht auf, hofft sogar auf etwas umsonst und bekommt dann auf die eine oder andere Art und Weise die Rechnung präsentiert. Wobei die Lügner noch sagen, dass man selbst schuld ist.
Die mir aus eigener Erfahrung, sozialwissenschaftlicher Analyse und als Zeitzeugin bekannten Täuschungen und Lügen sind so durchgehend und konsequent, dass sie ein komplettes Universum bilden. Ich frage mich da mit zunehmender Besorgnis, wie das in den Naturwissenschaften aussieht, wo ich als Laie deren Aussagen nur schwer überprüfen kann. So wie ich als Gesellschaftswissenschaftlerin die gesellschaftswissenschaftlichen Lügen entlarven kann, so braucht man Naturwissenschaftler, um ihre Kollegen beim Lügen zu ertappen.
In der Gesamtschau ergibt das in Anlehnung zu Wittgenstein als existenzielle Grundlage: »Die Welt ist das, was wir uns über sie zusammengelogen haben.« Ich habe mein Leben lang Halt bei diversen Autoritären und politischen Konzepten zu suchen. Um immer wieder enttäuscht zu werden. Hat man erst einmal jedes Vertrauen verloren, ist es erschreckend leicht, von Gott bis zum Bäcker jeden der Lüge zu bezichtigen.
Bleibt da noch Hoffnung?
Schließlich ist die Hoffnung das wirksamste und beliebteste Instrument der Täuschung. Aber die Hoffnung zu verwerfen und die Menschen aufzufordern, in der Hoffnungslosigkeit brav zu leiden, ist nur eine weitere Lüge. Die oben bereits erwähnte Widerlegung der Lüge durch eine andere Lüge. So ist es für uns gleichermaßen sinnlos zu hoffen oder auf Hoffnung zu verzichten. Den Lügnern ist beides Recht. Solange wir tun, was sie wollen.

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Einleitung: »Warum tun die das?« - Reflexionen über das autoritäre Arschloch.

Ich war noch ein Kind, als ich mit Anderen auf einer längeren Wanderung war. Uns kam ein älterer Herr entgegen und beschimpfte uns ohne ersichtlichen Grund. Warum hat er das gemacht? Diese Frage habe ich mir bei vergleichbaren Erlebnissen seither oft gestellt. Warum machen die das? Warum beschimpfen, drangsalieren, belügen, betrügen, diffamieren, schlagen Menschen andere Menschen ohne offen zutage liegenden Grund?

Ein Beispiel auch aus der Kindheit war unser Biologielehrer. Für Leistungen, für die die Schüler bei anderen Lehrern eine 2 erhielten, gab er nur eine 4. Er benotete nicht nur ungerecht, sondern drangsalierte die Schüler auch mit schweren Aufgaben. So traf meine Familie einmal beim Spaziergang eine andere Familie im Wald. Die machten Gipsabdrücke von Wildtieren, weil der Lehrer das für den Biologieunterricht verlangt hatte. Nicht für den Leistungskurs an der Oberstufe, sondern für eine popelige Realschulklasse! Dass Biologie selbst in der Schule Spaß machen konnte, erlebte ich erst an der Oberstufe, wo ich plötzlich anstatt einer 4 eine 2 erhielt.
Wie verhasst besagter Lehrer war, wird daran deutlich, dass über ihn das Gerücht in die Weltgesetzt wurde, er sei wegen einer Affären mit einem Jungen an unsere Schule strafversetzt worden. Ob das Gerücht wahr oder gelogen ist, kann und will ich nicht sagen. Nur gaben die Schüler durch das Verbreiten dieses Gerüchtes kund, dass sie ihn aus Gründen, die nicht in der Sexualität lagen, mit Recht für ein Arschloch hielten.
Wenn es nur um besagten Herrn ginge, wäre es die Mühe nicht wert, noch an sein Wirken zu denken.. Aber dem Vergessen lange vergangener Drangsalierungen liegt auch ein gefährlicher Trugschluss zugrunde: Die Hoffnung, dass es automatisch und von selbst aufhört. Bewusst oder unbewusst hatten wir als Schüler und junge Menschen die Vorstellung, dass wir jetzt nach der Devise »Lehrjahre sind keine Herrenjahre« behandelt und eben auch schikaniert werden. Aber dass, wenn wir da durch sind, auch für uns die Herrenjahre kommen. Also buckeln, die Schnauze halten und sich nicht über schlechte Noten und ein trotz des interessanten Fachs schlechtes Unterrichtsklima beschweren. Irgendwann ist ja die Schule vorbei und auf den Gedanken, dass selbst und besonders eine als Pflicht verstandene Aufgabe wie das Lernen auch gern tun könnte, kamen wir nicht.

In einem Gespräch in einer Teestube in meiner Heimatstadt äußerte die Wirtin in den 1970er Jahren folgende Hoffnung: Die ältere Generation mit ihren autoritär geprägten Einstellungen müsse erst wegsterben, damit wir freier leben können. Im Nachsatz sagte sie jedoch: Aber manche Junge sind ebenso wie die Alten. Wobei sich dieser Nachsatz auf traurige Weise bestätigt hat.
Es sind keine Einzelfälle, Zufälle oder dass der eine den Anderen nun mal nicht leiden kann und ihn deshalb schlecht behandelt. Bei Antipathie gibt es auch die Möglichkeit zu sagen: »Wen ich nicht leiden kann, der hat von mir nur zu befürchten, dass ich ihn ignoriere.«
Aber geht es um Antipathie, Zuneigung oder Abneigung?
Als nächste Erklärung wird Macht ins Spiel gebracht. Man drangsaliert die, über die man Macht hat, um seine Macht zu zeigen. Das scheint mir keine zwingende Erklärung zu sein. Der Lehrer, der fair benotet, ist bei den Schülern und ihren Eltern angesehener als einer, von dem sie sich schlecht behandelt fühlen.
Eine Erklärung gibt besagter Lehrer selbst: Eine Vier ist eine gute Note. Es liegt also kein böser Wille und keine Ungerechtigkeit vor, sondern Handeln im guten Glauben. Nun ja, das wäre bestenfalls Solipsismus: jemand lebt da so in seiner eigenen Welt, dass er nicht einmal die Maßstäbe der eigenen Berufskollegen zur Kenntnis nimmt.
Apologeten eines autoritären Unterrichtsstil könnten auch sagen: der Lehrer hat so streng benotet, um die Schüler richtig zu erziehen, weil sie Gutmütigkeit als Schwäche auslegen würden. Die Erklärung hat aber den Haken, dass der Biologieunterricht mir das Fach verleidet hat. Wären da nicht eigenen starken Interessen und andere Informationsquellen, so würde ich um alles, was mit Flora und Fauna zu tun hat, einen großen Bogen machen.

Schon dieses Beispiel zeigt, wie schwer es ist, Erklärungen für willkürliches und ungerechtes autoritäres Verhalten zu finden. Deswegen nimmt man es nur zu oft hin und hinterfragt es nicht. Ist das der Sinn der Übung für das System? Gefügige Menschen zu erzeugen, die schon in der Schule darauf getrimmt werden, leichte Opfer von Willkür zu werden und diese Willkür klaglos hinzunehmen. Dieses System kann sich auch so erhalten, ohne dass es einem der Beteiligtem, weder dem Lehrer noch den Schülern, bewusst ist.

Wobei dem Lehrer noch viele, viele weitere folgten, die ihre Macht über andere Menschen missbrauchten. Denn das autoritäre Arschloch hat viele Erscheinungsformen und begleitet uns durch das gesamte Leben: der tyrannische Ehemann oder die Ehefrau, mobbende »Kollegen« und Vorgesetzte, scheinheilige Priester und Pfarrer, Sachbearbeiter, die von ihnen abhängige Menschen drangsalieren, Anwälte, die ihre Mitmenschen mit Abmahnungen terrorisieren, Straßenschläger, die Stadtviertel und Dörfer unsicher machen, Polizisten, die ihre Mitbürger nicht schützen, sondern schikanieren ... jeder ist dem autoritären Arschloch in einer dieser oder einer anderen Form schon oft begegnet. Man hatte selbst unter ihnen zu leiden oder kennt die Geschichten von anderen Opfern. Man verzweifelt an sich selbst und seinen Mitmenschen, weil alle die Tyrannei hinnehmen und nur zu oft noch Ausreden und Rechtfertigungen finden.
Immer fragte ich mich: »Warum tun die das?« Vielleicht ist eine Antwort auf diese Frage nicht so wichtig. Erklärungen zeugen oft mehr von Hilflosigkeit als von Verstehen. Es ist viel wichtiger, das autoritäre Verhalten in Frage zu stellen und die großen und kleinen autoritären Arschlöcher nicht mehr als Schicksal hinzunehmen. Die Frage, warum sie das tun, können nur sie selbst beantworten.

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Teil 1: Meine Bisexualität und die sexuelle Natur des Menschen

Eine meiner ersten Kindheitserinnerungen war, wie eine Tante zu Besuch kam und ich voller Begeisterung unter dem Tisch spielte, an dem sie saß. Das war nicht sexuell im bewussten Sinne und mir war nicht klar, warum ich so fühlte. Doch nach der Tante fühlte ich mich auf die gleiche Art und Weise zu einem hübschen Nachbarsjungen hingezogen. Und zu einem Cousin. Dann war es ein Mädchen in der Schule und auch ein Klassenkamerad, an dem mir schöne Beine und ein schöner Körper auffielen. Auf der Oberstufe waren es ein, zwei Frauen und ein Freund. Meine Verliebtheiten zeigten nie Erfolg und wären nicht der Rede wert, wenn da nicht die sexuelle Natur des Menschen wäre. Die ich von Anfang an als bisexuell erfuhr, weil ich alle Geschlechter bei Liebe und Sexualität als gleichermaßen anziehend ansah.
Kaum war ich in den 1980er Jahren in Berlin und begegnete meiner ersten Transe, fand ich die auch attraktiv. Leider waren die Umstände der Begegnung recht unerfreulich. Es war ein hässlicher Streit in der U-Bahn. Soweit ich das mitbekommen hatte, reizte die Transe in Begleitung ihrer Freunde einen Fahrgast bis aufs Blut. Ich hatte keine Lust, die Auseinandersetzung weiter zu verfolgen und deshalb keine Gelegenheit, mehr Gefallen an der Transe zu finden. Ein Studienkollege, der sich bei einer Karnevalsparty in kurzem Rock und dünner Strumpfhose zeigte, war für mich auch nicht ohne Reiz. Bei einem Besuch im »Chez Nous« fand ich nicht die als 150-prozentig perfekte Frauen aufgemachten Transvestiten auf der Bühne am attraktivsten. Die waren so perfekt, dass sie als Frauen durchgingen und Frauen mag ich auch, aber die gab es auch sonst. Nein, am attraktivsten war die Transe an der Garderobe, die schon etwas älter war und der man ansah, dass es eine Transe war. Aber genau das wollte ich auch.
Im Berlin der 1980er Jahre entdeckte ich dann auch die Kontaktanzeigen im Stadtmagazin TIP. Manchmal schaltete ich auch selbst welche und das Ergebnis waren im Laufe von zwei Jahrzehnten etliche Treffen mit Männern und drei, vier Treffen mit Frauen. In München, wo ich um 2000 lebte, war das Klima damals offener als in Berlin: nur zu oft wurde ich in einem einschlägigen Lokal »abgeschleppt«. Zwei- oder dreimal hatte ich auch Sex mit einer Transe. Zweimal habe ich für Sex bezahlt (zwei Frauen) und einige Male habe ich mich dafür bezahlen lassen.
Aus all den Erfahrungen darf man nicht schließen, dass ich ein Lotterleben mit ständigen Orgien geführt habe. Im Gegenteil: ich habe einen so guten Überblick über mein Sexleben, weil da wenig stattgefunden hat. Die Quantität wäre nicht der Rede wert und würde von jedem halbwegs normalen Paar leicht übertroffen werden können. Das von Zeitungen wie »Bravo« in den 1970er Jahren gezeichnete Bild einer sexuell freien Jugend, die zeitig loslegt, um sich nach einer »wilden Zeit« dauerhaft zu liieren, kann ich nicht bestätigen. Andere mögen so gelebt haben – oder sich von diesem Bild ebenso verarscht und davon ausgeschlossen gefühlt haben wie ich. Ich war immer wieder unglücklich verliebt und Bisexualität verkomplizierte es noch. Weil nicht alle bisexuell sind und ich es immer »schaffte«, mich in Menschen zu verlieben, wo es schon wegen der Neigungen nicht klappte. Der Mann, der zwar hübsch und geil, aber hetero war, kam da ebenso vor, wie die Transe, die nur Männer wollte und es gab auch die Transe, die nur »richtige« Frauen wollte. Das Leben ist kompliziert!
Das Besondere und Erwähnenswerte bei mir ist, dass so viel Verschiedenes stattgefunden hat. Mit Männern, Frauen und Transen, gegen Bezahlung von mir, umsonst und für Geld. Soweit das mit meinem Charakter möglich ist – ich bin passiv und devot – habe ich alles ausprobiert und mich entgegen meinen Neigungen sogar dazu überreden lassen, einmal die Domina zu spielen.

Was ist die sexuelle Natur des Menschen?

Soweit ich das überblicken kann, liegt der Anteil der Heterosexuellen zwischen 50 und 70 Prozent. Wobei das auch Definitionssache ist und »Heteros« beim Umgang und der Wertschätzung des anderen Geschlechtes eine extreme Bandbreite zeigen. Im Leben und in der Literatur gibt es da eine Männerbündelei, wo ich mich immer frage, wie auf Frauen fixierte Kerle es immer nur mit Ihresgleichen aushalten. Das Gleiche bei heterosexuellen Frauen, die untereinander kuscheliger und zärtlicher sind als zu Männern.
Zudem bleibt die sexuelle Orientierung im Laufe des Lebens nicht konstant und ihre Definition mag von Kultur zu Kultur unterschiedlich sein.
So ist mir und den Anderen aus unserer Reisegruppe bei einer Studienreise nach Jordanien in den 1980er Jahren aufgefallen, dass es da bei den Jugendlichen immer Pärchen von zwei Männern oder zwei Frauen gab. Ich denke nicht, dass das Homosexualität in dem Sinne war, wie wir sie im Westen kennen beziehungsweise definieren. Meines Erachtens war es so, dass die jungen Menschen da in einem Freund oder einer Freundin eine innige Beziehung und Zuwendung suchten und es eine Mischform zwischen Freundschaft und Beziehung war. Sex fand nicht statt, aber ihr Auftreten in der Öffentlichkeit legt den Gedanken nahe, dass sie sich sehr nahe standen. Heirateten die Partner dieser Freundschaften, dann gehen sie auseinander. Man hat nun seine Frau oder seinen Mann und braucht keine voreheliche »Ersatzbeziehung« mehr.
Aus unserer Gesellschaft kenne ich persönlich und aus Berichten Beispiele von Männern und Frauen, die verheiratet waren und Kinder hatten, um plötzlich ihre homosexuelle Seite zu entdecken und auszuleben. Umgekehrt soll es ehemalige Homo-Aktivisten geben, die nun mit Frau und Kindern leben.
Man muss konstatieren, dass es zwar einen »Kern« oder »Pol« der Sexualität gibt, der aus Heterosexualität und Mann und Frau besteht. Weil bisher die Vereinigung von Mann und Frau die einzige Möglichkeit war, um Nachkommen zu haben und die Art zu erhalten. Dieser »Kern« macht allerdings nicht alles aus und es ist fraglich, ob er alles sein könnte. Ideologien, Gesellschaften und Epochen, wo Heterosexualität zur alleinigen und notfalls mit Gewalt durchgesetzten Norm wurde, zeigen in keiner Weise überzeugende Resultate. Nur zu oft haben in ihnen innergesellschaftliche Gewalt und staatliche Repression traurige Höhepunkte erreicht. Bestenfalls ist ihre »Strenge« eine hilflose Reaktion auf Niedergangserscheinungen, für die sie freizügige Sexualität verantwortlich machen. Den Niedergang aufhalten konnten sie dadurch nicht. Die Sittenstrenge des Christentums hat das Römische Reich nicht vor dem Untergang bewahrt, sondern die Christen mögen ihn noch beschleunigt haben. Die Nazis verschärften den Paragraphen 175 und ihre Politik führte in nur 12 Jahren zum Untergang des Deutschen Reiches. Die Beibehaltung des Naziparagraphen 175 in den ersten zwanzig Jahren der BRD war Teil einer schweren Hypothek aus gesellschaftlicher Erstarrung und versäumter tief greifender geistiger und kultureller Erneuerung Deutschlands.
Auch und besonders von ihrem extremsten Argument aus scheitern die Apologeten »homophober« Ideologien. Sie sagen: Abweichungen von der heterosexuellen Norm sind wie eine Krankheit zu behandeln und zu beseitigen. Dazu allerdings hatten sie im Laufe der Geschichte genug Gelegenheit. Es gibt seit vielen Jahrhunderten Systeme, wo Homosexualität geächtet und sanktioniert wird. Wäre diese nun eine Krankheit oder eine Menschenopfern vergleichbarer schädlicher Defekt, so gäbe es sie nicht mehr. Schließlich hat die Menschheit etliche Dinge überwunden, die »krank«, »dysfunktional« oder »schädlich« gewesen sein mögen. Viele Infektionskrankheiten, an denen früher Tausende oder Millionen starben, lassen sich behandeln. Menschenopfer und grausame öffentliche Hinrichtungen aus nichtigem Anlass, Leibeigenschaft und Sklaverei waren selbst in Hochkulturen weit verbreitet. Heute sind sie Randerscheinungen und werden als Zeugnisse von Degeneration und Rückständigkeit angesehen.
Nur die Homosexualität und andere Abweichungen von der »Norm« bleiben, obwohl sie über Jahrhunderte und mit viel mehr Eifer und Penetranz als Krankheiten, Menschenopfer und Hinrichtungen oder Sklaverei und Leibeigenschaft bekämpft wurde.
Das legt die Schlussfolgerung nahe, dass nicht die sexuellen »Abweichungen« falsch sind. Falsch handeln diejenigen, die sie mit ebensoviel Eifer wie Erfolglosigkeit verfolgen und dabei nur Leid über die Menschen bringen.
So komme ich zu dem Schluss, dass Heterosexualität nur der eine »Pol« menschlicher Sexualität ist. Sie hat als einzig mögliche Form der Fortpflanzung eine besondere Bedeutung. Aber Sex ist mehr als Fortpflanzung und hat viele Funktionen: Ablenkung, Entspannung, Lustgewinn, Aggressionsabbau, Schaffung sozialer Bindungen ... bei all diesen anderen Funktionen konkurriert die Heterosexualität mit anderen Formen der Sexualität. Komplizierter wird es noch dadurch, dass die »Pole« nicht in allen Kulturen gleich definiert werden. In einem namibischen Stamm besteht Heterosexualität darin, dass der Mann so viele Frauen haben kann, wie er will. Die Frauen wiederum haben manchmal schon vor der Ehe eine Affäre und ein Kind. Wenn eine verheiratete Frau einen anderen Mann ausprobieren will, kann sie das tun ... und diese Gesellschaft machte trotz der harten Lebensbedingungen als Nomaden zumindest in der Dokumentation über sie einen glücklichen Eindruck.
Wenn »Heterosexualität« in Namibia ganz anders definiert wird als etwa durch die katholische Kirche, ist auch bei Nicht-Heterosexualität mit keiner immer gleichen Definition zu rechnen. Die oben angesprochenen Pärchen arabischer Jugendlicher sind nicht heterosexuell, aber sie würden die Defintion als »schwul« oder »lesbisch« wohl entschieden ablehnen.

