Aktuelles
  • Hallo Neuanmeldung und User mit 0 Beiträgen bisher (Frischling)
    Denk daran: Bevor du das PSW-Forum in vollen Umfang nutzen kannst, stell dich kurz im gleichnamigen Unterforum vor: »Stell dich kurz vor«. Zum Beispiel kannst du dort schreiben, wie dein Politikinteresse geweckt wurde, ob du dich anderweitig engagierst, oder ob du Pläne dafür hast. Poste bitte keine sensiblen Daten wie Namen, Adressen oder Ähnliches. Bis gleich!

"Ich liebe und ich hasse ihn" - 200 Jahre nach Napoleon

PSW - Foristen die dieses Thema gelesen haben: » 0 «  

Registriert
4 Jan 2009
Zuletzt online:
Beiträge
1.023
Punkte Reaktionen
46
Punkte
0
Website
www.beverly-schnett.de
Geschlecht
--
Derzeit folgen einander die 200jährigen Jahrestage mit Bezug auf Aufstieg und Fall des Napoleon Bonaparte. A rua ist erst 2021, dann ist er 200 Jahre tot :) Aber ein einheitliches oder gar abschließendes Urteil über ihn lässt nach wie vor auf sich warten.
IMHO liegt das an diesen Faktoren:

1. Sein Projekt eines europäischen Reiches scheiterte.

Er zwang seinen Mitmenschen unendliches Leid auf, nur um sich selbst in den Geschichtsbüchern zu verewigen. Der gescheiterte Angriff auf Russland 1812 wird als Auslöser für seinen Fall genannt, aber IMHO machte Napoleon militärisch alles richtig. Es spricht auch für sich, dass die Russen ihn nicht in einer großen Schlacht stellten - die hatten sie 1806 gegen ihn verloren und wollten das kein zweites Mal - sondern ihn ins Leere laufen und seine Armee an Kälte, Hunger und Entkräftung verrecken ließen.
Napoleons Projekt scheiterte an diversen, schwer zu analysirenden nichtmilitärischen Faktoren. Am offensten liegt noch zutage, dass die anderen Völker Europas sich vom "Kaiserreich Frankreich" unterdrückt fühlten, das unter Napoleon von Barcelona bis Hamburg reichte. Mir selbst drängt sich da der Eindruck auf, dass Napoleon sehr gut darin war, ein Reich zu erobern, aber sehr schlecht darin war, es so zu gliedern, wie es den Traditionen, Wünschen und Vorstellungen der Menschen in ihm entsprach.

Dazu kam, dass Napoleon bei aller eigenen Skrupellosigkeit nicht begriffen hat, dass er selbst von denen benutzt wurde, die er zu seinen Speichelleckern und Vasallen machte und vielleicht sogar verachtete. Musterbeispiel sind dafür die deutschen Fürsten im Rheinbund. Ihnen wurde durch Napoleon zuvor souveräne Duodezfürstentümer zugeschlagen und wegen der Auflösung des HRRDN waren sie den lästigen Kaiser nun los. Länder wie Bayern und Württemberg machte der Korse zu souveränen Staaten und hinterließ damit ein "Erbe" aus neuer Kleinstaaterei und Separatismus, unter dem Deutschland noch heute leidet.
Nicht zu vergessen die so genannte Emanzipation des "Bürgerpacks". Mit der Abschaffung der Adelsprivilegien und dem Code Civil hatten die freie Bahn, sich in Europa und nicht nur da so richtig auszutoben. Die haben von Napoleon ebenso profitiert wie zu Königen erhobene süddeutsche Duodezfürsten.
Aber all seine Nutznießer hatten kein Interesse daran, dass Napoleon ein europäisches Reicht gründet, wo die Fürsten weiter Vasallen und die Bürger weiter Untertanen waren. Möglicherweise hätte so ein etatistisches System von der zu Napoleons Zeiten einsetzenden Entwicklung der Produktivkräfte profitiert und wäre zudem zu einem gefährlichen Rivalen der Briten geworden.
IMHO wollten die, die von Napoleon profitiert hatten, ebenso sehr, dass er verschwindet, wie es die Briten wollten.

2. Seine Gegner waren ebenso schlimm wie er

Das Problem mit Napoleon ist, dass er keine würdigen Gegner hatte. Die hätten seinen Machttrip vielleicht gestoppt und den kleinen Korsen im Irrenhaus abgeliefert, ehe er drei Millionen Tote hinterlassen hatte. Aber nein, da waren Gestalten am Werk und an der Macht, die z. T. bei ihren eigenen Untertanen verhasst waren. Als Napoleon 1806 in Berlin einzog, sollen die Berliner da in Parylaune gewesen sein, weil sie mit ihrem König fertig hatten. Im gleichen Jahr hatte er in Austerlitz Österreich und Russland militärisch degradiert. Fazit: die Mächte, die vor 1789 das Geschehen auf dem Kontinent bestimmt hatten, waren militärisch und innenpolitisch am Ende.