So wird durch die Einbeziehung verschiedener Kulturkreise aus dem bisexuellem Westler der multisexuell veranlagte Mensch. Der Mensch, der durch seine Kultur und Sozialisation vorgeprägt ist, sich aber nicht auf ein bestimmtes Muster festlegen oder in ein Schema zwingen lässt. Weil es immer auf Vielfalt und Mannigfaltigkeit hinaus läuft.
Zudem haben wir in unseren Erörterungen der »sexuellen Natur des Menschen« den Begriff der »Natur des Menschen« von etwas Starrem und Determinierenden zu etwas Offenen und im Fluss befindlichen gemacht. Aus der Innenschau einer Gesellschaft und einer Kultur heraus mag der Mensch immer gleich erscheinen, verhaltensgesteuert und erschreckend leicht manipulierbar. Je konformistischer eine Kultur ist, desto mehr mag sie ihre Verhaltensweisen und sozialen Muster aus Ausdruck einer allgemeingültigen Natur des Menschen betrachten. Aber keine Kultur existiert ewig und unverändert und jede Kultur existiert neben anderen Kulturen. Diese Vielfalt stellt das Konzept einer alles erzwingenden »Natur des Menschen« in Frage. Wir kommen da auf den italienischen Soziologen Labriola zurück, der sagte: »Die Natur des Menschen ist die Kultur.« Was uns als in einer bestimmten Kultur Lebende naturhaft erscheint, ist Ausdruck unserer Kultur. Wir reden vom Menschen mit seinen Fehlern oder Vorzügen und meinen nur zu oft Deutsche oder Afrikaner, reiche Schnösel und arme Schlucker, Manager oder Intellektuelle.

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Teil 2: »Sexualität und Lüge« - die Aufklärung fand nicht statt

Die bisherigen Erörterungen zeigen, wie komplex und verwirrend menschliche Sexualität ist. Trägt man da alles aus untergegangenen und noch existierenden Kulturen zusammen, wird das Ergebnis je nach Sichtweise bunte Vielfalt oder sexuelles Chaos sein. Wie war das noch mit den Rechten der Berberfrauen im Vergleich zu denen der Araber? Darf frau in Dubai Miniröcke tragen und fliegen deshalb Iranerinnen dorthin? Warum stehen so viele Männer auf Frauen, die einen schönen und großen Penis haben? Welche Rolle spielen zum Kuscheln domestizierte `Haustiere?
Da mag es sogar verständlich erscheinen, das alles – was man selbst nicht immer erotisch, sondern manchmal abstoßend findet – außen vor zu lassen und sich davon zu distanzieren, ja es sogar zu bekämpfen. Nur folgt das Chaos einem bis ins letzte Dorfkaff, ins Klassenzimmer oder ins Gotteshaus. »Einer in jeder Klasse ist schwul.« Da ist einer, der zwar ein Kind hat, aber von sich sagt, er sei nicht heterosexuell. Ich musste dem »sexuellem Chaos« in meinem Leben nicht hinterher laufen oder mit viel Aufwand nach ihm suchen. Es kam zu mir. Manchemal war es lustig, manchmal nervig. Aber es kam, wenn ich es wollte und es kam auch ungebeten. Weil es überall ist.
Sexualität ist eines der wichtigsten Dinge im menschlichen Dasein. So bedeutend und vielgestaltig wie Politik und Wirtschaft, Literatur und Wissenschaft. Wie steht es nun um den Diskurs darüber? Um die Aufklärung.
Aus der Schulzeit kenne ich das so: man wurde darüber aufgeklärt, wo die Kinder herkommen. Zuerst wurde das mit Kätzchen demonstriert, dann ging man zu menschlichen Babys über. Darüber hinaus gab es noch einige Ausführungen zu heterosexuellem Sex zum Zwecke des Vergnügens durch »Bravo« und co. Und dann war Schluss.
Menschen jedweder sexuellen Orientierung haben folgerichtig gesagt: »Wir haben uns selbst aufgeklärt.« Learning by Doing, Versuch und Irrtum. Da merkte einer erst, dass er schwul war, als es nach der Heirat mit der Frau im Bett nicht klappte. Ich fühlte schon recht früh in meiner Kindheit, dass ich bisexuell bin, doch hatte nie die Worte, um das auch zu sagen.

Nur nicht offen darüber reden!

Manch einer, bei dem Weihnachten öfters als Sex ist, würde vielleicht nicht darüber reden wollen. Weil es da zu viel marktschreierischen BlaBla und peinliche Spam-Mails (»Hallo Mausi, wir haben uns doch lange nicht mehr getroffen und geh mal auf meine neue Homepage ...«) gibt.
Nicht offen zu reden oder die Marktschreierei zu verbieten, erzeugt keine wohltuende Stille. Sondern das heimliche Getuschel. Da saß ich nichtsahnend in einem Bus in meiner Heimatregion, dem erzkonservativen Weserbergland. Auf der Bank gegenüber unterhielten sich zwei stämmige Kerle über das innovative Konzept für ein Bordell der gehobenen Kategorie: Es muss eine Flatrate sein, wo es für einen Betrag von 1000 bis 2000 Euro so viel Sex, Essen und Trinken gibt, wie Mann will. Die Frauen müssen gut aussehen und es dürfen nicht solche »Schabracken« sein, wie sie in Hameln anschaffen.
In besagtem Hameln erkundigte ich mich bei einem Mitarbeiter einer für junge und aufgeschlossene Menschen bestimmten Kneipe nach der Gruppe »Rosa Hameln«. Besagte Gruppe machte in der Kneipe einen Stammtisch für Homosexuelle. Die Antwort war: Nein, das Rosa Hameln gibt es nicht mehr und die, die es gemacht haben, sind aus Hameln weggezogen. Ich hörte daraus kaum verhüllt die Botschaft heraus: wenn du so einer bist, zieh doch auch wieder weg. Vom Hörensagen weiß ich, dass Rechtsextreme dafür gesorgt haben, dass es in einer ostdeutschen Kleinstadt keine Beratungsstelle für Schwule gibt. Vielleicht, weil da der eine oder andere Kamerad selbst hingehen würde?
Offen reden muss man nicht, man kann doch Bus fahren und sich von Mitreisenden aufklären lassen. Oder trampen, wo ich mal von einem Mann auf harmlose Weise angemacht wurde. Deshalb gab es auch keinen Grund, Homosexualität in der Schule zu thematisieren.

Warum wird Sexualität verschwiegen, wo sie doch unweigerlich gelebt wird?
Reden Menschen »nicht darüber«, weil sie sich schämen oder traumatische Erlebnisse hatten? Dann reden sie anders oder zu Anderen. Für jemanden, der seine Homosexualität nicht in seinem Umfeld kund tun mag, wäre ein »Rosa Stammtisch« genau das Richtige. Er würde auch Homosexuelle in die Gesellschaft integrieren und dadurch den Zusammenhalt verbessern. Warum darf es das nicht geben?
Muss im Universum der Lügen bei der Sexualität auch gelogen werden?
Ich sah oft die Sexualität diverser Zeitgenossen als abstoßend an, sondern die Lügen, die im Zusammenhang damit verbreitet wurden. Da wollte Hitler nichts davon gewusst haben, dass einer seiner engsten Freunde, Ernst Röhm, schwul war und das offen lebte. Nach dem Tode Jörg Haiders erfuhr die Welt, dass er schwul gewesen war und sein Umfeld auch über seine »Haiderbuan« Bescheid wusste. Nur dem blöden Wahlvolk wurde da ein Hetero vorgegaukelt. Ein Rechter schrieb sinngemäß, Haider habe seine Homosexualität wenigstens nicht marktschreierisch verkauft. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Das einzige Verdienst der Beusts, Westerwelles und Wowereits ist es, den Menschen anschaulich zu demonstrieren, wie sehr Heterosexualität als Norm eine Illusion ist. Weil ich bei den drei Herren außer ihrem Bekenntnis zum Schwulsein keine Verdienste erkennen kann. Mehr unfreiwillig als aus Idealismus haben sie dazu beigetragen, dass sich im Universum der Lügen wenigstens in einem Bereich ein Schimmer der Wahrheit zeigt.
Menschen sind sexuell.
Menschen sind auf viele verschiedene Arten sexuell.
So wie in anderen Bereichen dienen großflächig organisierte Lügen auch bei der Sexualität dazu, die Menschen über ihr Leben zu täuschen und sie leichter manipulierbar zu machen. Eine falsche Sexualmoral, wo sich allen hinter der Fassade abspielt und nur noch die Fassade zählt, dient nicht der Ordnung, sondern der Herrschaft. Wer da Menschen etwas verbietet, was sie brauchen und auch trotz des Verbotes tun werden, gewinnt so Macht über sie. Er kann sie dazu bringen, sich für ihr Tun schlecht und schuldig zu fühlen. Schließlich leben wir in einer Kultur der Schuld. Die Priester erzählen us, dass wir wegen der Erbsünde schuldig sind. Die Historiker erzählen uns, dass wir wegen des Holocausts schuldig sind. Die Ökologen sagen uns, das wir schuld an der Zerstörung der Umwelt sind und die Wirtschaftsexperten stellen fest, dass wir stets über unsere Verhältnisse leben. Der »Spiegel« brachte ein Titelbild mit einem Baby und der Überschrift »Pleite geboren.« Er hätte auch titeln können: »Pervers geboren.« Denn das Baby wird zu einem Menschen heranwachsen. Menschen haben Sexualität und sind damit schuldig!
Uns Normen zu unterwerfen, die wir nicht einhalten können und die so gemacht sind, dass wir sie zwangsläufig übertreten müssen, macht uns alle zu Rechtsbrechern. Wir leben in ständiger Angst, wegen der einen oder anderen »Verfehlung« bestraft zu werden. Wer immer sich berufen fühlt, zu herrschen, braucht dann nur unseren Rechtsbruch zu ermitteln und wir sind seiner Willkür ausgeliefert. Dann wird dem Arbeiter gekündigt, weil die Firma herausgefunden hat, dass er schwul ist.
Alldieweil die Schergen einer falschen Moral selbst in den Dark Room gehen und auf dem Konto nicht mit 1000 Euro im Minus sind, sondern Fehlsummen in Millionen- oder Milliardenhöhe hinterlassen. Doch sie können immer mit Milde rechnen: als Steuerhinterzieher müssen sie nicht ins Gefängnis, bei unfähigen Manager übernimmt die Allgemeinheit den Ausgleich der Schadenssumme und die rechte Klemmschwester wird von den Kameraden für die Heuchelei und die Täuschung der Öffentlichkeit noch gelobt. Kaum hat sich der Staub gelegt und keiner weiß mehr, was es mit Liechtenstein, wo Ex-Postchef Zumwinkel eine Million Euro hinterzogene Steuern deponierte, Hypo Real Estate, für das der Staat 90 Milliarden Euro bereitstellte oder den Haiderbuan auf sich hatte, setzen die Moralapostel zu neuen Großtaten an. Sie blasen den nächsten Geldballon auf oder poppen den nächsten »Bua«. Und ermahnen uns zu Bescheidenheit und Sittenstrenge.

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Teil 3: »Mann oder Frau?« – Wie viele Geschlechter gibt es?

»Ich will lieber ein Mädchen sein.« Das gehört zu den ersten gesprochenen Worten, an die ich mich noch erinnern kann. Gesprochen habe ich sie als ... na ja Junge von höchstens fünf Jahren. Und dabei, die Hose die ich nicht tragen wollten, über das altmodische große Röhrenradio geworfen.
Danach war erst einmal nichts. Eine Pubertät, die mehr oder weniger eine Katastrophe war. Der Wunsch, als ganz normaler Mann eine ganz normale Frau zu haben. Nur wurde dieser Wunsch niemals erfüllt und er wechselte sich mit dem Wunsch nach einem Freund ab. Kaum war ich in den 1980er Jahren zum Studium nach Berlin gekommen, meldete sich meine »andere Seite« erneut. Ich begann, mir Modeschmuck zu kaufen – Ketten, Ringe und Ohrringe. Ich ließ mir Ohrlöcher stechen und trug große und auffällige Ohrringe. Wenn in der warmen Jahreszeit die Temperaturen nur etwas über zwanzig Grad stiegen, trug ich fast nur noch Shorts und kurzärmelige Hemden und T-Shirts.
Zugleich war ich über Jahre hinweg gehemmt und wagte es nicht, das umzusetzen, was ich schon immer tun wollte: Frauenkleider zu tragen und eine Frau zu sein. Mein erster Liebhaber sagte zu mir: »Du möchtest gern eine Nutte sein.« So war es und ich selbst sagte zu einem anderen Liebhaber: »Ich möchte gerne einen kurzen Rock und Pumps tragen. Wie eine Nutte.« Bei einem Date mit einer Frau ging ich an ihren Kleiderschrank, weil ich auch gerne tragen wollte was sie trug. Schließlich waren wir ungefähr gleich groß und hatten eine ähnliche Figur.
Ich wagte es noch nicht einmal, mir die Kleider selbst und allein im Geschäft zu kaufen. Über Jahre suchte ich nach Hilfe und Gleichgesinnten, weil ich es nicht schaffte, mein Coming Out im Alleingang zu vollziehen. Was für ein Glücksfall war es da, als ich im »Tip« eine Anzeige las: »Ich bin Transvestit!« Ich rief die Nummer an, telefonierte mit dem Transvestiten und machte ein Treffen aus. Nur ließ er das Treffen platzen und ich war wieder allein. Eine ehemalige Freundin, gegenüber der ich meine Neigungen andeutete in dem ich ihr von einer Bewerbung für ein Travestietheater berichtete, lachte wie auf Kommando laut los. Da traute ich mich nicht mehr, über Dinge, die mir selbst nicht richtig klar waren, mehr zu sagen.
Meinen ersten Rock besorgte mir eine Freundin, die mir auch Lippenstifte kaufte. Auf die Straße traute ich mich so damals nicht und ich zog den Rock, ein Hemd und Strümpfe zum ersten Mal bei einem privaten Treffen an. Für ein Sextreffen trug ich unter Hose und Jacke Rock, Strümpfe und Oberteil. Um dabei Frau zu sein.

Nach langen Quälereien kam das Coming Out endlich 1994 bei einer Gruppe von Transvestiten und Transsexuellen im »Sonntagsclub« im Prenzlauer Berg. Bald zog ich mich auch nicht mehr vor Ort um, wenn ich zu einem Treffen oder in ein Lokal fuhr, sondern ging als Frau auf die Straße, benutzte öffentliche Verkehrsmittel und stöckelte so in Bars und Discos. Jahre als »Freizeit-Transvestit« folgten. Im Alltag und im Beruf lebte ich als Mann und kleidete mich nur zum Ausgehen oder für Verabredungen als Frau. Fühlte mich aber immer und besonders in meiner Sexualität als Frau. Egal ob ich gegenüber Männern passiv und devot war oder mit Frauen und anderen Transen kuscheln wollte. Nach der Jahrtausendwende wurde der Wunsch, nur als Frau zu leben, immer stärker. Ich lebte damals in München und kaufte mir eine Damenhose und Damenoberteile und trug sie auch tagsüber.
Der Wechsel von der Männerrolle in die Frauenrolle belastete mich immer mehr und seltsamerweise hatte ich ausgerechnet an den Tagen Depressionen, wo ich mich »zurechtmachen« wollte. Die Depressionen ließen nach, wenn die »Verwandlung« vollzogen war. Nur als Mann zu leben erwies sich auch nicht als Lösung. Trotz gelegentlicher dominanter Fantasien war es nicht das, was ich fühlte und was ich gern war. Vielmehr eine willkürlich verordnete Rolle, die nicht mir sondern Anderen diente.
Höhepunkte oder auch Extrempunkte des Frauseins kann ich fühlen und leben, auch wenn da die Neigungen und Geschmäcker sehr verschieden sind. Frau geht in die Bar und lässt sich einen ausgeben oder abschleppen. Frau macht sich schick zurecht, trägt Minirock oder Abendkleid und zehn Zentimeter hohe Pumps. Vor langer Zeit soll eine Feministin vorgeschlagen haben, dass Frauen doch auch als Prostituierte Erfahrungen sammeln sollten. Eine Idee, über die sich die Geister schieden, doch auch das habe ich gemacht.
Dem Fühlen als Frau folgte seit Herbst 2006 das Leben als Frau. Hatte ich zuvor damit noch gezögert, um meine Umgebung die mich nur als Mann kannte, nicht zu irritieren, brachte eine unerfreuliche Erfahrung im Arbeitsleben »das Fass zum Überlaufen«. Ich hatte einen Teilzeitjob angefangen und wurde nach wenigen Tagen überraschend gekündigt. Mein Vorgesetzter begründete die Kündigung damit, dass sich das Unternehmen geschäftlich verkalkuliert hatte. Allerdings verzögerte der Arbeitgeber die Herausgabe meine Papiere, die ich für das Arbeitsamt brauchte, immer wieder. Es war ein Gebaren, hinter dem man entweder Gleichgültigkeit und Unfähigkeit selbst in den einfachsten Belangen oder Vorsatz und Böswilligkeit vermuten konnte.
Diese Erfahrung machte mir deutlich, dass mich mein Umfeld nicht dafür respektiert, als Mann herumzulaufen, wenn ich kein Mann bin. Selbstverleugnung »um des lieben Frieden willens« macht im Großen und Ganzen nicht viel Sinn. Wer einen terrorisieren und tyrannisieren will, tut das und findet immer einen Vorwand. So lebe ich so, wie ich immer sein wollte, trage lieber Röcke als Hosen, flache Schueh und Pumps, nehme Hormone und schminke mich. Fertig ist die Transfrau!

Schon seit meinen ersten Schritten bei dem Coming Out begriff ich, dass ich mit meinen Neigungen nicht allein bin. »Transe« ist ein Sammelbegriff für viele unterschiedliche und sehr verschiedene Dinge. Junge Menschen, bei denen die Transsexualität schon vor der Pubertät diagnostiziert wurde und die, obwohl biologisch ein Junge, als Mädchen aufwachsen. Menschen die ihre Transsexualität erst im fortgeschrittenen Alter ausleben, weil es früher nicht möglich war. Menschen, die ihre Transsexualität zu verdrängen suchen und die erst von einer Krise oder einem Nervenzusammenbruch dazu gebracht werden, ihr wirkliches Selbst zu leben. Andere leben es von Anfang an offen und selbstbewusst aus.
Wobei »es« sehr unterschiedlich ist.
Es gibt den berufsmäßigen Transvestiten, der sich für die Bühne oder die Kameras aufwändig zurechtmacht und für den das kaum mehr als eine Rolle ist. Es gibt aber ebenso die transsexuelle Frau, die im Showgeschäft tätig ist. Es es gibt den Freizeit-Transvestiten, der Frauenkleider nur zu besonderen Anlässen anzieht, und souverän zwischen der Männer- und der Frauenrolle wechselt. Es gibt die transsexuelle Frau, die sich »im falschen Körper« fühlt und nur Frau sein will.

Warum gibt es Transsexualität?

Die Frage habe ich mehr schon oft gestellt und dabei auch mit meinem Schicksal gehadert. Von Anfang an als richtige Frau oder richtiger Mann (was immer das ist) geboren zu werden, ist doch viel schöner und einfacher.
Nur was sind Frauen und Männer?
Nicht selten wirkten Transen durch das »besondere Etwas« attraktiver als eine »richtige« Frau. Wobei sich dieses besondere Etwas nicht leicht beschreiben lässt. Mir erscheint es als eine kleine Spur männlicher Merkmale bei jemanden, der als erotische und attraktive Frau zurechtgemacht ist. Eine ganze Sparte des Sexgewerbes lebt davon, dass hier Transfrauen ihre Dienste anbieten. Wegen dem »kleinen Unterschied« zu anderen Frauen.
An Transmännern (Frau-zu-Mann-Transsexuellen) fiel mir oft auf, dass sie das Männliche sehr gut verkörperten. Man sah ihnen nicht an, dass es einmal Frauen gewesen waren. »Drag Kings« geben den richtigen Kerl und sind »die letzten echten Männer«.
Wie viele Geschlechter haben wir, wenn Transen die besseren Frauen und Drag Kings die letzten richtigen Männer sind? Vier? Biologische Frauen und Männer, Transfrauen und Transmänner.

»Dich sollte man vergasen!«

Diesen Satz habe ich zweimal von Nazis gehört. Einmal wurde ich auf dem Heimweg vom »Kit-Kat-Club« Opfer eines brutalen Überfalls. Anderen Transen ist Ähnliches passiert und die häufigen Pöbeleien zählt frau nicht mehr mit.
Die Logik dieses Diskurses ist einfach: die Menschen sollen auf Rollen und Verhaltensmuster festgelegt werden, egal ob sie wollen oder nicht. Wir sollen auch gegen unseren Willen in ein Raster aus einer sexuellen Orientierung und zwei Geschlechtern gepresst werden. Die Geschichte hat gezeigt, dass das nicht möglich ist. Menschen haben wenigstens drei sexuelle Orientierungen und vier (soziale) Geschlechter. Das bricht immer wieder durch.
Eine Gesellschaft, die sich schon bei Sexualität und Geschlecht vor der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit drückt, wird auch in anderen Bereichen versagen. Man erfindet ein Konzept des zweigeschlechtlichen und heterosexuellen Menschen, von dessen Haltlosigkeit mich meine Lebenserfahrung überzeugt hat. Warnende Stimmen bringt man zum Verstummen, wie es die Nazis mit der Sexualwissenschaft gemacht haben. Man schafft ein Klima, in dem die Menschen sich nicht bewusst sind, was sie sind und was mit ihnen geschieht. Artikulieren sie trotzdem ihr Anderssein, macht man sie lächerlich, bedroht sie und erklärt sie zur Gefahr. Lassen sie sich nicht mehr einschüchtern und zum Verstummen bringen, stimmt man selbst ein um so lauteres Geheul und Gezeter an, um die verloren gegangene gesellschaftliche Hegemonie zurück zu erlangen.

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Teil 4: »Du sollst es einmal besser haben« - ich und die Geschichte

Lange Zeit nahm ich mein Leben, meine Hoffnungen auf die Zukunft und meine Ängste vor ihr ohne Bezug auf die Vergangenheit wahr. Die Menschen und Kulturen früherer Epochen waren exotisch und Geschichte war spannend. Aber sie war spannend wie ein gut erzählter Roman oder ein Krimi, der keinen Bedeutung für das eigene Leben hat.
Gewöhnlich war die Vergangenheit primitiv und nur zu oft der schiere Horror. »Mögest du in interessanten Zeiten leben!« ist bei den Chinesen eines der schlimmsten Dinge, die man einem Menschen wünschen kann. Denn für die Historiker und die Nachwelt interessante Zeiten sind für die Menschen, die in ihnen leben müssen, nur zu oft ein nicht enden wollender Alptraum. »Der abenteuerliche Simplicissimus« von Grimmelshausen über die Verwüstungen durch den Dreißigjährigen Krieg, zahllose Bücher über die Nazi-Zeit und Berichte aus der Familie über die Flucht aus Ostpreußen Anfang 1945 legten mir einen Gedanken nahe: gut, das das vorbei ist. Auch in meiner Familie gab es den Satz, den in der Nachkriegszeit viele von den Entbehrungen und dem Grauen des untergegangenen Deutschen Reiches geprägte Eltern ihren Kindern mit ins Leben gaben: »Du sollst es einmal besser haben.« Ich wurde 1962 mitten in die Zeit des »Wirtschaftswunders« geboren und sah unbewusst Geschichte im alten und schlimmen Stil für mich und meine Generation als überwunden an. Der Kalte Krieg hatte dem Wahn früherer Epochen auf drastische Weise ein Ende gesetzt. An der Gegenwart war zu beiden Seiten des Eisernen Vorhangs vieles falsch und wir lebten damals in der Angst vor alles vernichtenden Katastrophen. Einem Atomkrieg oder der Zerstörung der Umwelt durch Raubbau an der Natur. Aber die Zukunft war auch ein Ort von Hoffnungen. Der Westen würde die soziale Ungerechtigkeit des Kapitalismus überwinden und der Ostblock die Tyrannei des Staatssozialismus abschaffen.
Dass ich schon sehr jung mit Science Fiction in Kontakt kam und da alles verschlang, was mir in die Finger kam, beflügelte meinen Optimismus noch. Selbst die dystopischen und finsteren Szenarien waren nur eine Facette der Zukunft. Dem stand die Vision einer geeinten Menschheit gegenüber, die zu den Sternen aufbricht. Zwischen der Dystopie und der Utopie eröffnete sich ein neues Universum voller Gefahren und Herausforderungen, neuer und verblüffender Möglichkeiten. Da tat sich eine Zukunft auf, für die es sich zu leben und zu kämpfen lohnte. In der es mehr Spaß, mehr Sex und unendlich mehr Möglichkeiten geben würde. Das Alte und Böse lag hinter uns, meine Generation lebte in einer ambivalenten Gegenwart und kämpfte für eine bessere Zukunft. Die sicher kommen würde.
Und »peng«!
Da sind Illusionen geplatzt wie ein Luftballon.
Der Satz »Du sollst es einmal besser haben« hat sich für mich und viele andere aus meiner Generation nicht erfüllt. Die Generation vor uns hatte noch einen anderen Satz in petto: »Nach uns die Sintflut.« Auch diesen Satz hörte ich recht zeitig, nahm ihn damals aber nicht ernst. Heute ist das anders. Die Frustration über eine Gesellschaft, die es von der Vollbeschäftigung zu »Hartz IV« gebracht hat und das Nichts, das in Diskurs der Postmoderne für »Zukunft« steht, haben mich dazu gebracht, mich der Geschichte und der Vergangenheit zuzuwenden.
Allerdings kann ich in ihr nicht jene geordneten oder gar harmonischen Zustände entdecken, welche die Konservativen da ausmachen. Im Blick auf die Geschichte finde ich Leidensgenossen und manchmal sogar geistig Verwandte, die schon Jahrzehnte, Jahrhunderte oder gar Jahrtausende vor meiner Generation getäuscht wurden. Meine Frustrationen und die meiner Generation über fehlende Perspektiven und Niedergang hat es schon bei früheren Generationen gegeben.
Es dauerte lange, bis ich sowohl die Erklärungen der Konservativen als auch der »Fortschrittsgläubigen« für das, was in der Geschichte und auch mit mir als Teil dieser Geschichte vor sich geht, gleichermaßen verwarf. Weil sie nur verschiedenen Formen der Irreführung und Täuschung sind. Es gab weder eine gute alte Zeit noch ist Geschichte Fortschritt. Die Rechtfertigung all ihrer Katastrophen und Verbrechen als Teil eines sinnhaften Prozesses hält die Menschen davon ab, Fragen zu stellen. Wer keine Fragen stellt und allen klaglos leidend hinnimmt, ist da, wo ihn die »Geschichte machenden« Verbrecher haben wollen. Im Wochenbett, um die nächste Generation williger Opfer zu gebären. In der Fabrik oder in der Armee, um zu malochen oder den nächsten Bruderkrieg gegen andere Menschen zu führen.
Ich habe lange Zeit auch nicht nachgedacht. Selbstverständlich wünschte ich mir manchmal, Geschichte wäre anders verlaufen. Die Nazis wären nicht an die Macht gekommen oder eines der Attentate auf Hitler hätte Erfolg gehabt. Aber weiter habe ich nicht gedacht. Ich sympathisierte wie viele andere auch mit den Indianern in ihrem Kampf gegen die weißen Eroberer. Aber den Prozess, der zur fast vollständigen Auslöschung der Indianer und einer der größten Katastrophen in der Menschheitsgeschichte führte, habe ich weder hinterfragt noch in seiner Widersprüchlichkeit verstanden. Schließlich hat Kolumbus mit der Entdeckung Amerikas eine historische Großtat vollbracht und die Spanier waren zu Recht über die Menschenopfer der Azteken entsetzt. Obwohl meine eigene Familie unter der Vertreibung aus Ostpreußen zu leiden hatte und die Zerstörung ihrer Heimat ein kultureller Verlust war, habe ich auch das nicht hinterfragt. Schließlich hatten die Nazis zuvor Verbrechen begangen und die Siegermächte Oder und Neiße als neue deutsche Ostgrenze festgelegt.

Es dauerte lange, bis ich nach den wirklichen Gründen fragte und Alternativen erwog.
Für die Indianer.
Für Ostpreußen.
Für Geschichte an sich.
Schließlich stehen da an jeder Ecke die geistigen Schergen, die Schwafler und Plapperer, die erklären, warum es immer so kam, wie es kommen musste. Warum es nie Alternativen gab. Warum Dinge unvermeidlich und notwendig sind, die so gut wie allen Beteiligten nur Nachteile gebracht haben.

Eine Lesung des Schweizer Autors »PM« im Berliner »UFO-Buchladen« (heute »Otherland«) trug dazu bei, dass ich Geschichte in Frage zu stellen begann. PM las aus seiner Trilogie »Die Schrecken des Jahres 1000«. Darin schildert er eine fiktive Geschichte, die um das Jahr 1000 einsetzt. Fortschritt, wie wir ihn definieren, gibt es da nicht mehr – weil die Menschen ihn nicht brauchen und sie schon vor tausend Jahren gut leben konnten. Die Menschen rebellieren gegen die Herrscher und Imperien ihrer Zeit, setzen Kaiser Otto und den Kaiser von China ab und lösen das Byzantinerreich und die Stadtstaaten der Mayas auf. Um glücklich und zufrieden in kleinen Gemeinwesen zu leben. Für Reisende aus fernen Ländern gibt es Gasthäuser und die Menschen pflegen den Austausch um die ganze Welt. So wie es einmal war, ehe tyrannische Herrscher und Imperien Grenzen zogen und die Verbindungen unterbrachen. Amerika muss nicht entdeckt werden, es war immer Teil der Welt.
In der Lesung setzte ich PM mit kritischen Fragen zu. Mein Haupteinwand habe ich in den Worten zusammengefasst: »Der Zug ist abgefahren!« In der Welt kurz vor dem zweiten »Millennium« mit ihren sechs Milliarden Menschen lässt sich nicht eine verbesserte Version des Jahren 1000, als eine halbe Milliarde Menschen lebte, schaffen. Oberflächlich betrachtet ist das richtig, aber es geht in der Trilogie um mehr als um die Frage »Ökodorf oder Millionenstadt?«
Sie hat einen sinistren Hintergrund, weil PM zufolge das Leid in der Geschichte nicht von selbst entsteht. In »Die Schrecken des Jahres 1000« managt eine ominöse »Firma« die Weltgeschichte und sie hat ihre Agenten überall und in allen Epochen. Die Firma versteht sich als Vollstreckerin des von Hegel und seinen Epigonen in die Welt gesetzten Diskurses der »historischen Notwendigkeit«. Getreu dem Motto »per aspera ad astra« müssen die Menschen durch Leid und Entbehrungen geistig und materiell vorangebracht werden.
Kulturen werden von überlegenen Kulturen unterjocht oder gar vernichtet, weil diese weiter fortgeschritten sind. Auf ruhige Zeiten folgt nicht stetige Verbesserung und die Beseitigung von Fehlern, sondern Verschlechterung der Lebensbedingungen, verschärfte Repression und schlimmere Kriege.
Denn nicht Wohlleben und Geborgenheit treibt die Menschen an, sondern das Leid und die Angst. Ist nicht bei Hegel die Angst eine wesentliche Triebkraft der Geschichte? Weil die Menschen nur etwas schaffen, wenn jemand »hinter ihnen steht« und sie antreibt. Oder sie die Angst so verinnerlicht haben, dass sie sich selbst antreiben.
Andere Denker wenden allerdings ein, dass Angst die Menschen dumm macht.
Seinem Zeitgenossen und Philosophen-Kollegen Schopenhauer zufolge macht Hegel die Menschen dumm.
Meine Desillusionierung über meinen Platz in der Geschichte, den ich mir einmal ganz anders vorgestellt hatte, treibt mich dazu, ein bisschen »Götzendämmerung« zu spielen. Ihre Helden vom Sockel zu stoßen und ihre Herolde von den Füßen auf den Kopf zu stellen, weil diese an sich lächerliche Stellung besser zu ihren Diskursen passt.
Gewissheiten haben sich erledigt und es gibt keine Antworten mehr. Sondern nur noch Fragen.