3. Seine Gegner lernten nicht aus ihren Fehlern

Napoleon wird immer als der große Innovator gefeiert, der Europa moderne Kriegskunst und Verwaltung brachte. Wozu die moderne Kriegskunst gut war, zeigte die Gesamtbilanz der "Koalitionskriege" von 1792 bis 1815: sechs Millionen Tote :mad: ! Die moderne Verwaltung diente dann nur zu oft dazu, eine zuvor schon marode und peinlich gewordene Tyrannei zu erneuern und noch schlimmeren Formen der Tyrannei den Boden zu bereiten.
1806 hatten Österreich und Preußen als Großmächte fertig und abgedankt, nach 1815 durften sie dann noch weiter in der Weltgeschichte gurken, bis im 20. Jahrhundert das Ende mit Verzögerung und um so schlimmer kam.
Der Wiener Kongress und seine Folgen werfen eigentlich nur die Frage auf, ob der Metternich ein britischer Agent war. Wenn es im Interesse Großbritanniens ist, auf dem Festland Chaos zu stiften und niemanden hoch kommen zu lassen, ist das sogar plausibel. Denn kaum war der Kongress zu Ende und Napoleon nach gescheitertem Comeback nach St. Helena verfrachtet, waren viele damit beschäftigt, die Ergebnisse dieses Kongresses mit Zähnen und Klauen zu bekämpfen. Das liegt auch daran, dass die Ergebnisse des Wiener Kongresses eine "geglückte" Mischung der schlechtesten Elemente von Konservatismus und Progressismus waren.

Da wurde eine "Heilige Allianz" ins Leben gerufen und ideologisch sollten Kirche und König wieder hoch gehalten werden. Also die Instanzen wurde restauriert, deren Versagen zu den Ereignissen von 1789 ff. geführt hatten.
Zugleich wurde dem Kapitalismus freie Bahn gelassen und das Bürgertum konnte seinen Aufstieg weiter fortsetzen. Nur tat es das nun nicht mehr im Zeichen von Aufklärung und Vernunft, sondern legte eine Rechtskurve zu Reaktion und Sozialdarwinismus ein.


4. Wir leben im postnapoleonischem Zeitalter

Moderne Geschichtsschreibung ist nur zu häufig ein deterministischer Schmu, der kaum besser ist als fundamentalistische Traktate über die baldige leibliche Wiederkehr von Jesus Christus. Napoloen hat in diesem Kanon die Rolle des "Modernisierers", der aber zwangsläufig von der Bühne abtreten muss, nachdem er "modernisiert" hat. Im Grunde hat ein Napoloen keinerlei Handlungsspielraum, weil das Geschehen mit der Zwangsläufig von Naturgesetzen abläuft. Napoleon selbst soll sich als Eroberer mit einer Kanonenkugel verglichen haben. Die folgt einem durch Ballistik vorgezeichnetem Weg und kann weder anhalten noch den Kurs ändern. Geschichte ohne Alternative und ohne handelnde Subjekte. Da ist auch ein Napoleon nur ein letztendlich vernunftloser Faktor nicht viel anders als der russische Winter 1812, an dem er scheiterte. Das führt zu einer Weltsicht, wo die Herrschenden und ihr Anhang sagen, dass die Welt nur für sie gemacht ist und die Geschichte - mit Narren wie Napoleon - nur für sie funktioniert. Zu beobachten an den "bürgerlich-liberal-konservativen-bla"-Diskursen, deren Protagonisten sich so in Welt und Geschichte verortet, das alles auf sie zuläuft und sich um sie dreht. Zugleich unterwerfen sie sich aber blind dieser Welt und sind nicht bereit, über Änderungen oder Alternativen nachzudenken.
Da ist sogar Geschichte in dem Sinn eine Abfolge von Epochen an ihr Ende gekommen. Selbst wenn sich auf großer wie kleiner Skala in der Welt alle wie die Kesselflicker zanken hat das mit dem Handeln von Subjekten nichts mehr zu tun. Es ist das naturgesetzlich ablaufende "freie Spiel der Kräfte", das keinen Sinn hat und kein Ziel kennt.

Die Alternative dazu ist, zu sagen: Napoleon war ganz wesentlich Wegbreiter dieser Epoche, ohne dass er es geschafft hat, ihr eine dauerhafte Ordnung mit ihm an der Spitze zu geben. Hätte Napoleon seine Eroberungen besser geordnet, würden wir heute im oder nach dem "Napoloenischem Zeitalter" leben. Da er aber recht schnell gescheitert ist und seine Nutznießer und Widersacher ihr System ohne ihn weiter entwickelten, leben wir demzufolge seit zwei Jahrhunderten im "Postnapoleonischem Zeitalter". Einer Epoche, wie denen vor ihr und denen nach ihr.
 

Wer ist gerade im Thread? PSW - Foristen » 0 «, Gäste » 1 « (insges. 1)

Ähnliche Themen

Neueste Beiträge

Kinderhandel Sammelstrang
KINDERHANDEL in der 🇹🇷TÜRKEI? Das türkische EPSTEIN ISLAND😨 - PORTALE -...
Die totgesagte Welt
Der herrschende Materialismus betrachtet den Menschen und die Welt als sinn- und leblose Apparaturen.
Sektor für Sektor
Oben