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Teil 5: Fragen an die Geschichte

Im Folgenden möchte ich einige Gegenargumente gegen den herrschenden historischen Diskurs bringen. Ich will daraus keinen pseudowissenschaftlichen Gegendiskurs in der Art Erich von Dänikens schaffen. Ich gebe keine Antworten, sondern stelle Fragen.

1. Der Fahrplan der Geschichte

Den Menschen wird eine bessere Zukunft versprochen, um Leid zu rechtfertigen, das ganz anderen Zwecken dient. Die Belohnung für Entbehrungen erhalten sie nie, sondern müssen über kurz oder lang erkennen, dass sie getäuscht wurden. Wie die Menschen im Ostblock, die als Belohnung für Tristesse und Konsumverzicht nicht der Kommunismus erhielten, sondern denen der Zusammenbruch des Staatssozialismus mehr Leid als Freud brachte. Weil auf den Sozialismus Kapitalismus und bürgerliche Gesellschaft folgten. Damit wurde die marxistische Stadientheorie von

1. Urgesellschaft aus Jägern und Sammlern
2. sesshafte Ackerbaugesellschaft
3. sklavenhaltende antike Hochkulturen
4. Feudalismus
5. Kapitalismus
6. Sozialismus
7. Kommunismus

in den Jahren nach 1989 vor den Augen der ganzen Welt und der gesamten Menschheit als Unsinn entlarvt. Aber anstatt die Stadientheorie auf der Müllkippe der Geschichte zu entsorgen, wurde sie im Zeichen des »Endes der Geschichte« in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft den neuen Zeitläufen angepasst. Die Menschheitsgeschichte endet nun nicht in Stadium 7. – dem Kommunismus – sondern schon in Stadium 5. – dem Kapitalismus.
Warum erschien mir zumindest in einer Dokumentation ein namibischer Stamm, dessen Angehörige als Nomaden noch in Stadium 1. leben, glücklicher als viele Menschen in »weiter fortgeschrittenen« Stadien? Angehörige dieses Stammes, die in einer Siedlung zwangsweise ins nächste Stadium – Sesshaftigkeit – geführt wurden, waren viel unglücklicher als ihre unter harten Lebensbedingungen durch die Steppe ziehenden Verwandten. Der Erkenntniswert der Doku liegt nicht im Leben afrikanischer Viehnomaden, in das man hineingeboten sein muss um da glücklich zu sein, sondern in der Verwerfung der oben skizzierten Stadientheorie.

2. Immer dicht vor dem Ziel

Uns wird Glauben gemacht, wir seinem am Ziel der Geschichte angekommen oder diesem Ziel zumindest schon sehr nahe. »Das Schlimmste haben wir hinter uns, jetzt kommt der Fortschritt«, mögen die Menschen um 1900, 1925, 1970 und 1990 gedacht haben. Wobei ich zur Generation der nach 1970 und noch einmal um 1990 Getäuschten gehöre. Wenn man bedenkt, was die Menschen nach 1900 oder 1925 zu erdulden hatten und wie viele Kriege im ehemaligen Ostblock seit 1990 geführt wurden, brauche ich mich über Perspektivlosigkeit und Zukunftsangst nicht zu wundern.
In Form der so genannten »langen Wellen« wurde das zyklische Geschichtsbild von Aufstieg, Höhepunkt und Fall einer Kultur wieder aufgewärmt. Um uns nach dem »Wellental« der letzten Jahrzehnte den nächsten Berg vorzugaukeln. Auf dass wir weiter brav hoffen und Unsinn nicht in Frage stellen.

3. Eine neue Zeit

Die Neuzeit genannte Epoche, in der wir seit 1492, dem Datum der Fahrt Kolumbus nach Amerika, leben, ist in der Geschichte etwas Neues, aber nicht etwas Besseres. Krieg und Gewalt, die Errichtung nutzloser Imperien und die Auslöschung »unterlegener« Völker und Kulturen gingen nicht nur weiter, sondern nahmen nie gekannte monströse Formen an. Die Europäer sahen ihren mühsam gewonnenen technischen Vorsprung gegenüber anderen Hochkulturen als Mittel an, die Welt in nie gekannter Weise zu terrorisieren. In Amerika, Afrika und Asien hinterließen sie eine Blutspur, vernichteten andere Kulturen oder warfen sie in ihrer Entwicklung zurück. Europa selbst wurde vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Zweiten Weltkrieg immer wieder Schauplatz von im Wortsinne verheerenden Kriegen. Auf den religiösen Antisemitismus des Christentums folgten der rassische »moderne Antisemitismus« (schon das Wort ist eine Entlarvung der Epoche) und die Ermordung fast aller europäischen Juden durch die Nazis.
Kulturen, die dem Beispiel Europas folgten, überwanden Rückständigkeit und Repression nicht, sondern transformierten sie nur in neue Formen. Nicht selten folgte dem Miteinander oder Nebeneinander von Völkern ein Gegeneinander und eine immer rabiatere Unterdrückung ethnischer Minderheiten. Die Japaner waren als das modernste außereuropäische Volk auch das, welches vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1945 die meisten Kriege gegen seine Nachbarn führte und die meisten Verbrechen beging.

4. »Noch nie dagewesen!«

Mir ist im Diskurs der Neuzeit und Moderne aufgefallen, dass nur zu oft der Anschein entsteht, als ob alle zivilisatorischen Errungenschaften zuerst in Europa in der Neuzeit entwickelt wurden. Das andere Kulturen auch etwas geleistet haben, wird nur so weit erwähnt, wie es offenkundig ist Fragen werden daraus nicht abgeleitet und ebenso wenig ein Weltbild in Frage gestellt, wo es nur Fortschritt gibt und es stets aufwärts geht.
Das Wissen anderer Kulturen und Epochen ist halt »verloren gegangen«.
Warum haben sich religiöse Texte oder auch Chroniken, Sagen und Legenden so gut erhalten? Warum gingen immer nur wissenschaftliche Erkenntnisse und technische Fertigkeiten verloren? Einem Geschichtstext entnehme ich, dass der römische Senat vor über zweitausend Jahren beschloss, eine von einem Karthager geschriebene Abhandlung über die Landwirtschaft zu übersetzen. Demzufolge wussten die Menschen damals um die Bedeutung von Wissen und es gab Fachliteratur.
Plinius der Jüngere wurde als Augenzeuge der Vernichtung Pompejis durch den Vesuv im Jahre 79 zum ersten – unfreiwilligen - Vulkanologen der Weltgeschichte und er beschrieb Phänomene, welche die Forschung bestätigte. Allerdings erst zwei Jahrtausende später. Die Menschheit hatte in der Zwischenzeit halt »Wichtigeres zu tun« und es war einfacher, Vulkanausbrüche mit dem Zorn der Götter zu erklären als nach ihren wirklichen Ursachen zu suchen.
Amerika haben die Wikinger um das Jahr 1000 entdeckt, zumindest das weiß jedes Kind. Es dauerte über tausend Jahre, bis die Straßen in Europa wieder so gut wurden, wie sie es zu Zeiten der Römer schon waren. Kanalisationen gab es in Mohenjo Daro im Industal bereits vor 4000 Jahren. Im Europa des Mittelalters fehlten Abwassersysteme und erst im 18. und 19. Jahrhundert wurde mit ihrer Wiedereinführung begonnen.
In einer Vorlesung an der Freien Universtität Berlin berichtete die Professorin, dass die Frauen in anderen Kulturen entsetzt waren, wenn ihnen europäische Seefahrer erzählten, dass die Frauen in Europa fünf bis zehn Kinder bekamen. Wobei von den Kindern viele nicht das Erwachsenenalter erreichten und die Frauen im Kindbett oder wegen der vielen Schwangerschaften an Auszehrung starben. Woanders auf der Welt gab es Mittel gegen unerwünschten Nachwuchs und zu viele Schwangerschaften. Eine Erklärung des so genannten »Hexenwahns« in Europa legt nahe, dass es dieses Wissen auch hier gegeben hatte. Die »Hexen« waren das Gegenstück zu heutigen Heilpraktikerinnen und Ärztinnen. Diejenigen, zu denen man ging, wenn man krank war. Oder zu denen frau ging, wenn sie Sex, aber keine Kinder wollte. Den Herrschenden waren sie allerdings ein Dorn im Auge: die brauchte viele Untertanten (es starben auch immer viele weg) und wollten keine Empfängnisverhütung. Die katholische Kirche, die damals Europa geistig kontrollierte, will Empfängnisverhütung heute noch nicht.

5. Moderne einst und jetzt

Ich »durfte« in Berlin von 1983 bis 1996 Kohlen schleppen und versuchen, im Winter bei minus 20 Grad mit dem Ofen eine Wohnung zu heizen, die sich nicht richtig heizen ließ. Über Berlin lag damals in der kalten Jahreszeit ein stickiger Smog aus der Asche und den Rückständen vieler Kohleöfen. Früher gab es halt noch keine Zentralheizungen und Berlin hinkte Westdeutschland bei der Modernisierung hinterher. Den Römern hinkten die Berliner um zweitausend Jahre hinterher, denn die kannten in Form von Warmluftheizungen schon Zentralheizungen. Aber man hatte in der Geschichte halt »Wichtigeres zu tun«, als sich um stets warme Wohnungen zu kümmern und Berlin war Hauptstadt eines Reiches, das einfachen Menschen nur zu oft Leid und Entbehrungen aufbürdete.
Primitive Formen der Dampfmaschine soll es schon in der Antike gegeben haben und nicht James Watt, sondern der Grieche Hieron (100 vor Christus) gilt als ihr Erfinder. Die Erfindung der Elektrizität muss auch in die Antike zurückdatiert werden. Ein Fund aus dem heutigen Irak legt nahe, dass es dort schon um Christi Geburt eine primitive Batterie gab, deren Strom möglicherweise zum Galvanisieren verwendet wurde.
Beim leidigen Thema Staatssozialismus kommt zu allem Übel hinzu, dass man dessen Entwicklung auch um Jahrhunderte zurückdatieren muss. All die Prinzipien eines zentralistischen und durchorganisierten, alles kontrollierenden, zugleich fürsorglichen und repressiven Staatswesens hatten die Inkas schon ein halbes Jahrtausend vor Lenin und seinen Nachfolgern. Das Reich der Inka war technisch auf niedrigem Niveau, existierte aber viel länger als die staatssozialistischen Systeme des Ostblocks. Ich selbst traf in den 1990er Jahren eine Peruaner, dessen Familie aus der ehemaligen Inkahauptstadt Cuzco kam und ihre Wurzeln bis in das Inka-Reich zurück führte. Das trug den Eigennamen Tahuatinsuyo und führte die Regenbogenflagge als Symbol. Ich teile die Begeisterung des Peruaners für das Reich seiner Ahnen nicht, weil mich Machtkämpfe und Repression an den Stalinismus denken ließen. Nur hatte das Inka-Reich die Konflikte und Widersprüche, die wir mit dem modernen Sozialismus verbinden, schon ein halbes Jahrtausend vorher.
Um dann von den Spaniern ausgelöscht zu werden, woraufhin 500 Jahre folgten, angesichts derer man sich über Nostalgie nach »Tahuantinsuyo« nicht zu wundern braucht. Ebenso wenig über Frustrationen von Menschen aus den früheren Ostblockländern, wenn ihnen klar wird, dass sie unter dem schalen zweiten Aufguss eines etatistischen Konzeptes zu leiden hatten, dass die Inka erfolgreicher realisierten als ihre modernen Nachahmer.

6. »Wer erschuf Gott« – Fragen, die gefährlich sein können

Zu meinen ältesten Erinnerungen aus meiner Kindheit gehört, wie meine Mutter meinem Bruder die Erschaffung der Welt erklären wollte. Sie sagte: »Gott erschuf die Welt« und mein Bruder fragte prompt: »Und wer erschuf Gott?«
Damit hat schon ein Dialog im Kleinkindalter der Welterklärung nach dem Schema von Ursache – Gott als Schöpfer – und Wirkung – die Welt als von Gott geschaffen – den Todesstoß versetzt. Unter der Voraussetzung, dass alles, was existiert, eine Ursache haben muss (Gott), kommen wir zu einer unendlichen Kette von Ursache und Wirkung. Denn auch Gott muss eine Ursachen haben. Ursache und Wirkung kann es nur für begrenzte Bereiche innerhalb der Welt geben, nicht für die Welt als Ganzes. Die Welt ist, weil vernunftbegabte Wesen – wir Menschen - sie wahrnehmen und konstatieren, dass die Welt ist. Götter, Schöpfer oder eine Ursache braucht die Welt nicht, um zu sein.
Wenn schon ein einfaches Gespräch den Weg zu einer anderen Welterklärung nahe legt, als sie über Jahrhunderte und Jahrtausende verbindlich war, so stellt sich die Frage, warum die deistische und zugleich kausale Welterklärung so lange das Denken der Menschen bestimmte. Die Geistesgeschichte des Abendlandes legt den Schluss nahe, dass weder gegensätzlich Ansichten frei vertreten werden konnten noch sich die »beste« Welterklärung durchsetzte. Die Frage »wer erschuf Gott?« wäre in früheren Jahrhunderten lebensgefährlich gewesen. Über lange Zeit wurde uns ein Weltbild verordnet, wo die Welt wie eine große Käseglocke war oder sich alle Himmelskörper um die Erde drehten. Noch im 17. Jahrhundert bedrohte die Kirche abweichenden Meinungen vom geozentrischem Weltbild mit dem Tode.
Ja, »sie wussten es halt nicht besser«. Obwohl schon die Edda Jahrhunderte vor Kant die Menschen in einfachen Worten aufforderte, kritisch ihren eigenen Verstand zu gebrauchen. Das Denken mussten die Menschen nicht erst durch die Aufklärung lernen, sie konnten es schon immer.

7. Angst vor der Zukunft

Mit dem Zusammenbruch meiner Hoffnungen über ein Ende des Irrsinns namens »Geschichte« haben sich meine Ängste vor der Zukunft gewandelt. Angst vor der Zukunft gab es immer und sie war in der Nachkriegszeit Motor vieler politischer Bewegungen. Die Angst vor einem Atomkrieg führte zur Entstehung der Friedensbewegung. Die Angst vor der Zerstörung der Natur führte zum Aufkommen der Umweltbewegung und der Grünen.
Diese Ängste hatten eines gemeinsam: die Zukunft könnte anders und schlechter als die Gegenwart und die Vergangenheit werden. Weil noch so miese Kleriker und geisteskranke Tyrannen früher keine Atombomben hatten und die Römer zwar viel Schlechtes taten, aber aus ihrem Reich keine Umweltkatastrophe mit Dioxin überliefert ist. Früher konnten die Menschen sich selbst zerstören. Sie fügten der Umwelt auch Schaden zu, aber waren nicht in der Lage, die gesamte Biosphäre zu vernichten.
Heute hat sich der Schwerpunkt der Angst vor der Zukunft verlagert. Ein Blick in die Geschichte hat ihr neue und schlimme Aspekte hinzugefügt: die Vorstellung, dass sich in der Zukunft wiederholt, was schon früher geschehen ist. Dass den Menschen nicht Fortschritt, sondern Rückschritt aufgezwungen wird. Dass Wissen und Erkenntnisse wieder vernichtet werden, um in der übernächsten Epoche erneut »entdeckt« zu werden. Dass uns wieder unsinnige Welterklärungen aufgezwungen werden. Dass uns nicht das gegeben wird, was wir wollen und brauchen, sondern das, was wir nach dem Willen der Herrschenden haben sollen. Dass den Menschen Unwissenheit und Not, Zwang und Gewalt aufgezwungen werden, obwohl sie nicht sein müssen. Weil es Unwissenheit und Not schon früher nicht hätte geben müssen.

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Teil 6: »Vom Rechenschieber zur Tabellenkalkulation« – wie die Welt rechnet

Wer weiß noch, was ein Rechenschieber ist? Ich habe in den 1970er Jahren im Mathematikunterricht noch damit Berechnungen durchgeführt. Es ist ein Gerät von ungefähr dreißig bis vierzig Zentimetern Länge, das in der Form einem Lineal ähnelt. Es ist größer und wird in eine Schutzhülle eingepackt. Im Rechenschieber sind auf Schienen mehrere schmale Leisten angeordnet, die mit Skalen versehen sind. Zudem gibt es um die gesamte Vorrichtung noch eine bewegliche Klammer. Durch das Verschieben der Leisten und der Klammer wurden Berechnungen durchgeführt. Daher der Name Rechenschieber. Es gab sogar eine Verbesserung des Rechenschiebers, wo dessen gerade Leisten zu konzentrischen Kreisen gebogen waren. Der stolze Erfinder nannte das »Logomat« – nur wollte keiner seine Erfindung haben, weil damals die ersten Taschenrechner auf den Markt kamen. Die waren handlich, aber wer nicht unterwegs schnell etwas ausrechnen musste, konnte auch bald auf sie verzichten. Denn es kamen die Computer, in denen aus dem Taschenrechner für die Tasche ein kleines Hilfsprogramm wurde.
Wisst ihr noch, wie man mit Stift und Papier rechnet? Addition und Subtraktion, Teilen und Dividieren und selbst die komplexesten Berechnungen durch Aufschreiben der Zwischenschritte ausführen? Ich habe das in der Schule gemacht und war da nur mäßig motiviert. Vor mir haben es von lustlosen Pennälern bis zu den Geistesgrößen in den Wissenschaften alle machen müssen. Denn es gab nichts Anderes. Rechenmaschinen mögen eine gewisse Hilfe gegeben haben und ebenso Hilfsmittel wie der Rechenschieber. Aber im Großen und Ganzen war jeder auf die CPU zwischen den Ohren angewiesen.
Jene Papierstapel und Stifte, mit denen wir uns noch in der Schule quälen mussten, hat längst die Tabellenkalkulation abgelöst. Egal ob für Triviales oder Komplexes: das »Mechanische« am Rechnen übernimmt der Computer und der Mensch muss dabei nur auf GIGA achten:
Garbage
In
Garbage
Out (gesprochen »Aut«)
Denn wer Müll eingibt, erhält auch Müll und das Denken hat der Computer noch keinem Anwender abgenommen.

Ich habe den Rechenschieber mit einem Lineal verglichen und hoffe, ihr wisst noch, was ein Lineal ist. Ich habe das Lineal auch zum Anfertigen von Zeichnungen im Schulunterricht verwendet. Dafür gibt es heute Grafikprogramme und anno 2009 sind die Flachmonitore so gut geworden, dass ich nach Möglichkeit auf das Ausdrucken verzichte. Das ist nur Verschweundung von Papier und Betriebmitteln für den Drucker. Wer braucht heute noch ein Geodreieck – außer als Button in einem Computerprogramm. Der Zirkel hat auch ausgedient, denn einen Kreis zeichnet selbst das einfachste Grafikprogramm. Geometrie wurde noch vor einer Generation mit Lineal, Zirkel und Geodreieck oder Schablonen betrieben. Mit dem Lineal oder dem Geodreieck zeichnete man Linien, das Geodreieck diente zum Messen von Winkeln und mit dem Zirkel wurden Kreise gezeichnet. War an dem Ergebnis etwas fehlerhaft, musste zur Korrektur der Radiergummi her. Ein wirklicher Radiergummi, nicht der Button im Grafikprogramm.
Durch die digitale Revolution hat das ausgedient. Ich war angesichts eigener Studien der Grundlagen der Mathematik erstaunt, dass ein Programm namens »DynGeo« all das Handwerkszeug aus meiner Schulzeit obsolet gemacht hat. Linien, Kreise und Winkel, Vektoren und andere Objekte werden jetzt mit Mausklicks und Eingaben per Tastatur nach Lust und Laune erzeugt und wieder vernichtet. Eine Banalität wie die x hoch 2 entsprechende Kurve hat uns mit Bleistift und Papier viel Mühe gemacht. Ich kann mich daran entsinnen, dass ich nur bestimmte Werte für x genommen und berechnet habe. Das ergab eine Abfolge von Punkten. Die habe ich mit dem Bleistift verbunden und erhielt eine Kurve. Heute erzeugt ein Computerprogramm diese Kurve blitzschnell und ohne große Mühe.

Wir leben in der Gutenberg-Galaxis und Information wird von etwas Starrem zu etwas immer »Flüssigerem«. Vor Gutenberg und dem Buchdruck gab es Information – einen Datensatz – stets nur einmal. Das handgeschriebene Buch, das gemalte Bild. Wer ein weiteres Buch oder noch ein Bild haben wollte, musste das gewünschte Buch mühsam abschreiben oder das Bild noch einmal malen lassen. Zehn gleiche Datensätze zu erzeugen, war zehnmal so aufwändig wie die Erzeugung eines Datensatzes. Der Buchdruck und Verfahren zur Reproduktion von Bildern änderten das. Nun musste mit beweglichen Lettern oder als Kupferstich eine Vorlage erzeugt werden. War die Vorlage erstellt, konnten von ihr viele Datensätze erzeugt werden. Bücher und Flugblätter, Hefte und Zeitungen.
Das gedruckte Buch war nur der Anfang der »Verflüssigung« von Information. Datensätze ließen sich jetzt einfacher herstellen als früher, aber sie waren in sich noch immer starr. Ein Buch hatte zwar Inhaltsverzeichnis und Index, aber kein Suchsystem. Um einen Datensatz zu erzeugen, mussten komplizierte Maschinen arbeiten und Text und Bilder mit Druckerfarben zu Papier bringen. Heute genügt dazu der Befehl »Kopieren« im Computer und die hohe Qualität heutiger Monitore legen den Gedanken nahe, auf das Ausdrucken zu verzichten.
Der gedruckte Text hat den Vorteil, dass er kein speziellen Lesesystem braucht. Ein handliches Buch kann man überall lesen, ohne erst ein oft sperriges und kompliziertes Gerät einschalten zu müssen. Aber Computer werden immer kleiner und handlicher und robuste Lesegeräte in der Größe von Büchern dürften eher früher als später das gedruckte Buch zum Verschwinden bringen.

Die Erfindung der Schreibmaschine erleichterte die Erstellung von Texten und erhöhte gegenüber der Handschrift ihre Lesbarkeit, aber es war trotzdem noch recht mühsam. Zu meiner Schulzeit bestand eine Neuerung, die uns besser für das Berufsleben vorbereiten sollte, darin, dass wir Schreibmaschinenunterricht erhielten. Ich kannte damals die kleine mechanische Schreibmaschine und die große und sperrige elektrische Schreibmaschine. Auf einer Schreibmaschine mit Typenrad, Merkfunktion für einige eingetippte Wörter und Korrigierfunktion zum Löschen falsch geschriebener Buchstaben habe ich noch 1989 meine Diplomarbeit geschrieben.
Den Computer gab es damals schon. Sogar recht lange, aber in einer Form, die seinen Siegeszug als Haushaltsgerät utopisch erschienen ließ. Waren das nicht Geräte so groß wie Wandschränke, an denen sich klobige Magnetspulen drehten? Verwendet wurden sie für exotische oder finstere Zwecke: für die Wissenschaft oder zur Verarbeitung von Daten über uns, welche Geheimdienste sammelten. Aber sie waren nichts für gewöhnliche Menschen oder alltägliche Einrichtungen. Selbst in den 1980er Jahren suchte ich in großen Bibliotheken nach Buchtiteln, in dem ich am Karteikartenschrank zum Anfangsbuchstaben ging, das passende Schubfach heraus zog und dort in den Karten blätterte. Dann gab es noch Mikrofilme und Lesegeräte für Mikrofilme. Immerhin wurde die Ausleihe der Bücher schon über »EDV« gemacht.
In den 1980er Jahren kamen Computer auf dem Markt, die auf einen Tisch passten. Bei der ersten Generation »Personal Computer« mussten die Anwender einiges an Geduld aufbringen. Beim Start wurde zuerst die große 5 1/4-Zoll-Diskette mit dem Betriebssystem in das Laufwerk gelegt. Hatte der Computer das geladen, kam die Diskette mit der gewünschten Anwendung an die Reihe. Dann rief man das Programm über einen eingetippten Befehl auf und arbeitete. Zum Schluss musste man die bearbeiteten Dateien auf eine eigene Diskette speichern. Ich erlebte dann einen wichtigen Durchbruch: die Geburt der Festplatte. Deren erste Exemplare hatten eine Speicherkapazität von 20 Megabyte und kamen auf einer Arbeitsstelle von mir und bei Freunden zum Einsatz. Endlich konnte man Betriebssystem, Anwendungen und Daten an einem Ort speichern. Anfang der 1990er Jahre kaufte ich mir auch einen Computer, dessen Festplatte schon 80 Megabyte hatte. Ein Freund sagte: »Die wirst du nicht voll schreiben können.« Wenige Jahre später musste mir der gleiche Freund eine zweite Festplatte mit 400 Megabyte einbauen.
Was als große Innovation auf dem Markt kam, hatte fünf bis zehn Jahre später ausgedient. 1999 zog ich von Berlin nach München und da wollte meinen ersten Computer nicht einmal eine Initiative, die Sachen für Obdachlose sammelte. Ich selbst ging einem Chef von mir dabei zur Hand, Computer auf den Müll zu befördern, die noch wenige Jahre zuvor das Nonplusultra gewesen waren. Mein heutiger Computer kostet mit Flachmonitor und Farblaserdrucker weniger als die ersten PCs mit 20 MB-Festplatte, Zweifarbmonitor und Nadeldrucker.
So wurde im Laufe meines Lebens Information, die unsere Vorfahren noch von Hand abgeschrieben haben und die in meiner Kindheit umständlich gedruckt oder getippt werden musste, zu einer beliebig wandelbaren und leicht manipulierbaren Entität. Leicht herstellbar, leicht kopierbar und auch leicht manipulierbar. Einem digitalisiertem Objekt sieht keiner an, ob es das Abbild eines außerhalb des Computers existierenden Objektes ist oder mit geeigneten Programmen unabhängig von jedem äußeren Objekt erzeugt wurde.

»Der Pfeiltransfer« – Daten auf Reisen

Aus meiner Kindheit und Jugend kenne ich Anzeigen, in denen Menschen Brieffreunde an anderen, manchmal weit entfernten Orten, suchten. Man schreibt einen Brief, versieht ihn mit einer Briefmarke, der eigenen Adresse als Absender und der Adresse des Empfängers und wirft ihn in den nächsten Briefkasten. Sollte der Brief ins Ausland geschickt werden, gab es spezielle Briefumschläge für »Luftpost«. Der Empfänger musste Geduld haben, Tage oder Wochen auf den Brief warten. Dabei sollten wir froh sein, im 20. Jahrhundert mit Auto, Eisenbahn und Flugzeug zu leben. Die Deutsche Bundespost versprach ihren Kunden, dass ein Brief ein Tag nach der Abgabe beim Empfänger ankam. Briefe aus anderen Ländern brauchten mehr Zeit und ich habe schon Urlaubskarten erhalten, die erst bei mir ankamen, als die Absenderin wieder daheim war.
Es war schon möglich, Informationen schneller als durch den Transport eines geschriebenen Textes zu übertragen. Die Römer kannten vor zweitausend Jahren Verfahren, um mittels »optischer Telegrafie« Informationen über größere Distanzen weiter zu geben. Datenfernübertragung ist auch eine dieser Ideen, die schon mal da gewesen war und deren Wiederentdeckung wir als Neuerfindung ausgeben. Ohne überzeugende Erklärungen dafür zu haben, warum diese Idee nicht schon viel früher weiter entwickelt wurde. Weil sie nicht weiter entwickelt wurde, sprechen wir den Menschen der Antike die Fähigkeit ab, sie weiter zu entwickeln. Nur ist das keine Erklärung, sondern ein deterministischer Zirkelschluss. Es konnte nicht anders kommen als es kam. Litten schon die Römer an derartigen Selbsttäuschungen? Wenn ja, sind sie als Erklärung für den Untergang ihres Reiches viel schlüssiger als deterministische Tautologien oder materielle Faktoren.

Ich bin mit dem Telefon aufgewachsen und kannte Telegramme, es gab Fernschreiben und Faxgeräte. Aber das waren nur Vorformen dessen, was kommen und die Welt gründlich umkrempeln würde. Bewusst wurde es mir, als Anfang der 1990er Jahre ein Kollege auf einer Arbeitsstelle vom »Pfeiltransfer« sprach und ich nicht begriff, was er meinte. Damals wurde ich zugleich in die nächste Stufe der Datenfernübertragung und den in der Informationstechnologie üblichen Jargon einführt. Denn der »Pfeiltransfer« war ein File Transfer: die Übertragung von Dateien durch das Telefonnetz. Ein als Politikwissenschaftler arbeitender Freund schwärmte zur gleichen Zeit von den Vorteilen von »E-Mail«: Texte aller Art musste man nicht mehr zur Post bringen und verschicken, um vielleicht wie bei den oben erwähnten Karten aus dem Urlaub wochenlang auf sie zu warten. Per E-Mail verschickt kam ein sozialwissenschaftlicher Text aus Lateinamerika sofort in Deutschland an.
So erlebte ich zum ersten Mal, welches Potenzial weltweite Datennetzwerke hatten. Das Internet existiert schon seit 1969, aber zuvor habe ich es gar nicht oder nur als ebenso kompliziertes und exotisches Verfahren wahrgenommen wie Faxgeräte oder Bildschirmtext. Um 1980 entwickelte ein linker Polit-Kader die Vision, wie man »im Sozialismus« über Datenleitungen auf alle auf der Welt verfügbaren Informationen zugreifen kann. Der Sozialismus existiert nicht mehr und er hat als Zukunftsvision mehr abschreckende als beflügelnde Wirkung. Der Zugriff auf eine Fülle an Informationen durch das Internet ist aber schon zwei Jahrzehnte nach seiner Vision Wirklichkeit geworden.
Früher kaufte ich mir auf Papier gedruckte Zeitungen und Bücher, sah die Talkshows im Fernsehen und musste in eine Bibliothek gehen oder in einem Lexikon nachschlagen, um bestimmte Informationen zu erhalten. Für Termine und Adressen gab es Programmzeitschriften und Telefonbücher. Gedruckt selbstverständlich und wer eine Adresse in einer anderen Stadt recherchieren wollte, hatte seine liebe Not. Da konnte man nur darauf hoffen, dass es in einem Postamt auch die Telefonbücher anderer Städte und Regionen gab.
Heute sind mir gedruckte Zeitungen lästig, weil ich nicht alle Artikel lese und es als Verschwendung ansehe, sie größtenteils ungelesen in den Müll zu werfen. Ich rufe die Internet-Version einer Zeitschrift oder Zeitung auf und lese nur das, was mich interessiert. Talkshows im Fernsehen sind zur Selbstdarstellung einer korrupten Elite verkommen, wo abweichende Meinungen nur noch als Alibi dienen und einfache Menschen Staffage sind. So machen wir uns in unzähligen Foren im Internet unsere eigenen Talkshows. Lexika aus Papier mit dutzenden Bänden gehören der Vergangenheit an. Wer schnell etwas recherchieren will, tut das bei »Google« und anderen Suchmaschinen oder nutzt »Wikipedia« als Nachschlagewerk. Die »Gelben Seiten« heißen heute so, weil das Online-Verzeichnis der Deutschen Telekom ein gelbstichiges Layout hat. Noch in den 1980er und 1990er Jahren suchte und fand ich Sexdates über den »Tip«, heute ist das ganz ohne Papier auch über das Internet möglich. Wie es sich für jemanden ziemt, der nach einer Fortbildung 1998 in der damals boomenden Internet-Branche arbeitete, fand ich meine zweite Arbeitsstelle durch Recherchen in Jobbörsen im Internet. Die Funktion dicker Warenhauskataloge haben heute Internetseiten mit Datenbankunterstützung übernommen. Bei »Amazon« kann man nach allem suchen und es bestellen. Der Papierkatalog hat ausgedient. Nur Produktion und Lieferung sind mühsam. Schließlich wird dabei ein Objekt aus fester Materie hergestellt und transportiert und da ist es nun mal nicht so einfach wie mit »Daten«, »Bits und Bytes«.
Zumindest glauben wir das.

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Teil 7: »Welt am Draht« – die Welt im Rechner

Die Information ist in den letzten Jahrzehnten zu etwas Flüssigem und beliebig Manipulierbarem geworden. Einige Eingaben, ein Mausklick oder ein Befehl genügen und die virtuelle Welt steht Kopf. In Computerspielen flüchten sich die Menschen in Wunschwelten und sind endlich das, was sie gern sein wollen. Kosmologen spielen Gott, indem sie unser Universum mit all seinen Galaxien simulieren, um Fragen seiner Entstehung und Entwicklung zu untersuchen. Es ist naheliegend, im Computer ein Abbild realer Prozesse zu schaffen, um sie besser zu verstehen. Manipulationen durch Befehle in einer Programmiersprache geschehen nur im Computer und mit digitalisierten Daten.
In der materiellen Welt ist es unmöglich.
Die Menschen früherer Epochen wussten es nicht besser, aber anders. In dem arabischen Märchen »Kalif Storch« lernt der Kalif den Zauberspruch »mutabor« (lateinisch für »er wird sich verändern«). Kaum hat der Kalif den Zauberspruch aufgesagt, verwandelt er sich in einen Storch. Als Storch erlebt er allerlei Abenteuer und will sich schließlich wieder in einen Menschen verwandeln. Nur hat er den Zauberspruch vergessen und irrt weiter als »Kalif Storch« umher. Bis er den Zauberspruch erneut erfährt, aufsagt und wieder ein Mensch ist.
Als Webentwicklerin muss ich heute bei dem Märchen an einen Programmierer denken, der einen wichtigen Befehl vergessen hat und händeringend danach sucht. Wobei es für ein Team aus Programmierern, Designern und Autoren kein Problem ist, die Welt von »Kalif Storch« im Computer zu erschaffen und in ihr auch Regeln für Magie einzuprogrammieren.
Ist das auch mit der »wirklichen« Welt möglich?
»Kalif Storch« und viele andere Märchen legen nahe, dass die Menschen das einmal glaubten. Sie sahen die Welt so als durch Riten, Beschwörungen und Zaubersprüche manipulierbar an, wie wir heute die Daten auf einem Computer manipulieren. Nur sind aus Magiern Programmierer geworden. Nur beschränken sich die Programmierer auf ihre Computer und ihr Tun hat mit unserer Welt an sich nichts zu tun.
Es sei denn, der Prozess der Verflüssigung und beliebigen Manipulation von »Daten« greift auch auf die »Materie« über. Weil die Unterschieden zwischen Daten und Materie nicht so klar sind, wie wir glauben und unser »materialistisches« Weltbild nicht der Welt entspricht.

Die Anfänge dieser Prozesses habe ich mit erlebt, ohne sie damals zu verstehen. Es war die Erstausstrahlung des Fernsehfilms »Welt am Draht« von Rainer Werner Fassbinder Anfang der 1970er Jahre, die auf dem 1964 erschienenen Science-Fiction-Roman »Simulacron-3« von Daniel F. Galouye basiert.
In »Welt am Draht« lässt ein Unternehmen als Grundlage für Simulationen im Computer ein kleines Abbild unserer Welt erstellen. Darin leben und fühlen die Menschen so wie wir und es gibt Häuser und Straßen, Autos und Telefonzellen und all die Dinge, die wir in unserer Welt kennen. Ab und zu legen sich Mitarbeiter des Projektes auf eine Couch und setzen sich ein Gerät auf den Kopf, mit dessen Hilfe sie in die von ihnen selbst geschaffene Welt gelangen. So können sie in ihrer eigenen Schöpfung leben und Untersuchungen treiben. Wollen sie wieder in ihre Welt zurück, begeben sie sich in eine Telefonzelle und werden heraus geholt. Nur ein Mensch in der Simulation weiß um die wahre Natur seiner Welt. Die Mitarbeiter des Projektes gaben ihm den Spitznamen »Einstein« und er fungiert für sie als Kontaktperson.
Um so größer ist das Erstaunen von Projektleiter Fred Stiller, als »Einstein« in seine Welt kommt und zu ihm sagt: »Das hier ist auch nur eine Simulation«. So ist es! Für Stiller zuvor unerklärliche Ereignisse haben ihre Ursache darin, dass er und seine Mitmenschen ebenfalls in einer simulierten Welt leben. Diese Erkenntnis trifft Stiller bis ins Mark und um sich Luft zu verschaffen, bittet er seinen Vorgesetzten Herbert Siskin zu einer Vorführung. Stiller hat in der von ihm überwachten Simulationswelt eine Simulation von Siskin hinein programmiert. Siskin amüsiert sich köstlich, als er auf einem Monitor sein simuliertes Gegenstück sieht. Ohne zu begreifen, dass er selbst auch eine Simulation ist. Die Szene, in der Simulation I von Siskin beim Anblick von Simulation II von Siskin vor Lachen die Tränen kommen, ist für mich der Höhepunkt von »Welt am Draht« und eine gnadenlose Abrechnung mit der Dummheit und Manipulierbarkeit der Mächtigen. Die Puppenspieler begreifen als Letzte, dass sie selbst nur Marionetten in einer »Welt am Draht« sind.
Zum Schluss von »Welt am Draht« erwacht Stiller auf einer Couch in dem, was er für die wirkliche Welt hält. Der Film endet wie die Romanvorlage mit einem Happy End: endlich in der Wirklichkeit angekommen!
Der ebenfalls das Konzept einer Hierarchie simulierten Welten behandelnde Spielfilm »The 13th Floor« ist da konsequenter. Auch hier gibt es den Programmierer, der eine Welt simuliert und feststellt, dass er auch in einer Simulation lebt. Er kann dieser Welt entkommen und meint, nun in der wirklichen Welt zu sein. Wo die Menschen rundliche Gesichter haben und alles in einen sanften Goldton getaucht ist. Bis der Strom abgeschaltet und der Bildschirm schwarz wird.
Weil es immer noch eine Ebene mehr gibt und auch die »nächsthöhere« Welt eine Simulation sein mag. Weil das bloße Konzept einer simulierten Welt den Status der »wirklichen« Welt infrage stellt.

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Teil 8: Viele Welten im Rechner

In den 1980er Jahren fragte ich einen erfahrenen Programmierer, ob eine Simulation wie in »Welt am Draht« möglich ist. Seine Antwort war: es lässt sich alles im Computer simulieren, was sich berechnen lässt.
In unserer Welt lässt sich viel berechnen und auf Zahlenwerte zurückführen: Rohre in der Kanalisation ebenso wie die Form und die Bahnen von Himmelskörpern. Unser Bild vom Universum und der Prozesse in ihm basiert zu großen Teilen auf Berechnungen. Die sich scheinbar jeder mathematischen Erfassung widersetzende Vielfalt in der Natur lässt sich mit geeigneten Verfahren auf mathematische Größen zurückführen. Da werden neben den drei ganzzahligen Dimensionen noch gebrochene »fraktale« Dimensionen eingeführt und man hat ein Schema für Küstenlinien oder Baumkronen. Zu den Funktionen von Grafikprogrammen gehört es, mittels des Computers Vielfalt und Mannigfaltigkeit zu erzeugen und mittels Bits und Bytes die unregelmäßigen Formen der Natur nachzubilden.

Simulacrun 3 und »Welt am Draht« haben in der Phantastik von »Matrix« bis zum »Holodeck« in »Star Trek« viele Nachahmer gefunden. Dass mir ein Freund über Jahre nahe legte, darim mehr als bloße Science Fiction zu sehen und eine »digitale Welt« als Hypothese zu betrachten, war mir lange nicht einsichtig. Ich sah keinerlei zwingende Beweise, so ein Gedankenspiel ernst zu nehmen. Allerdings änderten sich viele Dinge.
Computer wurden immer leistungsfähiger und in Form vom »Computerspielen« laufen heute schon unzählige simulierte Mini-Welten. Der Gedanke liegt nahe, dass irgendwann auch Simulationen möglich sind, deren Komplexität zumindest in einem Teil der simulierten Welt mit unserer Welt vergleichbar ist.
Unser Universum mit einem Volumen von 10 hoch 70 Kubikkilometern können wir so schnell nicht in allen Einzelheiten »nachbauen«. Dann beginnen wir mit einer Kleinstadt von zehn Quadratkilometern und versehen sie mit Häusern und Straßen, Pflanzen, Tieren und Menschen. Für den Rest des Universums reichen geeignete Kompressionsalgorithmen, um die Sonne aufgehen und nachts die Sterne funkeln zu lassen. Vielleicht existiert in der simulierten Stadt auch ein kleines Institut, in dem Programmierer und Designer an einer simulierten Welt arbeiten. Wenn die einen Geistesblitz haben, zeichnen ihn ihre Erschaffe auf und verwenden ihn für Projekte in ihrer Welt.
Lästige und frustrierende »F & E« – Forschung und Entwicklung – nicht von realen Mitarbeitern, sondern von Simulationen machen zu lassen, hat etwas Verführerisches. Da reicht es, ihre Forschungseinrichtungen und ihr soziales Umfeld zu simulieren. Die glücklichen Eierköpfe haben alles, was sie zum Leben und Forschen benötigen und erfahren Leid nur dann, wenn es sie nach Meinung ihrer Erschaffer inspiriert, provoziert und bei der Arbeit antreibt. Wobei diese Erschaffer nicht unbedingt leichtfertig handeln. Vielleicht wissen sie um die ethische Verwerflichkeit der Erschaffung und Manipulation simulierter Menschen, haben aber einen Grund, der ihr Tun rechtfertigt. Sie mögen Hinweise darauf haben, selbst in einer simulierten Welt zu leben und hilflos ihren Erschaffern ausgeliefert zu sein. Dann erschaffen sie ihrerseits eine Welt und veranlassen die Menschen dazu, darüber zu reflektieren, ob ihre Welt eine Simulation ist. Wie man erkennt, dass die Welt eine Simulation ist und was man in einer Simulation aus seinem Leben macht. Wie man sich gegen seine »Schöpfer« zur Wehr setzt und ein freies Leben führt.
Ein simuliertes Forschungsprojekt mag fantastisch sein, aber es ist nur die Weiterführung dessen, was jetzt schon üblich ist. Wir können nicht durch die Zeit reisen, um Vorgänge über Millionen oder Milliarden Jahre hinweg aufzuzeichnen. Unsere Fortschritte in der Raumfahrt sind kläglich. Selbst eine Expedition zum Mars, damit Wissenschaftler vor Ort seine Geschichte und Entwicklung studieren, scheint derzeit kaum möglich zu sein. Studien auf weiter entfernten Himmelskörpern mögen auf lange Zeit ein Wunschtraum bleiben. Reisen in andere Universen, um deren Naturgesetze und Struktur zu studieren, hält die Wissenschaft für ausgeschlossen.
Wir müssen nicht reisen.
Wir haben Computer und erschaffen uns die Welten, die für uns unerreichbar sind.
Nach einer simulierten Stadt folgen simulierte Himmelskörper. Eine simulierte Erde mit alternativer Geschichte mag ebenso möglich sein wie eine exotische Welt mit Lebensformen, deren Stoffwechsel ganz anders ist als unserer. Es ist auch naheliegend, Welten mit anderen Naturgesetzen zu simulieren, um zu ergründen, ob dort komplexe Strukturen und Leben möglich ist.
Kann es Leben in einer Welt mit nur drei Raumdimensionen geben?
Pardon, ich wollte schreiben: Kann es Leben in einer Welt mit mehr als drei Raumdimensionen geben?
Viele Forscher halten das für unmöglich, weil die Wechselwirkungen mit zunehmender Entfernung zu schnell an Kraft verlieren. Ich halte die Existenz von mehr als drei Raumdimensionen für einen Vorteil, weil eine höherdimensionale Geometrie komplexere Strukturen ermöglicht.
Wie soll man die Streitfrage am besten lösen?
Man programmiert eine Welt mit mehr als drei Raumdimensionen, bastelt an ihren Wechselwirkungen und Naturkonstanten und sieht, was geschieht. Nur Brei oder Wunder an Komplexität und Vielfalt?

So gelangen wir in wenigen Jahrzehnten zu einer Welt, auf der Dutzende, Tausende oder gar Millionen Simulationen laufen, die ebenso komplex wie sie selbst sind. In »Copyworld« schildert der Autor Michal Szameit so ein Szenario: Die Erde ist durch eine Umweltkatastrophe zerstört und viele Menschen haben dadurch Missbildungen. Deshalb beschließen sie, sich eigene Welten zu erschaffen, wo sie ein Leben nach ihren Vorstellungen führen können. Die sehr unterschiedlich sind. In »Copyworld« wird der realen Welt eine rustikale Fantasy-Welt gegenüber gestellt. Die einen mögen sie lieben, die anderen noch schlimmer als die kaputte Wirklichkeit finden. Aber die können sich eigene Welten schaffen ...
Die in naher Zukunft mögliche Existenz einer realen Welt, auf der unzählige Simulationen laufen, gibt nun ein Maß für die Wahrscheinlichkeit dafür, dass unsere Welt die einzig wirkliche und nicht simulierte Welt ist. Diese Wahrscheinlichkeit ist allerdings sehr gering. Wenn auf der Erde im Jahr 2100 angesichts allgemeiner Stagnation und nach wie vor ungelösten gesellschaftlichen Problemen eine Million »Fluchtwelten« laufen, haben wir Überlegungen des Mathematikers und Philosophen Nick Bostrom zufolge ein Maß für die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Welt »real« ist. Sie liegt bei eins zu einer Million.
Siskin, übernehmen Sie!
Simulationen könnten aber nie über eine niedrige Komplexitätsstufe hinaus gelangen. Etwas raffiniertere Computerspiele oder ein Grobmodell des Universums mit seinen hundert Milliarden Galaxien. Schon die Simulationen eines Gehirns einer Ratte mag ganze Batterien von Großrechnern heiß laufen lassen und »Simulacrun 3« erweist sich für immer als unerreichbar. Weil unsere Welt nicht über die Systemressourcen verfügt, die nötig sind, um in ihr weitere simulierte Welten laufen zu lassen!
Die Abwesenheit des Phantastischen versetzt dem Glauben an die Realität dieser Welt den endgültigen Todesstoß. Denn in einer realen Welt mag es Möglichkeiten, Mittel und Wege, Tricks und Schlupflöcher geben, um wenigstens einen Teil der Fantasien der Menschen Wirklichkeit werden zu lassen. Aber nicht in einer Welt, deren Erschaffer das Phantastische nicht vorgesehen haben. Postmoderne Banalität und Tristesse, die Kluft zwischen Imagination und Wirklichkeit kann als Indiz gegen die Realität der Welt gesehen werden. Wir wurden demzufolge nach dem Vorbild von Menschen erschaffen, für die sich Phantasie und Imagination lohnt, weil sie in ihrer Welt auch Wege zu ihrer Verwirklichung finden. Für uns sind sie ein lästiger Programmierfehler, weil sie uns mit den »Realitäten« hadern lassen. Schließlich haben die Geistlosen und Fantasielosen, die »Fachleute«, die nie über ihren Tellerrand hinaus schauen, in dieser Welt die besseren Chancen und kommen schneller voran. Weil unsere Welt für sie gemacht ist.
Hat nicht in einem Internet-Forum jemand geschrieben, die scharenweise auftretenden Anhänger des Mainstream-Diskurses seien wie Computer? Recht hat er!

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Teil 9: Die rechnende Welt

Unsere bisherigen Erörterungen zielen auf eine Welt ab, die möglicherweise eine Simulation ist. Das setzt voraus, dass es eine »Matrix« in der Art eines Computers gibt, auf dem die Simulation läuft und jemanden, der sie geschaffen hat. Die Welt kann allerdings auch »digital« sein und der Logik von Bits und Bytes folgen und die Dinge in ihr mögen sich ebenso auf Algorithmen zurück führen lassen wie eine Computergrafik, ohne dass sie eine Simulation auf einer Matrix in einer »höheren« Welt ist. Dieser Gedanke ist so alt wie der Computer und er stammt vom Erfinder des Computers. Für Konrad Zuse rechnete nicht nur sein erster, noch sperriger Computer, sondern der Raum selbst. Seine Idee des »rechnenden Raums« entwickelte er in den 1940er Jahren. Ihr zufolge finden wir auf der kleinsten Ebene der Dinge keine Elementarteilchen in der Art von Elektronen, Quarks oder Strings, sondern Rechenpunkte vergleichbar den Bits im Computer. Ich erfuhr von diesem Konzept erst vor wenigen Jahren, doch war sofort von seiner Logik fasziniert. Es macht wenig Sinn, die Welt mit einem »Zoo« von Elementarteilchen zu erklären, die wiederum aus noch kleineren Teilchen bestehen, von denen aber mehr entdeckt werden, als den Physikern lieb ist. Weil der »Zoo« der noch kleineren Teilchen nahe legt, dass sie aus noch kleineren Bestandteilen bestehen. Zuses »rechnender Raum« setzt dieser Zerstückelung ein Ende.
Das Universum funktioniert demzufolge nach vergleichbaren Regeln wie ein Computer. Sei es auf der »untersten« Ebene der Rechenpunkte oder darin, dass sich komplex erscheinende Objekte auf einfache Formeln zurück führen lassen und sich Dinge mittels Algorithmen »komprimieren« lassen. Selbst wenn sich die Struktur und die Eigenschaften der Materie mit der Annahme von Teilchen, Atomen und Molekülen gut erklären lassen, bedeutet das nicht, dass im Universum ständig 10 hoch 80 Teilchen durcheinander wuseln. Wer von uns hat jemals ein Atom gesehen? Wir sehen Dinge, deren Beschaffenheit wir uns damit erklären, dass sie aus Atomen bestehen. Sehen wir ein täuschend echtes Abbild eines Objektes im Computer erklären wir uns dessen Beschaffenheit mit Bits und Bytes. Das legt nahe, uns auch die Struktur der Vorlage mit Bits und Bytes zu erklären. Eine Welt aus Dingen, die auf Algorithemen basieren, ist auch »ressourcensparender« als eine Welt, wo ständig 10 hoch 80 Teilchen miteinander interagieren und aus ihren Wechselwirkungen alles aufbauen. Es ist uns möglich, in groben Zügen das Universum zu simulieren, weil wir darauf verzichten, all seine 10 hoch 80 Teilchen zu berechnen und uns nur auf die Strukturen – Galaxien – beschränken, die für uns von Interesse sind. Was spricht dagegen, dass es unsere Welt ebenso macht?
Nicht weil sie eine Simulation, sondern weil sie digital ist.
Nicht, weil sie in einem Rechner steckt, sondern weil sie rechnet.

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Teil 10: »Wie in einem schlechten Film« – Baufehler der Welt

Lässt sich irgendwie überprüfen, ob die Welt simuliert ist oder nicht, ob sie aus Materie oder rechnendem Raum besteht? Handfeste Beweise gibt es nicht, nur Indizien dafür, dass »nicht alles mit rechten Dingen zugeht«.

1. Baufehler der Welt

Unser Universum ist über 13 Milliarden Jahre alt und Kosmologen und Paläontologen haben seine Geschichte gut nachgezeichnet und in sich schlüssig erklärt. Aber schon bei der Frage »was war vor dem Urknall« platzen ihre auf Kausalität und Raumzeit beruhenden Konzepte wie ein Luftballon (mit dem sie gern das Universum vergleichen). Weil sich ihren Theorien zufolge die zeitliche Präposition »vor« vor dem Urknall sinnlos ist, denn Raum und Zeit sind erst mit dem Urknall entstanden. So reformuliere ich die Frage korrekt: »Was ist das, was nicht Raum und Zeit ist?« Die nächste Runde Haareraufen und Köpferauchen ist eingeläutet.
Ist die Welt das, was der Fall, wie es Wittgenstein sagt?
Was ist das für eine Welt, in der selbst ihre klügsten Geister verzweifeln, weil die Sprache nicht zu ihrer korrekten Beschreibung taugt?
Für Kopfzerbrechen sorgt unsere Welt auch, wenn man das innere Sonnensystem mit Erde, Venus und Merkur 40 Millionen Jahre weiter laufen lässt. Dann kann niemand voraussagen, was geschieht. Vielleicht stößt der Merkur mit der Erde zusammen und alles fängt wieder von vorne an. Nur besteht das Sonnensystem seit über 4000 Millionen Jahren. Wobei niemand erklären kann, warum die Planeten des inneren Sonnensystems nicht schon vor Urzeiten zusammengekracht sind, wenn ihre Bahnen nur für wenige Millionen Jahre stabil zu sein scheinen.
Wen wundert es da, wenn sich Wissenschaftler auf die Suche nach Ungereimtheiten im Kosmos begeben, um Indizien dafür zu finden, dass unsere Welt eine Simulation ist? Sogar die kleinsten Einheiten von Raum und Zeit erscheinen in einem neuen Licht. Die kleinstmögliche Einheit unseres Raums gibt nur den Raum an, den ein Bit in dem Computer benötigt, in dem das Universum läuft. Die kleinstmögliche Einheit der Zeit gibt die Taktrate (Rechenoperationen pro Sekunden an). Die kleinste Raumeinheit (Planck-Länge) beträgt 1,61624 mal 10-35 Meter, die kleinste Zeiteinheit (Planck-Zeit Zeit) 5,39121 mal 10-44 Sekunden. Demzufolge hat der Computer, der unsere Welt simuliert, eine extrem hohe Taktrate. Aber es ist nur ein Computer und Naturkonstanten, über die Planck und Heisenberg gegrübelt haben, finden eine neue Erklärung.
Die Messungenauigkeiten der Unschärferelation sind demnach die Grenzen der Rechengenauigkeit. Diese Erklärung ist möglich, wenn das Universum sich in einem Rechner befindet. Sie trifft aber auch zu, wenn der Raum selbst rechnet und es dabei ebenso Grenzen der Genauigkeit, Ungereimtheiten und Fehler gibt, wie in unseren eigenen Berechnungen.

Zu Baufehlern der Welt kommt der Wahn in der Gesellschaft:

2. Wie in einem schlechten Film

Hat außer mir schon jemand anders das Gefühl gehabt, er oder sie sitzt allein oder im Kreis der Freunde und jetzt wird gedreht. Irgendwo ist die unsichtbare Kamera und der Kameramann oder die Kamerafrau. Dann ertönt ein »Schnitt«, das man selbst nicht hört und alles ist im Kasten. Eine neue Folge zu einer Serie, wo die Darsteller glauben, das sei das wirkliche Leben. Ich spiele definitiv in »Queer as folk« im Reality-Format mit und das ist vergleichsweise harmlos und manchmal sogar lustig.
Einige andere »Serien« überschreiten allerdings die Grenze des Harmlosen. Sie zeichnen sich durch eine Kombination von Bösartigkeit und Absurdität aus. Da bin ich bestrebt, ihren großen Darstellern in der Politik und den Kleindarstellern in der Bürokratie aus dem Wege zu gehen, was nicht immer gelingt.

Damit wären wir bei

3. »Die Mitte hat ein Loch« - Verlust der Realität

In der Erkenntnistheorie kommt man nicht um die Erkenntnis herum, dass Wirklichkeit auf Konsens und Übereinkünften beruht. Sie ist nie »absolut« und für alle gleich, sondern relativ und je nach Perspektive verschieden. Instanzen, welche einen Konsens über die Wirklichkeit herstellen wollen, tragen Namen wie »der gesunde Menschenverstand« und sie werden gewöhnlich im Mainstream einer Gesellschaft verortet. Auch der gesunde Menschenverstand kann Trugschlüssen erliegen, aber solange er gesund ist, erkennt er seine eigenen Täuschungen.
Und da sieht es »in der Mitte« und bei den »Realisten« ganz böse aus. Auf meinen Frust über all das Chaos in Berlin kam aus einer Talkshow als Antwort »Berlin ist im EU-Innovationsindex mittlerweile auf Platz 2«. So geht im Gesellschaftlichen jede konsensfähige Wirklichkeit verloren. Der Mainstream zieht sich in sein Traumschloss der Realität zurück. Ist nur das Universum ein großer Luftballon? Seit der Finanzkrise von 2008 wissen wir, dass auch die Wirtschaft nach dem Prinzip des Luftballons funktioniert. Und die nächste Blase kommt bestimmt!
An den »Rändern« verzweifeln sie ob des Irrsinns dieser Realität. Aber sie stellen wenigstens ab und zu die richtigen Fragen. Vielleicht ohne großes eigenes Verdienst sind da manche unempfänglich für

4. Realität, welche die Satire überholt hat

Stellt euch folgendes vor: Ihr seid in einem kleinen Laden und in ihn kommen Menschen, die auf Anordnung des Arbeitsamtes die Türrahmen vermessen sollen. Die tun das dann mit einiger Geschäftigkeit und Wichtigtuerei und gehen wieder.
In den 1970er Jahren wäre so etwas nur als Satire denkbar gewesen. Der Westdeutsche hätte geglaubt, das könne es nur in der DDR geben. Aber nicht bei ihm, wo es Freiheit und Vollbeschäftigung gibt. Genau das habe ich selbst erlebt. Nicht zum ersten Mal sind Dinge, die in den 1970ern als Satire gegolten haben, zur Realität geworden. Was zu

5. Satire als einzigem Widerstandsmittel

führt. In den 1970ern konnten die Menschen noch auf eine Vielzahl von Wegen Widerstand, »dagegen« und »außerhalb« artikulieren. Vom friedlichem Protest über die demonstrative Selbstanklage oder die Flucht (aus der DDR). Heute leben wir in einer Welt, wo sich Michael Moore und ein Fernsehmoderator darüber streiten, ob US-amerikanische Banken sofort oder erst nach einem Tag Gewehr und Munition als Werbegeschenke vergeben haben. Wo die Realität die Satire überholt hat und sich besonders die Eliten darin übertreffen, Dinge von sich zu geben, die man früher im politischen Kabarett verortet hätte.

All die Ungereimtheiten eines »materialistischen« Weltbildes, die im »digitalem Zeitalter« zu seiner Verwerfung und der Suche nach einer besseren Welterklärung führen müssen, haben ihr Gegenstück in unserem Bild von unserer Gesellschaft.
Nicht nur die Welt, auch die Gesellschaft hat »Baufehler«, die der Mainstream der Gesellschaftswissenschaften ignoriert oder weg erklärt. Die Naturwissenschaften beweisen ihre Authentizität nicht dadurch, dass sie uns eine fertige Welt hinsetzen, sondern dass sie diese Welt immer wieder hinterfragen. Mit simulierten Welten und digitalen Universen sind wir ein einem Punkt angelangt, der mich an »einstürzende Neubauten« denken lässt.
Wobei ich die stille Hoffnung habe, dass die einstürzenden Türme in Physik und Chemie in den Fakultäten der Historiker, Gesellschaftswissenschaftler und Ökonomen einschlagen und da keinen Stein mehr auf dem anderen lassen.


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Teil 11: Vom Deutschen Reich zum Wirtschaftswunder

Ich bin 1962 zur Welt gekommen und konnte folglich nicht miterleben, was zuvor geschah und Auswirkungen auf mein Leben hatte. Von der Geschichte »vor meiner Zeit« waren die Nazi-Zeit, der Krieg und die ersten Jahre danach in den Erzählungen von Zeitzeugen am wichtigsten. Von jüdischen Überlebenden des Holocausts bis zu rechtskonservativen Veteranen der Wehrmacht hat mir jeder seine Sicht der Dinge nahe gebracht. Geschwiegen haben die wenigsten, aber viele mögen sorgfältig ausgewählt haben, was sie mir und anderen meiner Generation erzählt haben. Seltsamerweise spielten weder die Weimarer Republik noch die ersten zwanzig Jahre der BRD in den Erzählungen eine wichtige Rolle. Die Weimarer Republik mag selbst für die Älteren zu lange zurück liegen. Aber wieso wurde mir mehr über Hitler und die Nazi-Zeit berichtet als über Adenauer und das »Wirtschaftswunder«? Meine Lehrer und Lehrerinnen deckten vom Alter und der Ideologie alles ab, doch über »den Krieg« bekamen ich und meine Mitschüler mehr zu hören als über »1968«.
Das Grauen der Nazi-Zeit, die Ermordung der Juden und auch die Leiden der Zivilbevölkerung im Krieg und durch Flucht aus den zerstörten deutschen Ostgebieten waren für mich feste historische Größen. Es war auch die Zeit, wo mit dem Film »Holocaust« Entrechtung und Ermordung der Juden thematisiert wurden und der japanische Film »Barfuß durch die Hölle« den Horror des Zweiten Weltkrieges in Fernost aufzeigte.
Wer Leid und Entbehrungen durchmachte, möchte die gern vergessen und neu anfangen. Es besser machen und endlich einmal gut leben. Entweder müssen die Menschen in meiner Kindheit und Jugend den Wohlstand nach 1949 und die gesellschaftliche Emanzipation nach 1968 als selbsterklärend und nicht der Rede wert betrachtet haben. Oder es war auch damals nicht so rosig wie man uns glauben machte und die Menschen schwiegen, weil sie nicht begriffen, was vor sich ging. War es schon damals absehbar, dass der Glaube ein krisenhaftes Wirtschaftssystem, staatliche Bevormundung und eine bigotte Gesellschaft überwunden zu haben, mehr auf Hoffnungen als auf Tatsachen beruhte?

Ein Blick zurück vor 1933 legt nahe, dass »alles« schon da gewesen war. 1929 sagte angesichts rasanter technischer Entwicklung und eines Wirtschaftsbooms der damalige Präsident der USA, Hoover, dass die USA dicht davor ständen, die Armut zu überwinden. Wenige Monate später brach die Weltwirtschaftskrise aus und Lager von Obdachlosen in den USA wurden als »Hoover-Towns« bezeichnet.
Emanzipationsbestrebungen der Homosexuellen lassen sich bis in die Kaiserzeit zurück verfolgen und die Frauenbewegung machte schon um 1900 auf sich aufmerksam. Untersuchungen zu Transvestismus und Transsexualität reichen bis 1910 zurück. Die Sexualwissenschaft hat Magnus Hirschfeld vor einem Jahrhundert begründet. Ideen zur Eroberung des Weltraums und die Science Fiction blühten schon damals. Schnellzüge gab es seit der Kaiserzeit, aber noch in den 1980er Jahren benötigte ein Zug für die Fahrt von Hameln nach Berlin (ca. 350 Kilometer) viele Stunden. Raketen und Computer, Fernseher und Düsenflugzeuge wurden vor 1945 in Deutschland entwickelt. Kaum war der Film erfunden, boomte in Deutschland das Kino und Farbfilme gab es schon in der Nazi-Zeit.
Mit all den Ideen, Konzepten und Visionen, die im Deutschen Reich von 1871 bis 1945 entwickelt wurden, geschah Folgendes: Was nicht ins Weltbild der bigotten und reaktionären Eliten und ihres Anhangs passte, wurde nach 1933 von den Nazis zunichte gemacht und von der BRD unter Adenauer nicht wieder aufgegriffen.
Die Nazis entwickelten zumindest in Teilbereichen der Wissenschaft und Technik sowie der Kultur noch Ehrgeiz. Deutschland sollte mit überlegenen Waffen zur Weltmacht werden und mit Innovationen wie dem Fernsehen Eindruck schinden. Die UFA war das reichsdeutsche Gegenstück zu Hollywood mit vergleichbaren Filmen. Nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches profitierten nur die Sieger von seinen Innovationen. Die BRD unter Adenauer unternahm keine Bestrebungen, geistig, kulturell und wissenschaftlich an das Deutsche Reich zu seiner besseren Zeit vor 1933 anzuknüpfen. In der Nachkriegszeit wurden noch einige gute Filme gedreht, dann fiel die Klappe. Hochwertige Massenware kam aus Hollywood, mit dem die deutsche Filmindustrie nicht mehr konkurrieren wollte.
Große Leistungen in Wissenschaft und Technik, kulturelle Blüte und Emanzipationsbestrebungen hat es schon vor meiner Zeit gegeben. Und schon vor meiner Zeit wurde nach vielen anderen Epochen und Kulturen auch uns Deutschen nicht Fortschritt, sondern Rückschritt verordnet. Die Nazis wollten für ihr Mordreich nicht freie und seelisch gesunde Menschen, sondern hohlwangige Kampfmaschinen mit blondem Scheitel. Und Konrad Adenauer gebührt das traurige Verdienst, unter seinem Regime ein politisches System entwickelt und eingeführt zu haben, für dass ich die Bezeichnung »Wohlstandstotalitarismus« geprägt habe. Weil es ein Totalitarismus ist, der nicht aus dem Mangel entsteht und sich in extremen Etatismus und radikaler Zentralisierung der Macht ausdrückt. Es ist ein Totalitarismus, der im Massenwohlstand funktioniert. Er braucht keine Zentralisierung der Macht, sondern arbeitet auch bei politischer Konkurrenz und dem Anschein von Freiheit. In der BRD hat er bis in die 1960er Jahre so gut funktioniert, dass wie unter den Nazis wieder Kommunisten und Homosexuelle verfolgt wurden. Der Paragraph 175 führte bis 1969 zu 10 000 Verurteilungen von Homosexuellen und 50 000 vernichteten Existenzen.

Freiheit sieht anders aus.

Als ich die Welt um mich herum wahrnahm, war Hitler schon lange tot und auch von Adenauers System hatten viele Menschen die Schnauze voll. War nicht »1968« soeben vorbei gewesen und regierte nicht seit 1969 die SPD unter Willy Brandt?
Fassbinder drehte bemerkenswerte Filme und eine deutsche Raumsonde (»Helios«) flog zur Sonne. Hoimar von Dithfurt präsentierte im deutschen Fernsehen in der Wissenschaftssendung »Querschnitte« das Modell eines Raumschiffes, mit dem Menschen schon in naher Zukunft bis zum Mars fliegen sollten. Eine meiner frühesten und schönsten Erinnerungen!
Die BRD gehörte zu den reichsten Industrienationen und die Gewerkschaften pressten den Arbeitgeber zehnprozentige Lohnerhöhungen ab. Mit dem Umzug von einer Bruchbude mit Ofenheizung ins zentralgeheizte Eigenheim mit fließend Warmwasser 1967 war auch meine Familie in der Moderne angekommen. Willy Brand wollte »mehr Demokratie wagen« und als Reaktion auf dem Bildungsnotstand der Nachkriegszeit wurden Gymnasien und Universitäten für die Kinder aus den unteren Schichten geöffnet. Das Scheidungsrecht wurde reformiert und die Gesellschaft verabschiedete sich vom patriarchalen Rollenbild. Die Fresswelle rollte, die Sexwelle rollte auch und an Westerwelle dachte man nicht einmal in den schlimmsten Alpträumen.
Schon der Satz »in der Nachkriegszeit wurde jeder genommen« erscheint mir damals wie eine Legende ohne Bezug auf mein Leben. Denn meine Heimatregion, das Weserbergland, gehörte in den 1970ern zusammen mit Ostfriesland zu den Regionen mit der höchsten Arbeitslosigkeit. Einem Bericht über den zu zwei Dritteln von der innerdeutschen Grenze umgebenen Landkreis Lüchow-Dannenberg entnahm ich, dass es da mit Infrastruktur und Perspektiven katastrophal aussah. Die Regel von der Vollbeschäftigung im Wirtschaftswunder hatte viele Ausnahmen. Dem Buch »Armut in der Bundesrepublik« von Jürgen Rot zufolge waren in der BRD bei einer Bevölkerung von sechzig Millionen sechs Millionen, also jeder Zehnte, arm und vom Wohlstand weitgehend ausgeschlossen. Reportagen von Günter Wallraff zeichnen das Bild eines Landes, wo sich in vielen Ecken und Winkeln eine Rückständigkeit hielt, die man eher im Feudalismus oder Frühkapitalismus vermutet hätte.

Die 15 Jahre nach »1968«, dass uns von Liberalen und Konservativen gleichermaßen als der große Umsturz verkauft wird, waren nicht nur von allzu vielen Überbleibsel überwunden geglaubter schlechter Zustände geprägt. Sie waren auch die Zeit, wo überall auf der Welt und auch in Deutschland eifrig mit der Restauration dieser schlechten Zustände begonnen wurde.
Das hatte es in der deutschen Geschichte kurz zuvor gegeben. In den ersten Jahren nach 1945 waren mit dem Deutschen Reich auch die alten Herrschaftsstrukturen zusammengebrochen. Alles lag in Trümmer und alles hatte sich als falsch und Irrweg erwiesen. Da machten inmitten von Trümmern und schierer Not die Schwulen da weiter, wo sie 1933 aufgehört hatten. Viele Schwangerschaften endeten mit einer Abtreibung, weil die Frauen ein Kind nicht ernähren konnten. Regisseure drehten die Filme, die unter den Nazis nicht möglich gewesen wären.
Von der rechtsextremen »Sozialistischen Reichspartei« bis zur linken KPD war in der Politik wieder Vielfalt angesagt. Die CDU gab sich mit dem »Ahlener Programm« sozial, die SPD war unter Kurt Schumacher links. Wer gerade erst einen katastrophal verlorenen Krieg hinter sich hatte, wollte nie wieder Soldat. Ein Land, das durch einem Millionenheer unter dem »Größten Feldherrn aller Zeiten« in die schlimmste Katastrophe seiner Geschichte geführt wurde, wollte keine Armee mehr haben.
Die Rückkehr der Nazi-Kader in hohe Funktionen und das Regime von Konrad Adenauer setzten allen Bestrebungen auf »etwas Neues« ein Ende. Schwule wurden wieder verfolgt und der Paragraph 218 führte zum »Abtreibungstourismus« in die Niederlande. Repression und 5-Prozent-Hürde sorgten dafür, dass bald nur noch CDU/CSU, SPD und FDP im Bundestag vertreten waren. Auf »nie wieder Krieg!« folgte die Wiederbewaffnung und auf Hitlers Führerbunker der für einen Atomkrieg vorgesehene Bunker der Bundesregierung.

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Teil 12: »Am Bildschirm« – Nachrichten aus aller Welt

Eine meiner ersten bewusst wahrgenommenen Nachrichten im Fernsehen lautete: »Nasser ist tot.« Der erste Präsident der ägyptischen Republik starb 1970. Er war schon zu Lebzeiten umstritten, galt aber auch als Hoffnungsträger der arabischen Welt. Sein Nachfolger Sadat versuchte, durch einen Frieden mit Israel den Konflikt zwischen Israel und den Arabern zu lösen. Sadats Bestrebungen verfolgte auch eine Lehrerin von mir mit großem Interesse und informierte uns im Schulunterricht darüber. Sadats Friedensprojekt scheiterte am ungelösten Palästina-Problem und anstatt als würdiger Nachfolger Nassers in die Geschichte einzugehen, wurde er 1981 ermordet. Nach Nassers Tod wurde es in Ägypten anders, aber nicht besser. Krieg und Gewalt im Nahen Osten setzen sich fort.
Der Nahost-Konflikt wurde sogar auf einem Landesparteitag der niedersächsischen Grünen 1982 zum Thema. Damals begingen libanesische Verbündete Israels in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila ein Massaker und damals hörte ich zum ersten Mal den Namen Ariel Scharon. Scharon war als israelischer Verteidigungsminister für das Massaker politisch mit verantwortlich und wurde deswegen zum Rücktritt gezwungen. Was ihn nicht daran hinderte, weiter Karriere zu machen und in »führender« Position sein Land und den gesamten Nahen Osten immer tiefer in eine ausweglose Lage zu führen. Scharon hat es auch wie keine anderer israelischer Politiker geschafft, dem Ansehen Israels bei den Deutschen zu schaden.
Die Bundesrepublik Deutschland war in der Nachkriegszeit so etwas wie ein großer Fanclub für das junge Israel. Die israelische Sängerin Daliah Lavi kannten wir alle und ebenso die Satiren von Ephraim Kishon. Schließlich reicht der Blaumilchkanal bis nach Berlin und ehe die platzende IT-Blase und die Lehmann-Brothers die Anleger zittern ließen, brachten Investitionen in Elefanten ein israelisches Mietshaus zum Einsturz. Israel, das war »Eis am Stil« und Kibbuz. Die Palästinenser wurden ignoriert oder wegen Anschlägen wie dem auf die Olympischen Spiele in München 1972 als Terroristen wahrgenommen.
Mit Ariel Scharon als Verantwortlichen für den Einmarsch Israels in den Libanon war Israel für mich als Delegierte auf einem Parteitag in der norddeutschen Provinz plötzlich Gegenstand einer peinliche Diskussion darüber, ob man Massaker in palästinensischen Flüchtlingslagern mit der »fabrikmäßigen« Ermordung von Menschen durch die Nazis vergleichen dürfe.

Scharon ist nur einer der Totengräber einer lebenswerten Zukunft, die in der Zeit meine politischen Bewusstwerdung die Bühne betraten. Es gab sie weit weg und vor Ort, groß und klein. Als erster erschien der chilenische General Augusto Pinochet im Bewusstsein der damaligen Öffentlichkeit. Er putschte 1973 gegen den chilenischen Präsidenten Salvador Allende. Danach inhaftierte und ermordete sein Regime Tausende Menschen und seine von vom »Monetarismus« Milton Friedmans inspirierte Wirtschafts- und Sozialpolitik stürzte das Land ins Elend.
Im Nachbarland Argentinien putschte das Militär unter General Videla 1976 und verhaftete, folterte und ermordete Tausende. Unter Videlas Nachfolger Gaitieri besetzte Argentinien im April 1982 die zu Großbritannien gehörenden Falkland-Inseln. Was als außenpolitische Ablenkung von inneren Problemen gedacht war, geriet für die Militärdiktatur zum Fiasko. Die Briten eroberten die Falkland-Inseln zurück und die Niederlage Argentiniens im Krieg besiegelte das Ende der Militärdiktatur. Danach folgte die Rückkehr zur Demokratie, aber auch ein Vierteljahrhundert politischer und wirtschaftlicher Agonie.
Wie nahe uns Lateinamerika war, zeigt der Besuch des CSU-Vorsitzenden Franz-Josef Strauß beim chilenischen Diktator Pinochet im Jahre 1977. Das wurde damals als grundsätzliche Zustimmung zum Putsch und zur Politik Pinochets gewertet.
Den Reigen der reaktionären Putschisten, deren »Wirken« ich als Zeitzeuge mit verfolgte, schließt der türkische General Kenan Evren ab. Er putschte 1980 in der Türkei und verfuhr nach bekannten Schema: Oppositionelle einsperren, foltern und ermorden lassen.
Man darf aber nicht glauben, dass derartige Militärdiktaturen auf Dauer angelegt sind und es den Putschisten darum ging, eine von ihnen als untauglich betrachtete Demokratie durch eine dauerhafte Ordnung zu ersetzen. Solche Ideen mochte noch Nasser gehabt haben. Die von mir genannten Putschisten und insbesondere die sie tragenden Kreise im eigenen Land und dem Ausland agierten perfider als der Diktator am Nil.
War das Ziel des Putsches erreicht, konnte man »zur Demokratie zurückkehren«. Mörder in Uniform ohne Charisma und Visionen wurden irgendwann zur Belastung. Die Welt sah in ihnen das Klischee des Tyrannen und dem eigenen Volk hatten sie außer Mord und Totschlag nichts zu bieten. Um die Massen ruhig zu halten, war es besser, sie mit der »Rückkehr zur Demokratie« zu ködern. Allerdings war es eine Demokratie, wo Wähler und Parteien nichts an den Machtverhältnissen und politischen Grundsatzentscheidungen ändern konnten. Auch weil zuvor die Diktatoren jene Menschen und Bewegungen liquidiert hatten, die eine andere Ordnung wollten. So eine Demokratie bekamen die Argentinier ab 1983 und die Chilenen ab 1990. Ein Chilene sagte darüber sinngemäß: »Was haben wir von einer Demokratie, wenn wir uns nicht bewegen können?«
Jene Art von »Rückkehr zur Demokratie« verfolgte ich schon in den 1970er Jahren. Da starb 1975 Francisco Franco, der Spanien vierzig Jahre als Diktator regiert hatte. Als letzte Ereignisse seiner Amtszeit sind mir Pläne in Erinnerung, inhaftierte Terroristen mittels der Garotte hinzurichten. Meines Wissens fand die Exekution nicht mehr statt, aber bis 1974 wurden in Spanien Menschen auf diese barbarische Weise hingerichtet. Nach Francos Tod hofften die Spanier und das Ausland gleichermaßen auf die Rückkehr zur Demokratie. So geschah es unter König Juan Carlos. Allerdings war es jene Art von Demokratie, wo Wahlen nicht allzu viel entscheiden. 1982 wählten die Spanier die Sozialisten an die Macht. Aber die betrieben unter Felipe Gonzalez keine sozialistische, sondern eine neoliberale Politik. Die vor allem im Süden des Landes und bei Jugendlichen hohe Arbeitslosigkeit wurde nicht überwunden. In Andalusien hockten viele junge Menschen auf den Dörfern und hatten keine Perspektive, sich ein eigenes Leben aufzubauen.

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Teil 13: »Der lange Abschied« – die SPD und ich

Ich bin nie in die Verlegenheit gekommen, die SPD zu wählen oder sogar ihr Mitglied zu werden. Denn als ich 1980 zum ersten Mal wählen konnte, war die SPD nicht mehr die Partei, die junge und links eingestellte Menschen aus einfachen Verhältnissen wie mich hätte begeistern können. Wenige Jahre zuvor war das noch anders. Ich glaube sogar, dass mich im Alter von kaum mehr als zehn Jahren eine zufällig aufgelesene Wahlbroschüre der SPD unter Willy Brandt nachhaltig geprägt hat.
Links. Idealistisch. SPD.

Bundeskanzler Willy Brandt

Die Kanzlerschaft des Sozialdemokraten Willy Brandt von 1969 bis 1974 markiert einen Höhepunkt in der Geschichte der SPD und der Linken und ihr Ende durch die Guillaume-Affäre für SPD und Linke gleichermaßen einen Wendepunkt.
Willy Brandt war als Kanzler zugleich charismatisch und umstritten. Großer Hoffnungsträger und Lebemann mit Hand zu Frauen und Alkohol. Den harten Linken war er nicht links genug. Für die Rechten und Konservativen war er vor allem wegen der Annäherung an den Ostblock ein »Verräter«. Verraten wurde er aber ausgerechnet von dem Land, mit dem er halbwegs normale Beziehungen erreichte: der DDR, deren Geheimdienstchef Markus Wolf jenen Spion im Kanzleramt platzierte, über den Brandt stürzte.
Davor hatte Brandt die SPD nach zwanzig Jahren endlich an die Macht geführt. 1969 gewannen SPD und FDP denkbar knapp die Bundestagswahlen. Da die rechte NPD mit vier Prozent an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte, hatten Sozialdemokraten und Liberale trotz gegenüber Union und NPD geringerer Stimmenzahl eine Mehrheit der Mandate im Bundestag. Die Union konnte den Verlust der Macht nicht verwinden und betrieb den Sturz Willy Brandts. Von 1969 bis 1972 traten so viele Abgeordnete der sozialliberalen Koalition zur Union über, dass SPD und FDP die Mehrheit im Bundestag verloren. Die Union wollte nun durch ein »konstruktives Misstrauensvotum« Rainer Barzel zum neuen Bundeskanzler wählen lassen. Das scheiterte aber daran, dass ihr auf einmal zwei Abgeordnete die Unterstützung versagten. Das schmutzige Spiel mit Überläufern kehrte sich gegen die Union selbst. Bei den wegen des Patts notwendig gewordenen Neuwahlen 1972 wurde die SPD mit über 45 Prozent zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik vor der Union stärkste Partei.
Es war der größte Triumph für Willy Brandt, die Sozialdemokraten und die demokratische Linke in der Nachkriegsgeschichte. Und der Anfang vom Ende! Denn 1974 wurde Brandts Mitarbeiter Günter Guillaume als Spion der DDR enttarnt und Brandt trat zurück. In nur zwei Jahren war aus Triumph Agonie geworden.
Warum?
Für Brandts Sturz nur zwei Jahre nach seinem größten Triumph gibt es viele Erklärungen. Das Wirken seines Nachfolgers Helmut Schmidt legt allerdings nahe, dass einflussreichen Kreisen die politische Grundorientierung unter Brandt nicht passte. Zu links, zu sozial, zu liberal. SPD, Arbeiterbewegung und demokratische Linke hatten zu viel Einfluss und der Mann, der das verkörperte, musste weg!

Helmut Schmidt und die Folgen

Brandts Nachfolger Helmut Schmidt schaffte es, den Flurschaden durch die Guillaume-Affäre so weit zu beheben, dass SPD und FDP bei den Bundestagwahlen 1976 trotz Verlusten ihre Mehrheit verteidigten. Schmidts immer mehr nach rechts abdriftende Politik leitete aber den bis heute anhaltenden Niedergang der SPD ein. Auseinandersetzungen um die Nutzung der »Atomkraft« und um Fragen der Rüstungspolitik führten dazu, dass sich immer mehr Menschen von der SPD abwandten. Wollte Willy Brandt noch »mehr Demokratie wagen«, fiel die sozialliberale Koalition unter Schmidt dadurch auf, dass sie die endgültige Abschaffung des zur Verfolgung von Homosexuellen dienenden Paragraphen 175 nicht zustande brachte. Dem Magazin »Konkret« zufolge waren Helmut Schmidt und rechte Gewerkschafter gegen die Abschaffung des § 175.
Schmidt wurde vorgeworfen, sich immer weiter von der sozialpolitischen Orientierung der SPD zu entfernen. In seine Amtszeit als Bundeskanzler fiel nicht nur die Einführung der Rezeptgebühr für Arzneimittel. Ihm wurden auch Pläne zur Abschaffung des BAFÖGs nachgesagt, die der Bildungsminister nur durch eine Rücktrittsdrohung vereitelt hätte. Zum ersten Mal seit 1959 waren unter Kanzler Schmidt 1975 wieder mehr als eine Million Menschen arbeitslos. Die Grünen prangerten auf einem ihrer ersten Wahlplakate eine Million Arbeitslose als sozialpolitischen Skandal an. Es kam noch schlimmer: Ende 1982 waren zwei Millionen Menschen ohne Arbeit und in den letzten Jahren schwankte ihre Zahl in der Statistik um vier Millionen. Die Zahl der Menschen, die keine Arbeit haben oder von ihrer Arbeit nicht leben können, wird insgesamt auf sieben bis acht Millionen geschätzt.
Die »Ära Schmidt« leitete nicht nur den Anfang vom Ende des »sozialen Deutschlands« ein, sondern auch den Anfang vom Ende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Von den 1950er Jahren bis 1977 hatte sich die Mitgliederzahl der SPD von einer halben auf eine Million gesteigert. Seit 1977 ging sie wieder zurück und liegt heute wieder bei einer halben Million. Unter Willy Brandt war die SPD mit 45 Prozent stärkste Partei geworden. Seit 1982 liegen ihre Wahlergebnisse – außer 1998 – unter 40 Prozent und für die Wahlen 2009 geht man von einem Ergebnis von weniger als 30 Prozent aus.

Schon in den 1970er Jahre wurde angesichts von Schmidts Politik bei engagierten Sozialdemokraten bzw. Linken in der SPD von Resignation und Rückzug ins Private gesprochen. Oder man erwog einem Wechsel zu einer anderen politischen Kraft. Zugleich schaffte es eine unter Schmidt »rechts« gewordene Sozialdemokratie nicht einmal, am rechten Rand ihrer Klientel Menschen zu binden. Die gingen zur Union, weil sie das Original der Kopie vorzogen.
Nach dem Ausscheiden Helmut Schmidts aus der aktiven Politik 1982 unternahmen die Sozialdemokraten zaghafte Versuche zu einer Neuorientierung. Ein Zurück zur klassischen Arbeiterpartei war nicht möglich. Die Fortsetzung »rechtssozialdemokratischer« Politik wie unter Schmidt schien aber auch nicht ratsam. Letztendlich scheiterten alle Bemühungen.

Die Sozialdemokratie und die von ihr geprägte Arbeiterbewegung verfielen Stück für Stück in Agonie. Abzulesen an den Biografien von Menschen, die sich von ihnen abwandten. Mache verließen sie schon in den 1970ern. Ein Freund wartete bis 1990, ehe er austrat. Andere kehrten ihr nach der neoliberalen Kehrtwende unter Gerhard Schröder seit 2003 den Rücken.
Den Menschen, die wie ich aus einfachen Verhältnissen und sozialdemokratisch eingestellten Familien stammen oder sich sogar selbst in der SPD engagiert hatten, bleibt da oft nur der Blick zurück im Zorn. Ein Blick zurück auf die Hackfressen korrupter Funktionäre und reaktionärer kleinbürgerlicher Spießer. Schon vor dreißig Jahren sagte ein linker Polit-Aktivist bei einem Glas Bier zu mir: »Das sind gestandene Arbeiterverräter.«

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